Montag, 16. Dezember 2013

Viel nackte Haut für die Senioren im Stadttheater Ingolstadt

24. November 2013., 11.00 Uhr, Vergabe des Marieluise-Fleußer-Preises an Rainald Goetz (*1954) im Foyer des Stadttheaters Ingolstadt. Der Preis wird seit 1981 vergeben. Zunächst in fünfjährigem Rhythmus, dann in dreijährigem und seit 2011 in zweijährigem. VW & Audi geht es gut.

Da bietet es sich natürlich an, dass man nur drei Stunden später ein Fleißer-Stück im gleichen Haus spielt, zumal man es sowieso im Programm hat: Leben müssen ist eine einzige Blamage. Es ist allerdings kein Stück von Marieluise Fleißer (1901 - 1974), sonder ein Stück über die Ingolstädter Schriftstellerin. Geschrieben hat es Christoph Klimke (*1959). Und er hat es gut gemacht: eine konzentrierte Handlung, in der sich Autoren – Brecht ist natürlich allgegenwärtig -, Kritiker und Figuren aus Fleißer-Stücken begegnen. Und ganz wichtig: Das Stück dauert nur 80 Minuten und hat keine Pause. Also kann niemand unbemerkt vor Schluss abhauen.

So mussten auch an diesem Nachmittag die vielen Senioren – es waren tatsächlich überwiegend ältere Semester im gut besetzten Saal – mit ansehen, wie Roelle, eine Figur aus Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt, der aber auch wirklich existiert haben soll, sich vor der sterbenden Marieluise die Genitalien abschneidet und ihr „schon mal vorausgeht“. (Neben mir stöhnte eine noch ältere Dame als ich leise vor sich hin.) Tja, so ist es eben mit dem zeitgenössischen Theater. Ohne Schockwellen keine Kunst. Zumindest in der Vorstellung von Autoren und besonders Regisseuren.


Bettina Storm als Marieluise Fleißer
Dass Marieluise Fleißer an ihrer Zeit krankte, ist allseits bekannt. Das Verhältnis zu ihrer Stadt war nicht das beste. Auch in diesem Stück bekennt sie: „Ich kann meine sogenannte Heimat und ihre bigotten Bewohner nicht mehr sehen.“ Aus dem Mund von Bettina Storm, klang das schon sehr überzeugend; wie übrigens auch alle anderen Dialoge und Monologe, die die Schauspielerin führte und sprach. Sie ist übrigens die Einzige, die in dieser rundum gelungenen Inszenierung von Johann Kresnik nur eine Rolle, eben die Hauptrolle, spielt. Alle anderen, Ulrich Kielhorn, Ines Hollinger, Ingrid Cannonier, Enrico Spohn, Rolf Germeroth, Olaf Danner, Matthias Zajgier und Anna Hein (hervorragend als Choreografin und Tänzerin) spielen mehrere Rollen. Das ist hier in Ingolstadt zum einen ein eingespieltes Team und zum anderen war das schon die zehnte Aufführung dieses Stückes. Da klappte alles – zumindest für die Augen und Ohren des Publikums, was das Entscheidendste ist. Dazu trug auch das Duo Deborah Wargon (Geige) und Patrick Schimanski (Schlagzeug) in großem Maße bei. Es ist schon bemerkenswert, welch herrliche Klangfarben diese nicht alltägliche Instrumentalbesetzung hervorzaubern kann. Deborah Wargon hat die Musik geschrieben.

Das ganze Geschehen zwischen den einst real existierenden und fiktiven Personen spielt sich in einem von Berthold Brechts Konterfei dominierten, sich in die Tiefe verengenden Raum. Und es hat zu leiden, dieses Konterfei, denn Marieluise Fleißers Beziehung zu Bertold Brecht war alles andere als ungetrübt. Es ist mehr als die Lebensgeschichte einer unzufriedenen, mit den Widrigkeiten ihrer Zeit kämpfenden Schriftstellerin, die in diesen Kulissen von Marion Eiselé eine Darstellung findet; es ist auch ein Blick auf den deutschen Literaturbetrieb aus der Zeit der Weimarer Republik bis in die 1970er Jahre.

Das war ein informativer und genüsslicher Theaternachmittag. Auch für die Darstellerinnen und ihre Kollegen. Die saßen nämlich schon auf dem Viktualienmarkt bei einem Bierchen, als ich den nach dem Verlassen des Theaters passierte, um zu meinem alten Drahtesel zu gelangen, der am Rathaus angekettet war. Das war, zumindest aus meiner Sicht – Gusten und Ohrfeigen sind ja bekanntlich verschieden –, ein wohlverdientes Bierchen. Auch bei kaum vier, fünf Grad Celsius über Null.


Anton Potche

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