Dienstag, 16. Oktober 2012

Zwei Templer haben überlebt


Schrecklich, diese Verschlafenheit! Ein Dorf ist das, und die wollen Großstadt sein! Nichts los in diesem Nest! Aber gar nichts! Das hört man immer wieder. Und ich mittendrin. Schrecklich, in dieser Stadt leben zu müssen. Ingolstadt. Welch grausames Schicksal hat mich hierher verschlagen? Mit was habe ich das nur verdient?

Da sitze ich nun an diesem ereignislosen Samstagabend. Der Spätsommer hat sich verabschiedet. Oktoberfest ist. Aber dort, wo die bayrische Seele bebt und die Italiener kommen und die Japaner und... Was mach ich nur in diesem verschlafenen Weiler? Geh ich ins Kleine Haus im Stadttheater und schau mir Die Grönhelm-Methode an, oder versuch ich, noch in letzter Minute eine Karte für die Premiere von Nick Whitbys Sein oder Nichtsein zu ergattern (schließlich ist Friedrich Schilha wieder da), oder schau ich mir Immer is’ was. Und jetzt ist auch noch Klaus weg im Altstadttheater an? Oder vielleicht hör ich mir die Sopranistin Hanna Eittinger und den Cembalisten Ralf Waldner mit ihrem Donne-Barocche-Programm im Barocksaal des Stadtmuseums an, das Jubiläumskonzert des Ingolstädter Jugendkammerchors wäre vielleicht auch etwas, oder vielleicht doch lieber Jazz & More mit Silje Nergaard im Diagonal oder, oder ... Ich habe mich dann endlich entschieden, und zwar für eine Stunde der Kirchenmusik in der St-Matthäus-Kirche. Was willst du auch machen in einem stadtähnlichen Gebilde, in dem nichts, aber auch gar nichts los ist?

Das Ingolstädter Holzbläsercollegium hatte zum Konzert geladen. Martin Michaelis stellte seine ihn flankierende Mitstreiter vor: „Obwohl der Orden der Templer bereits im 14. Jahrhundert untergegangen ist, haben zwei Templer überlebt.“ Das sind Norbert Templer an der Klarinette und dem Altsaxophon und sein Bruder, Edgar Templer, Klarinette und Bassklarinette. 

Kirchenkonzerte sind ja in der Regel Bildungskonzerte, schon wegen der Vielzahl der Stücke und der dadurch ermöglichten musikalischen Bandbreite. So konnte sich auch dieses Programm sehen lassen: Originalkompositionen und Transkriptionen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und, was nicht immer der Fall ist, Eigenkompositionen. Abwechslungsreiche und auf hohem musikalischem Niveau vorgetragene Holzbläsermusik, dazu noch eine Ergänzung von der Orgel mit Zwei Präludien in A-Dur und C-Dur [Johann Christoph Kellner (1736 – 1813)] und einem Grand Choeur [Theodore Dubois (1837 – 1924)] – was will man mehr? Die Orgel wurde von Reinhold Meiser gespielt.

Es ging los mit W. A. Mozarts (1756 – 1791) Divertimento Nr.1 – für zwei Klarinetten und Bassklarinette: ein erzählerisch vorgetragenes Adagio zwischen einem Allegro und einem Menuetto.

Dann schon eine Eigenkomposition von Edgar Templer (*1962): Ein Wintertag – für zwei Klarinetten und Bassklarinette. Das ist eine wunderschöne musikalische Miniatur in fünf Sätzen: Der Tag Bricht an. Morgentanz der Schneeflocken. Der Wind streicht übers Feld. Die Nachmittagssonne scheint. Es dämmert. Können Musiker ihre eigenen Kompositionen schöner spielen als andere? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ließ Edgar Templer diesen Tag auf eine Art und Weise anbrechen, dass es einem die Gänsehaut über den Rücken trieb. Sein Bassklarinettensolo war eine musikalische Glanzleistung: so geschmeidig, so leise und trotzdem so rund im Ton – einfach einnehmend, dieser liebenswürdige Bassklarinettenbrummbär.

Der Griff zum Saxophon deutete es an: Es geht in die Moderne: Trio Nr. 4 für zwei Klarinetten und Saxophon von Noel Samyn. Auch das letzte Stück des Konzerts, Trio Nr. 1 für drei Klarinetten, stammt aus der Feder dieses Komponisten. Das Altsaxophon passte farblich hervorragend zu den zwei Klarinetten. Man muss das Instrument in dieser Konstellation aber besonders weich spielen. Norbert Templer hat sich mit seinem Ton hervorragend den zwei Klarinetten angepasst.Das gilt auch für den Song für zwei Klarinetten und Saxophon von M. Lewis (*1925). 

In Jacques Bouffils (1783 – 1868) Trio deuxieme für drei Klarinetten zeigte sich dann, wie schwer es ist von einem Instrument aufs andere zu wechseln, auch bei so hervorragenden Musikern. Besonders im Allegro non troppo hatte man den Eindruck, dass sich hier für das Trio technische Grenzen bemerkbar machten. Umso mehr wurde man dafür im, einem schönen Adagio cantabile folgenden, Minuetto entschädigt. Toll!

René Gerber (1908 – 2006) hat eine Sonatine für drei Klarinetten geschrieben, die besonders im Rondé sehr leichtfüßig daherkommt. Die drei Holzbläser haben auch hier bewiesen, dass sie über eine breite Palette an technischen und gestalterischen Fähigkeiten verfügen. Auch ihr Zusammenspiel klappte gut. Das Trio brillierte besonders in den leisen Passagen.

Das war ein angenehmer Konzertsamstagabend in einer Stadt, in der nichts, aber auch gar nichts los ist. Ich war froh, mich für dieses Kulturangebot entschieden zu haben – etwa 30 Leute hatten die gleiche Entscheidung getroffen – und fragte mich auf dem Heimweg, wo die vielen Nörgler über ein mangelndes Kulturangebot an diesem Abend wohl waren. Hoffentlich waren sie wenigstens bei einer der vielen anderen Veranstaltungen. Oder sie saßen vor der Glotze und beklagten sich am nächsten Tag: Es war ja nichts los.

Ingolstadt, 07.10.2012
Anton Potche


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