Montag, 20. Januar 2014

Beißender Spott über die wirklich Verdummten

Gregor von Rezzori: Memoiren eines Antisemiten – ein Roman in fünf Erzählungen; Verlag Steinhausen GmbH, München, 1979; ISBN 3-8205-3496-2; erhältlich bei Amazon zu Preisen zwischen 4,48 € (gebraucht) und 19,90 €

Wie der Untertitel sagt, handelt es sich hier um einen Roman in fünf Erzählungen. Das stimmt insofern, als jedes der fünf Kapitel auch unabhängig für sich stehen kann. Schon das erste Kapitel wirft eine Frage auf, die gleich im zweiten Satz eine Antwort bekommt. Gut für den geneigten Leser.

1. Skutschno

Skutschno ist ein russisches Wort, das sich ins Deutsche schwerlich übersetzen lässt. Es bedeutet mehr als öde Langeweile: eine seelische Leere, deren Sog wie eine unbestimmte, aber heftig drängende Sehnsucht wirkt.“ Das klingt auch nach einem öden, eintönigen Raum, einer Landschaft, in der so gut wie nichts Aufregendes passiert. Dem ist aber dann doch nicht so. Das lässt schon das Alter des Ich-Erzählers nicht zu. Er ist dreizehn und verbringt die Sommerferien auf dem Lande bei „Onkel Hubert und Tante Sophie“, ein Ort, in dem armenische Katholiken leben, wo es eine Synagoge als „unscheinbaren Kuppelbau“ sowie ein orthodoxes Kloster gibt, aber auch die Villa von Dr. Goldmann, „ein Bauwerk aus zierlich aufgemauerten knallroten Backsteinen […]: überraschend und verrückt, betürmt, bezinnt, beerkert, mit einem an den Rändern wie ein Tortenblatt geschnittenen und in drachenköpfige Wasserspeier ausgeeckten Blechdach, allenthalben reichbesteckt mit Wimpeln, Hellebarden und Wetterfähnchen.“ [Eingeklammerte Weglassungen oder Hinzufügungen stammen vom Rezensenten.]

Wo sonst kann das schon sein als in der Bukowina? Die Monarchie ist Geschichte und Großrumänien Realität. Alte und neue Welt vermischen sich. Tante Sophie spricht noch in der dritten Person: „Aber erst einmal steh’ Er auf und sag’ Er anständig guten Tag, dann können wir uns weiter unterhalten.“ Bubi erlebt diese Welt in ziemlich zwiespältiger Weise. Einerseits bleibt er als Fremder ausgegrenzt, andererseits kommt er zum ersten Mal mit Homosexualität, Pädophilie und Ehebruch in Berührung; zwar nicht als direkt Involvierter, aber immerhin als aufsaugender Junge in voller Pubertät. Oh ja, da kann dann auch schon mal Skutschno aufkommen. Schon darum, weil ja auch noch dieser Wolf Goldmann vor Ort ist, der Sohn von Dr.Wolf Bär Goldmann und Spielkamerad von Bubi. Und mit diesem bahnen sich die ersten anerzogenen antisemitischen Gefühle einen Weg ins Gedankenlabyrinth des heranwachsenden Jungen, der sich darüber freut, dass ihm bei diesem Namen, also Wolf, „nicht peinlich zu sein brauchte wie [bei] Moische oder Jossel“, es aber „doch nicht recht angebracht [findet], dass er hieß wie ein Recke der deutschen Heldensagen“.

2. Jugend

Bubi wächst zum Jüngling heran und bricht aus der bukowinischen Enge aus. Bukarest, 1933. Was macht hier ein auf sich allein gestellter Jüngling, der „jede auch nur halbwegs ansehnliche Frau“, begehrte und „sie sofort in [seiner] Vorstellung nackt vor [sich] und [sich] auf ihr“ sah? Er sammelt natürlich reichlich positive und negative sexuelle Erfahrungen und der Leser darf ihn dabei schmunzelnd begleiten. Dabei kann er, der Leser,  sich eine Welt vorstellen, in der es nur so wimmelt „von Herumlungerern, Passanten und ihnen an die Fersen gehefteten fliegenden Händlern, Bettlern, Bummlern, Hammeln, Hühnern, getretenen Hunden, peitschenknallenden Droschkenkutschern, Bauernknäueln auf ratternden Karren, wild hupenden Autos“ und aus der Bubi, eigentlich heißt er Arnulf, wie ein echter Deutscher eben, eine junge Zigeunerin entgegenkommt: „glutäugig, zähneblitzend, silbermünzenblinkend, rabenflügelschwarz“. Klar, da ist es geschehen um den teutonischen Arnulf.

Von der Liebe allein lässt es sich allerdings mehr schlecht als recht leben. Eine Arbeit muss her. Der Weltenstürmer findet sie bei der Firma Afrodite Soc. An. und dekoriert Schaufenster, ohne allerdings auf die Suche nach amourösen Abenteuern zu verzichten. Das Verhältnis mit einer „galanteriewarenkökernden Jüdin“ bildet den absoluten Höhepunkt dieses Mannwerdens. Das Karussell der Gefühle beschert unserem Arnulf alias Bubi aber auch immer wieder Skutschno-Augenblicke. Dann, wenn der Tag schnell zur Neige geht, befällt ihn „eine Schwermut, als wäre [er] vollkommen verwaist“. Klar: Heimweh! Nach einer Welt, die ein Rezensent nur zitieren kann: „Wie einen jähen Schmerz empfand ich Heimweh nach Hause, nach der Bukowina, wo ich besonders diese Stunde knapp vor Einfall der Dunkelheit so sehr geliebt hatte, daß ich dazu immer wieder aus dem Haus und ins Land hinausgelaufen war, in dies abstrakte fliederfarbene Licht, dessen fledermausdurchgaukelter Grund schon rauchig war vom Staub der Dunkelheit, Nachtwind schon mit dem Duft des Heus von fernen Wiesen im Gesicht und vor mir, wo gegen Galizien hin das flache Land ausfächerte in kosmische Weite, um dort mit dem Himmel zu verschmelzen, den ungeheuerlichen Ursprung der Nacht.“ Das ist/war Rezzori (1914 - 1998) wie er leibt und lebt: nicht nur Gesellschaftssatire, bissig und sarkastisch, sondern auch Poesie in der Sprache, voller Gefühl und mit spürbarer Aufrichtigkeit.

3. Pension Löwinger

„Die Löwinger waren ungarische Juden aus der Gegend um Temeschwar, wo die rumänische, die österreichische und die jüdische Küche mit der ungarischen glücklich zusammentrafen.“ Und genau hier landet Arnulf, denn neben Liebe und Brot tut auch eine Unterkunft gut. Dieser Lebensabschnitt ist „ein Stück [seiner] Biographie, mit der [er sich] oft nachdenklich beschäftigt hat“. Natürlich geht es auch in dieser Erzählung um Liebe. Es gesellen sich aber auch gesellschaftspolitische Untertöne hinzu.

Der Leser begleitet Arnulf auf seinem Weg der keimenden Begehrlichkeiten. Fräulein Alvaro ist das Subjekt seiner Begierde, aber auch des zermürbenden Zögerns, des Glaubens, des Eiferns, des Scheiterns bis hin zur Gottlosigkeit und letztendlich des schändlichen Verrats. „Oh, verstehen Sie das recht, die Liebe meiner Tante war eine jüdische Liebe: selbstsüchtig, eifersüchtig, eifernd, ungenügsam, vor nichts haltmachend, auch nicht vor dem Bösen, nicht vor der Verleugnung, dem Betrug, der Lüge“, erzählt Fräulein Alvaro dem staunenden und immer noch selbstzweifelnden Arnulf (der wohl doch noch ein Bubi geblieben war), um nachher mit einem anderen ins Bett zu steigen. Inzwischen ist es März 1938 und Zeit für Arnulf, nach beinahe vier Jahren Balkan, in Richtung Wien aufzubrechen.

4. Treue

Wir sind mit Arnulf in Wien und erfahren spätestens jetzt, was Antisemitismus bedeutet. Es ist aber nicht der Antisemitismus Arnulfs, sondern der seines Umfeldes. Ihm geht es nicht anders als bisher: Er verliebt sich in Minka Raubitschek, ein jüdisches Mädchen. Und schon bricht die indoktrinierte Erziehung über ihn herein und stürzt ihn in Gewissenskonflikte: „Die Möglichkeit, mich in den Armen einer kleinen Jüdin vorzustellen und dabei alle Wonnen des Verliebten zu empfinden – und diese Vorstellung stellte sich verschiedentlich und mit jeweils unverminderter Heftigkeit ein – wies tatsächlich darauf hin, dass es mir an Charakter, an moralischem Rückgrat gebrach.“

Bisher war alles klar, auch Rezzoris Erzählstil. Ab jetzt wird es zusehends vernebelter. Die Sprache nimmt surreale Züge an, wie die Zeit, die sie festhalten will. Es ist Anschlussstimmung in Österreich. Und Herr Malik wird in Szene gesetzt, „ein Mann von hohen sittlichen Idealen“ und „von metaphorischer Herkunft“. Arnulfs Tanten sind fest überzeugt, dass „so wie Johannes der Täufer ausersehen war, den Heiland anzukündigen, war nämlich Herr Malik auf Erden gekommen, um einen anderen Entmaterialisierer zu verheißen. Sein Name sei Adolf Hitler.“ Gregor von Rezzori in Hochform. Köstlicher Spott. Und das seitenlang. Und dazwischen eine Liebe. Unglücklich. Und todernst. Wie man das alles in Sprache packt, ohne selbst unglaubwürdig zu erscheinen, demonstriert der Schriftsteller aus der Bukowina hier sehr anschaulich. Obwohl es keinen Zusammenhang gibt, wurde ich beim Fernsehdreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter (Regie: Phillip Kadelbach, Drehbuch: Stefan Kolditz) an diese Treue-Erzählung erinnert.

5. Prawda

Ende. Das Alter. Die Erinnerungen fordern ihr Recht. Auch bei Arnulf. Obwohl das an Gräuel so reiche Jahrhundert noch 21 Jahre zu durchschreiten hat. Ein Zeitrafferkapitel, könnte man über diese Erzählung sagen, mit drei geehelichten Frauen und einem früh verstorbenen Sohn. Die erste Gattin war ostpreußisch, die zweite jüdisch, die dritte italienisch. Diese dritte und letzte Frau hat eine 94-jährige russische Tante und Arnulf will sie besuchen. Er kommt zu spät. Sie ist gestorben. Ihr letztes Wort war laut der Portiersfrau, die sie gepflegt hat, „Prawda“. Meinte sie die Zeitung oder nur die Wahrheit?

Inwieweit hat Gregor von Rezzori sie geschildert, die Wahrheit, Arnulfs Wahrheit, und wie viel von seiner Wahrheit, seinem Leben hat er in diesen Roman eingebracht? Die zeitlichen Eckdaten der Handlung stimmen auf jeden Fall mit den biographischen Lebenssträngen des Romanciers überein.

Gregor von Rezzori gehört nicht zu der Riege berühmter jüdischer Autoren aus der Bukowina wie Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Margul Sperber u. a. Er war ein deutscher Schriftsteller; einer, der, wenn Arnulf sein Alter Ego ist, sich zu seinem Antisemitismus bekennt. Das allerdings war eine Fremdenfeindlichkeit, die mit der verbrecherischen Weltanschauung der Nazis nichts am Hut hatte, sonder eher als ein schalkhaft ironischer Blick auf das Anderssein registriert werden kann. Und wenn der Spott in Rezzoris stilistisch brillanten Sprache mal beißend wird, dann geht es immer um die wirklich Verdummten.

[Ingolstadt, 2013]
Anton Potche 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen