Mittwoch, 29. Mai 2013

Vor 100 Jahren schrieb Nicolae Iorga seine „Geschichte des Osmanischen Reiches“

Nicolae Jorga: Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 1-5 – Unveränderte Neuausgabe der Ausgabe Gotha, Pertes, 1908 – 1913; Primus Verlag, Darmstadt 1997; Lizenz von Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag, KG, Frankfurt am Main 1990; ISBN 3-89678-051-4; noch erhältlich über Amazon

Mit Nicolae Jorga ist natürlich Nicolae Iorga (1871 – 1940), der wohl größte rumänische Gelehrte aller Zeiten, gemeint. Die Deutschen machten noch vor dem 1. Weltkrieg aus dem I ein J. Vielleicht auch darum, weil Iorga diese Geschichte des Osmanischen Reiches in deutscher Sprache verfasst hat. Das Werk ist für Fachleute auch heute noch „zumindest im deutschen Sprachraum das konkurrenzlose Standardwerk“ (Albert Sellner) einer osmanischen „Gesamtschau“. In fünf Bänden ist diese „Darstellung nach den Quellen“ untergebracht. Eine immense Daten- und Quellensammlung, die jeden noch so interessierten Leser herausfordert, wenn nicht sogar überfordert, liegt ihr zugrunde. Nicolae Iorga hat es aber verstanden, mit seinem Erzählstil jeder vorzeitigen Erschlaffung der Neugierde erfolgreich entgegenzuwirken.

Im ersten Band begibt der akribische Quellenforscher sich nach eigenem Bekunden weit zurück in „die Zeit vor dem Eintritt des osmanischen Zweiges der großen türkischen Rasse in die Weltgeschichte“. Das ist insofern nicht einfach, als die Türken eigentlich „keine ältere Geschichtsschreibung“ vorzuweisen haben. Die älteste Inschrift in ihrer Sprache stammt aus dem Jahre 732. Um in die Vorgeschichte der Osmanen zu spähen, muss man iranische, chinesische und oströmische Geschichtsquellen durchstöbern. Hier sollte der Leser dieser Geschichte des Osmanischen Reiches aber schon berücksichtigen, dass sie zwischen 1908 und 1913 niedergeschrieben wurde. Der Herauskristallisierung eines türkischen Volkes gingen unzählige Stammeskriege voraus, die sich nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch auf riesige Einheiten erstrecken. Immer wieder ist vom „Auftauchen neuer Schwärme echter Türken, die dem Westen noch nicht bekannt waren“, die Rede. Aus dieser Gemengelage formte sich unter den Nachkommen Seldschuks (ein Nomadenräuberhäuptling) so etwas wie ein Staatsverständnis. Zu diesem Verständnis gehörte auch, dass „das Streben nach Beute wie das Verlangen nach kriegerischer Ehre als sittengemäß betrachtet wurde; einen friedlichen Nachbarn zu stören und ihm zu schaden, wurde niemals ein Staatsverbrechen für die Türken, auch nach jahrhundertelangem Verweilen auf europäischem Boden nicht“. Bedingt durch die seldschukische Kleinstaaterei bezog diese Philosophie sich nicht nur auf benachbarte Völker und trug wesentlich dazu bei, dass die Herrschaft der Seldschuken im 13. Jahrhundert zur Neige ging.

Die Zeit der Osmanen konnte beginnen. Und damit ergibt sich für einen Rezensenten die Gelegenheit, anhand eines längeren Zitats zu zeigen, wie unter anderem auch die Sprache Iorgas dieses Werk so lesenswert macht. Zur „Bildung des osmanischen Staates“ heißt es: „Die Vorfahren Osmans, des Sohnes Ertoghruls, hatten nicht nur unter seldschukischen Fahnen gedient. Es waren Turkomanen, wilde nomadische Türken aus dem fernen Osten, Glieder des ogusischen Stammes, der nichts von iranischer Sprache noch von griechischen Gebräuchen wußte. Den alten Soliman, einen Hauptmann über etliche hundert Zeltbewohner, hatte der mongolische Einfall aus seinem turkestanischen Boden in der Nähe der Wüste entwurzelt und ihn am oberen Euphrates zurückgelassen. Viele solcher verlorenen Anpflanzungen verdorrten wieder, diese aber gedieh, und aus ihr erhob sich eine üppige und hartnäckige Vegetation von Räubern, Kriegern und Hirten, aber auch Gesetzgebern und Staatsgründern.“ Die Namen dieser Herrscher sind uns schon darum geläufiger, weil sie bereits Teil der europäischen und nicht wie die ihrer Vorfahren eher Teil der asiatischen Geschichte sind: Osman, Urkhan, Murad I., II., III., Bajesid I., II., Mohammed I., II., III., Selim I., II., Soliman I., II., Ahmed u.a.. Noch waren diese osmanischen Herrscher, deren Horden längst zu riesigen Heeren angewachsen waren, weit weg von Wien und bis zum „Türken-Reichstag“ zu Regensburg sollten noch über 200 Jahre verstreichen, aber die Griechen, Bulgaren, die rumänischen Fürstentümer, Ungarn und die Balkanstaaten waren längst mit der Eroberungspolitik der Osmanen konfrontiert.

Band 2 beginnt mit der als Meilenstein der türkischen Geschichte bekannten Eroberung Konstantinopels. Auch hier schillert in der detaillierten Beschreibung des Ringens um die Festung das literarische Talent Iorgas – er hat auch Reiseerzählungen, Theaterstücke und Gedichte geschrieben – durch: „Mohammed II. wollte seine kaiserliche Würde – nun war er tatsächlich ein Kaiser! – nicht durch sein Erscheinen im wilden Kampfe der hässlichsten Leidenschaft entweihen. Er wartete an der nun weit geöffneten Pforte, vor der sein Zelt zwei Monate lang gestanden hatte, während deren er sich in den Besitz Konstantinopels geträumt hatte.“ Im 15. Jahrhundert war die Präsenz der Türken an der Donau bereits ein Dauerzustand. Die Fürstentümer Moldau und Walachei wurden Vasallenstaaten des Osmanischen Reiches. Man darf sich zu Recht fragen, wie objektiv Nicolae Iorga in seinen Darstellungen der rumänisch-türkischen Auseinandersetzungen überhaupt sein konnte, war er doch als ein überzeugter Nationalliberale, ja als ein wahrer Patriot bekannt. Zum Glück (oder Unglück) können wir hier rumänische Geschichtsbücher aus der kommunistischen Zeit Rumäniens zum Vergleich heranziehen. Da bleibt dann nichts anderes übrig, als vor Iorga den Hut zu ziehen, auch wenn es seinerzeit in Deutschland nicht nur Zustimmung für dieses Werk gab. Die in Fußzeilenform angegebenen Quellen sprechen schon in ihrer Qualität für sich. In der Methodik bleibt der rumänische Historiker sich treu: Er behält seinen fließenden, allgemein verständlichen, schöngeistig angehauchten Erzählstil bei.

Man erfährt so aus dem dritten Band viel aus dem Innenleben des osmanischen Machtzentrums. Und das ist wahrlich nicht immer erbaulich. So schildert Iorga zum Beispiel das Ende eines Sultans und den Beginn einer neuen Herrschaft: „Am 8. August, einem Sonnabend, drangen die Aufrührer ins Serail ein und traten mit dem Bostandschi-Baschi und der Walideh in Verhandlungen ein. Ibrahim sah sich von allen verlassen. Der Bostandschi-Baschi ließ ihn gefangen nehmen. Prinz Mohammed, der fliehen wollte, wurde auf den kaiserlichen Stuhl erhoben, so sehr sich der siebenjährige Knabe auch dagegen sträubte; noch in der Nacht nahm man die Beschneidung des neuen Sultans vor und schleppte das ohnmächtige Kind zur Ejubsmoschee und dem Grabe Mohammeds des Eroberers, um ihm durch diesen Akt der Pietät eine glorreiche Regierung zu sichern. Gleich darauf befahl der neue Großwesir Mohammed die Hinrichtung des abgesetzten Herrn, die ‚mit dem Strick, ohne jeden Lärm’ vollzogen ward.“ Man schrieb das Jahr 1648 und Iorga zitiert dazu einen rumänischen Chronisten: „Căci că din firea lui era nebun, şi, dacă luă şi Împărăţia, stătu şi mai nebun. – Er war von Natur toll, und als er die Herrschaft angetreten hatte, wurde er immer toller“. (Übersetzung: Iorga). Genau 30 Jahre später regierte dieser Sultan, Mohammed IV., noch immer im Osmanischen Reich. Und zwar so: „Alle Entschlüsse aber hingen allein von Kara-Mustafa ab; er hatte die eigentliche Macht in Händen, da der Sultan es auch jetzt vorzog, als reichbegüterter Privatmann zu leben und seine Zeit zwischen großen Jagden, bei denen bis zu 40.000 Mann in Tätigkeit traten, um ein paar Hasen zu erlegen, Lustreisen, Zwiegesprächen mit dem zigeunerischen Musaip, Liebesabenteuern mit Sklavinnen und zufriedenen Familienleben teilte, wie er es mit der Chasseki, dem aufgeweckten Thronfolger Mustafa, dem zweiten Sohne und den an Kara-Mustafa und den Musaip Mustafa verlobten Prinzessinnen Aideh und Atidscheh führte.“ Und wie erging es Kara-Mustafa? Ganz normal, könnte man sagen: „Als Mohammed IV. das Todesurteil über seinen unglücklichen Großwesir fällte, hatte er nicht etwa die Absicht, von nun an das Reich selbständig und aus eigener Initiative zu leiten. […] Das Vermögen Kara-Mustafas wurde also konfisziert – man fand 3000 Beutel baren Geldes zu je 500 Reali -, sein Kechaja, seine zwei Sekretäre (Nischandschis), sein griechischer Oberdolmetscher Alexander Maurokordatos und weitere 14 Offiziere wurden verhaftet.“ Und der Sultan selber? „Mohammed IV. bezog als ‚freiwillig’ zurückgetretener Effendi mit seinen zwei Söhnen ruhig den Kerker, den Soliman eben verlassen hatte; man sah ihn traurig, aber ohne Zeichen der Verzweiflung oder Furcht sich in sein Schicksal ergeben.“ Nach fünf Jahren Haft soll er am 17. Dezember 1692 eines natürlichen Todes gestorben sein – nicht gerade typisch für osmanische Gepflogenheiten.

Im vierten Band wird die Fanariotenherrschaft in den rumänischen Fürstentümern analysiert. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte der einst bei Mohammed IV. in Ungnade gefallene Grieche Alexander Maurokordatos einen bedeutenden Einfluss auf die Politik der Pforte gewonnen. „Er eröffnete durch seine Begabung und Geschicklichkeit, und durch die klare Konsequenz, mit der er den Begriff eines osmanischen Reiches, das griechische Klugheit in griechischem Interesse zu leiten hatte, festhielt, die Ära der von Griechen gelenkten Türkei, des immer siegreichen und überall herrschenden fanariotischen Geistes, obgleich am Fanari, dem Leuchtturm von Konstantinopel, noch nicht jene Gesellschaft reicher, ehrgeiziger und rücksichtsloser Familien ansässig geworden war, die den Namen ‚Fanarioten’ zu eben solcher Berühmtheit gebracht hat, wie sie ihm Verachtung und Abscheu zu erwerben wusste.“ Hier bewegt Iorga sich in einem Bereich der Geschichte, die er sein Leben lang unermüdlich beackert hat. Zu den zahlreichen Büchern, die der rumänische Gelehrte veröffentlicht hat – neben mehreren tausend Artikeln – zählen auch eine Geschichte der Rumänen in Deutsch, eine in Italienisch, eine zweibändige in Französisch und nicht zuletzt eine zehnbändige in seiner Muttersprache. Dazu hat er eine viel beachtete Geschichte des rumänischen Volkes im Rahmen seiner Staatenbildungen (1905) verfasst. Insgesamt sind von ihm 36 Bände zur rumänischen Geschichte bekannt, und darin kommen die Fanarioten oft vor.

Im fünften Band der Geschichte des Osmanischen Reiches widmet Nicolae Iorga sich ausführlich der Staatenbildung des modernen Rumänien im 19. Jahrhundert. „Die Benennung ‚Vereinigte Fürstentümer der Moldau und Walachei’, die Einsetzung einer Zentralkommission für Gesetzgebung, gebildet aus Delegierten beider Versammlungen und aus Mitgliedern derselben, die die Hospodare allein zu ernennen hatten, ohne einen Staatsrat zu errichten, die Gleichstellung beider Länder in allen Punkten der Verwaltung und der Verteidigung, wurden allgemein angenommen; bis ins einzelne wurde die Konstitution des neuen Staates ausgearbeitet und ein Wahlgesetz hinzugefügt. Am 19. August wurde dann diese Konvention unterzeichnet.“ Man schrieb das Jahr 1858. Dass ein Mann wie Nicolae Iorga diese Sätze 55 Jahre später mit berechtigtem Stolz in eine Geschichte des Osmanischen Reiches einbrachte, dürfte auf allgemeines Verständnis stoßen. Man würde dem großen Mann der rumänischen Geisteswissenschaft sogar mehr Pathos zugestehen. Aber „im letzten Band – in den die Zeit der rumänischen Unabhängigkeitsbewegung fällt – sucht er hingegen bewusst den Ton des reinen, nur gesicherte Fakten referierenden Berichts, um von vornherein allen Vorwürfen der Voreingenommenheit zu begegnen“, wie Albert Sellner im Nachwort dieses bemerkenswerten Werkes feststellt.

1912 endet Nicolae Iorgas Geschichte des Osmanischen Reiches. Nur zwölf Jahre später, aber um einen verheerenden Krieg reicher, endet mit der Abschaffung des Kalifats die Geschichte des Osmanischen Reiches überhaupt. Es lohnt sich, sie in ihrer ganzen Bandbreite zu lesen. Osmanische Geschichte ist europäische Geschichte und Millionen Biographien wären ohne diese Wucht vom Bosporus anders verlaufen.

Nicolae Iorga macht auch dem an geschichtlichen Einzelaspekten interessierten Leser das Suchen in diesem umfangreichen Werk (2561 Seiten) leicht. Das Inhaltsverzeichnis an jedem Bandanfang ist nach Büchern, Kapiteln und sehr detaillierten Themenstichworten (eine Seltenheit in solchen Geschichtswerken) gegliedert. Ein Beispiel aus dem letzten Band: „Drittes Buch. Loslösung der militärischen Nationalitäten vom osmanischen Staatskörper, S. 403. Erstes Kapitel: Russische Umtriebe von der Schließung des Meerengenvertrags bis zum Krimkriege (1841 – 1853), S. 405. Absetzung des walachischen Fürsten Alexander Ghica, S. 405. Türkische Bedenken bei der Anerkennung Michael Obrenowitsch’ als ‚Basch-Beg’ in Serbien; Erhebung der Woiwoden gegen denselben und Haltung des russischen Konsuls, S. 406." etc, etc.

Anton Potche

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