Dienstag, 25. September 2012

Rauris in den Hohen Tauern – II

Mit Ranger Martin durchs Tal der Geier und die Begegnung mit einem Grashüpfer auf dem Schwarzwand-Gipfel

 „Und dann, weit entfernt von all diesem, droben auf den waldbestandenen Höhen, da war die dritte Welt. Da lag das Weibchen des Auerhahns auf seinen Eiern, da stand der Elch im tiefen Waldesdunkel verborgen, da lauerte der Luchs, da knabberte das Eichhörnchen, da dufteten die Tannen, da blühten die Heidelbeeren, da schlug die Drossel ihre Triller!“ So sieht Nils Holgersson die Welt vom Rücken Gorgos, des Adlers aus Selma Lagerlöfs Abenteuergeschichte Nils Holgerssons schönste Abenteuer mit den Wildgänsen.

Der Ranger Martin lässt diese Welt hinter sich. Er will uns die vierte Welt zeigen, dort wo Gorgos Kollegen ihre Beutekreise ziehen und Bart- und Gänsegeier nach Aas spähen. Das ist die Welt über den pfeifenden Murmeltieren, dort wo Steinbock und Gams ihre halsbrecherischen Kletter- und Sprungkünste absolvieren.

Um die 40 Wanderlustige haben sich an diesem Spätsommermorgen am Lechnerhäusl eingefunden. Drei Ranger teilen Feldstecher aus, Swarovski, vom Feinsten, um Einiges besser als mein russischer Flohmarktgucker. Martin und seine Kollegen tragen Fernrohre mit Stativen.

Auf geht’s! Martins Wandergruppe ist mit zwei Ausnahmen die gleiche vom Vortag. Und schon verlässt unser Ranger den befestigten Waldweg, schlägt sich im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche. Es geht aufwärts, durch die dritte der vierten Welt entgegen. Noch sind die Blicke zum Boden gerichtet. Da, ein Erdsternpilz, sehr selten, und dort ein Parasolpilz, bayerischer Enzian, Eisenhut, Alpenrose, Almrausch u.s.w. Dann entdeckt eine aufmerksame Wienerin einen skelettierten Kopf. Das ist alles, was von einem jungen Rotwild übriggeblieben ist, erklärt Martin. Vielleicht hat ein Bartgeier das Stück verloren oder es ist von einer Felsplatte in die Tiefe der dritten Welt gefallen. Mir kommt Karl Mays Llano estacado in den Sinn. Doch bleibt für Schauergeschichten keine Zeit.

Martin steigt und steigt. Wir haben wieder befestigte Bergstraße unter den Wanderschuhen. Aber die Fauna gibt nicht auf, kämpft mit letzten Kräften um jede Blüte und jedes Blatt. Die dritte Welt liegt fast schon ganz zu unseren Füßen, aber die vierte werden wir nie erreichen. Wanderer zwischen den Welten. Nur Ranger Martin ist schon dort oben in den Klüften und Lüften – mit seinen geschärften Sinnen. Er erspäht sie, identifiziert sie als Steinadler, Bartgeier, Gänsegeier, Steinböcke und gar nicht allzu weit, noch im Zoombereich des Fotoapparats, als Murmeltiere. Schnell baut er mit sicheren Handgriffen sein Fernrohr auf für uns Stadtmenschen, die sich mit den Feldstechern die Hälse verdrehen und meistens nichts sehen. Aber das ist kein Grund zum Lamentieren. Martin hat sie im Rohr und wir können sie ruhig beobachten, die Könige der Lüfte und die Bezwinger der Klüfte.

Nach dreieinhalb Stunden sind wir oben, aber immer noch im Tal, im Krumltal, dem Tal der Geier. Zwei Drittel der Wanderer bleiben auf der Bräualm. Nur Ranger Martins Gruppe hat nicht genug vom Blick in die vierte Welt. Sie will weiter, die vierte Welt zumindest spüren. Martin zieht los und wir hinter ihm her. Bei der Rohrmoosalm erleben wir authentisch, was Leben am oberen Ende der menschlichen Behausbarkeit bedeutet. Als die Almbäuerin unser gewahr wird, kommt sie aus der Hütte und ruft unserem Ranger zu – man kennt sich in dieser Abgeschiedenheit -: „Martin, kannst du mal schauen, wo der Sepp ist. Da oben ist etwas mit einer Kuh. Er ist schon lange weg.“ Der Ranger baut sofort sein Fernrohr auf: „Ja, dort ist er. Er steigt schon ab.“ Dieser Zwischenfall macht Frau Potche neugierig. Sie greift zum Handy. Kein Empfang. Die Besorgnis der Bergbäuerin wird auch für Städter verständlich.

Es geht weiter, höher und schöner. Über unzählige Bergbäche. Ich rutsche und kann mich nur in letzter Sekunde abstützen. Ein Kratzer am Unterarm. Dann ist das anvisierte Ziel erreicht: der obere Wasserfall im Tal der Geier. Und noch ist nicht aller Tage Abend. Der Höhepunkt unserer Bergwanderung steht unmittelbar bevor. Martins Adleraugen scheinen etwas gesehen zu haben. Wir anderen sehen natürlich nichts. Er installiert sein Fernrohr, richtet es auf den Hocharn, lässt die Fixierung einrasten. Wahnsinn! Auf der Bergkuppe, majestätisch, aufgereiht wie fürs Fotoalbum drei Gänsegeier – Leben in freier Wildbahn auf über 3000 m überm Meer. Diszipliniert und fasziniert stehen wir in der Reihe vor Martins Fernrohr. Unsere Feldstecher sind zu schwach und mein Fotogerät eine armselige Ohnmacht gegen diese Distanz. Als ich wieder an der Reihe bin, sind die drei stolzen Aasfresser weg und ein Steinadler thront auf der Kuppe – Faszination der vierten Welt.

Dorthin wird Ranger Martin in zwei Tagen mit einer Wandergruppe aufbrechen: zum Niedersachsenhaus. Die Menschen der Ebene bauen sich gerne da oben in der vierten Welt Häuser. Es gibt auch ein Ingolstadthaus in luftiger Höhe. „Schwindelfrei wäre für den Aufstieg nicht schlecht“, meint Martin. Ich blicke Frau Potche an. „Nein“, sagt sie entschieden, „das müssen wir uns nicht antun.“

Dafür schauen wir uns am nächsten Tag die toten Bergvögel in Lebensgröße im Rauriser Talmuseum und im Nationalparkhaus „Könige er Lüfte“ an. Auch das ist ein lohnenswerter Besuch. Und wenn du wieder einen Tag später auf über 2000 m Höhe einen Grashüpfer auf dem Fernrohr hast, spürst du die Faszination der direkten Begegnung in der Natur.

Rauris, 06.09.2012
Anton Potche

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