Mit Ranger Martin durchs Tal der Geier und die Begegnung mit einem Grashüpfer auf dem Schwarzwand-Gipfel
Der Ranger Martin lässt diese Welt hinter sich. Er will uns die vierte Welt zeigen, dort wo
Gorgos Kollegen ihre Beutekreise ziehen und Bart- und Gänsegeier nach Aas
spähen. Das ist die Welt über den pfeifenden Murmeltieren, dort wo Steinbock
und Gams ihre halsbrecherischen Kletter- und Sprungkünste absolvieren.
Um die 40 Wanderlustige
haben sich an diesem Spätsommermorgen am Lechnerhäusl eingefunden. Drei Ranger
teilen Feldstecher aus, Swarovski, vom Feinsten, um Einiges besser als mein
russischer Flohmarktgucker. Martin
und seine Kollegen tragen Fernrohre mit Stativen.
Auf geht’s! Martins Wandergruppe ist mit zwei Ausnahmen
die gleiche vom Vortag. Und schon verlässt unser Ranger den befestigten
Waldweg, schlägt sich im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche. Es geht aufwärts,
durch die dritte der vierten Welt entgegen. Noch sind die Blicke zum Boden
gerichtet. Da, ein Erdsternpilz, sehr selten, und dort ein Parasolpilz,
bayerischer Enzian, Eisenhut, Alpenrose, Almrausch u.s.w. Dann entdeckt eine
aufmerksame Wienerin einen skelettierten Kopf. Das ist alles, was von einem
jungen Rotwild übriggeblieben ist, erklärt Martin.
Vielleicht hat ein Bartgeier das Stück verloren oder es ist von einer
Felsplatte in die Tiefe der dritten Welt gefallen. Mir kommt Karl Mays Llano estacado in den Sinn.
Doch bleibt für Schauergeschichten keine Zeit.
Martin
steigt und steigt. Wir haben wieder befestigte Bergstraße unter den
Wanderschuhen. Aber die Fauna gibt nicht auf, kämpft mit letzten Kräften um
jede Blüte und jedes Blatt. Die dritte Welt liegt fast schon ganz zu unseren
Füßen, aber die vierte werden wir nie erreichen. Wanderer zwischen den Welten. Nur
Ranger Martin ist schon dort oben in
den Klüften und Lüften – mit seinen geschärften Sinnen. Er erspäht sie,
identifiziert sie als Steinadler, Bartgeier, Gänsegeier, Steinböcke und gar
nicht allzu weit, noch im Zoombereich des Fotoapparats, als Murmeltiere.
Schnell baut er mit sicheren Handgriffen sein Fernrohr auf für uns
Stadtmenschen, die sich mit den Feldstechern die Hälse verdrehen und meistens
nichts sehen. Aber das ist kein Grund zum Lamentieren. Martin hat sie im Rohr und wir können sie ruhig beobachten, die
Könige der Lüfte und die Bezwinger der Klüfte.
Nach dreieinhalb Stunden
sind wir oben, aber immer noch im Tal, im Krumltal, dem Tal der Geier. Zwei
Drittel der Wanderer bleiben auf der Bräualm. Nur Ranger Martins Gruppe hat nicht genug vom Blick in die vierte Welt. Sie
will weiter, die vierte Welt zumindest spüren. Martin zieht los und wir hinter ihm her. Bei der Rohrmoosalm
erleben wir authentisch, was Leben am oberen Ende der menschlichen
Behausbarkeit bedeutet. Als die Almbäuerin unser gewahr wird, kommt sie aus der
Hütte und ruft unserem Ranger zu – man kennt sich in dieser Abgeschiedenheit -:
„Martin, kannst du mal schauen, wo der Sepp ist. Da oben ist etwas mit einer
Kuh. Er ist schon lange weg.“ Der Ranger baut sofort sein Fernrohr auf: „Ja,
dort ist er. Er steigt schon ab.“ Dieser Zwischenfall macht Frau Potche neugierig. Sie greift zum Handy.
Kein Empfang. Die Besorgnis der Bergbäuerin wird auch für Städter verständlich.
Es geht weiter, höher und
schöner. Über unzählige Bergbäche. Ich rutsche und kann mich nur in letzter
Sekunde abstützen. Ein Kratzer am Unterarm. Dann ist das anvisierte Ziel
erreicht: der obere Wasserfall im Tal der Geier. Und noch ist nicht aller Tage
Abend. Der Höhepunkt unserer Bergwanderung steht unmittelbar bevor. Martins Adleraugen scheinen etwas
gesehen zu haben. Wir anderen sehen natürlich nichts. Er installiert sein
Fernrohr, richtet es auf den Hocharn, lässt die Fixierung einrasten. Wahnsinn!
Auf der Bergkuppe, majestätisch, aufgereiht wie fürs Fotoalbum drei Gänsegeier
– Leben in freier Wildbahn auf über 3000 m überm Meer. Diszipliniert und
fasziniert stehen wir in der Reihe vor Martins
Fernrohr. Unsere Feldstecher sind zu schwach und mein Fotogerät eine armselige
Ohnmacht gegen diese Distanz. Als ich wieder an der Reihe bin, sind die drei
stolzen Aasfresser weg und ein Steinadler thront auf der Kuppe – Faszination
der vierten Welt.
Dorthin wird Ranger Martin in zwei Tagen mit einer
Wandergruppe aufbrechen: zum Niedersachsenhaus. Die Menschen der Ebene bauen
sich gerne da oben in der vierten Welt Häuser. Es gibt auch ein Ingolstadthaus
in luftiger Höhe. „Schwindelfrei wäre für den Aufstieg nicht schlecht“, meint Martin. Ich blicke Frau Potche an. „Nein“, sagt sie
entschieden, „das müssen wir uns nicht antun.“
Dafür schauen wir uns am
nächsten Tag die toten Bergvögel in Lebensgröße im Rauriser Talmuseum und im
Nationalparkhaus „Könige er Lüfte“ an. Auch das ist ein lohnenswerter Besuch. Und
wenn du wieder einen Tag später auf über 2000 m Höhe einen Grashüpfer auf dem
Fernrohr hast, spürst du die Faszination der direkten Begegnung in der Natur.
Rauris,
06.09.2012
Anton
Potche
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