Montag, 9. Dezember 2013

Zu Besuch bei meinen Ahnen

Die andere Heimat – Film von Edgar Reitz (Regie); mit Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer u. a. 

Ich war in Schabbach. Es war in den Jahren des Herrn 1842 bis 1844. Schreckliche Jahre. Es gab nur arme Ernten. Der Winter 43/44 war einer der härtesten im Hunsrück. Dazu kam die Diphtherie. Der Tod hausierte überall.

Und Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) träumte sich hinaus aus dieser Welt, in ein Land, in dem auch an Weihnachten Sommer ist. Und wo Indianer leben. Er wusste Bescheid über diese Urvölker Lateinamerikas, weil er lesen konnte - und sogar schreiben. Das konnten in jener Zeit bei Weitem nicht alle, auch in der Simon-Familie nicht. Er war seiner Zeit weit voraus.

Das Buch war in den Augen seines Vaters ein Teufelszeug. Und wer wie Jakobs Schwester einen Katholiken heiratete, wurde ausgeschlossen, durfte nicht mehr zurück in die Familie. Protestanten tun so etwas nicht. Das und vieles andere bedrückten den jungen Mann. Er träumte vom Auswandern.

Doch das Leben nahm seinen Lauf und es war nicht sein, Jakobs, Lauf. Viele andere wanderten aus – schon mit dem Heimweh im Herzen -, Jakob blieb. Er liebte ein Mädchen, Jettchen (Antonia Bill), sein Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) nahm sie zur Frau. Alexander von Humboldt (Werner Herzog) bemühte sich nach Schabbach, um den begabten Jakob Simon kennen zu lernen, doch der lief einfach weg.

Vier Stunden war ich in Schabbach, in den Jahren 1842 bis 1844. Und ich war selten so bewegt. Wieso? Weil mein Urahn in zehnter Generation schon 70 Jahre früher Jakobs Traum träumte, doch ohne Indianer, aber mit verheißungsvollen Versprechungen kaiserlicher Werber aus dem fernen Wien. Und weil auch ich diese Sehnsucht Jakobs verspürte – 140 Jahre später. Aber in umgekehrter Richtung: Die Mosel wollte ich sehen und den Rhein.


Das waren vier harte Stunden. So lebten meine Vorfahren, so sprachen sie – mit allen mir so vertrauten Dialektidiomen -, so glaubten sie, so starben sie. Und so gingen sie weg. Immer wieder. Im 18. Jahrhundert nach Ungarn – vielleicht ein weiteres Reitz-Thema? - und im 19. nach Übersee. Wie schwer das war, welche ungeheuren Überwindungen das Auswandern sie trotz der großen Not kostete, zeigt dieser Film von Edgar Reitz: Die andere Heimat.

Das hätte ein monumentaler Kinofilm werden können, wenn… ja wenn diese Farbtupfer die Schwarzweißwelt nicht stören würden. Wenn man einen Film in historischem Schwarzweiß dreht, sollte man die Geschichtsaura, die er ausstrahlt, nicht mit Farbklecksen stören, selbst wenn es die schwarz-rot-goldene Fahne ist. Mir zumindest wurde durch diese gekünstelten Farbtupfer während der vier Stunden immer wieder in Erinnerung gerufen, dass ich eigentlich nur im Kino und nicht in Schabbach bin. Aber gerade dort wollte ich bleiben, so schwer das manchmal auch war, ungestört vom gegenwärtigen Zeitgeist, denn schließlich weilte ich zu Besuch bei meinen Ahnen. Schade, jammerschade!

Anton Potche

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