Mittwoch, 2. April 2014

Das Mitteilungsbedürfnis der Toten

In den Alpen von Elfriede Jelinek am Stadttheater Ingolstadt

Was könnte Elfriede Jelinek dazu veranlasst haben, das Theaterstück In den Alpen zu schreiben? Vielleicht war es das gleiche Gefühl, dass einen packt, wenn er im Fernsehen einen gutgelaunten Steuerkriminellen, eingerahmt von fußballbegeisterten Konzernbossen, Politikern und Medienleuten, sieht, der durch seine bloße Anwesenheit auf den VIP-Plätzen jeglichem Anstand und jeder moralischen Norm Hohn spricht. Es ist Ohnmacht. Die Ohnmacht, zusehen zu müssen, ohne etwas gegen die Arroganz hochstilisierter Moralapostel unternehmen zu können. Zusehen musste auch die österreichische Nobelpreisträgerin. Das tut sie eigentlich schon immer, zusehen, hinschauen. Und sie hat die Kaprunbahn noch immer im Blick. Besser gesagt, das Geschehen danach, die juristische Aufarbeitung der größten Katastrophe in der Nachkriegsgeschichte Österreichs. 155 Menschen kamen zu Tode. Man schrieb den 11. November 2000. Und niemand war schuld. (Am 11. November übernehmen die Narren das Zepter.)

Das Stadttheater Ingolstadt hat In den Alpen auf die Bühne gebracht (Regie: Gustav Rueb). Wenn der Zuschauer den Saal betritt sind die Touristen schon da. In ihren Ski- und Wanderanzügen. Sie bewegen sich so komisch. Wie Roboter. Und sie sind so bleich. Auch ihre Lippen bewegen sich. Doch ist nur ein ganz schwaches Lispeln zu vernehmen. Nur einer sitzt etwas abseits und kaut mit verächtlichem Blick an einem Stück Brot. Er trägt einen Trachtenanzug, Alltagstracht, keine Festtracht.

Spätestens beim Erlöschen der Saalbeleuchtung wird auch dem letzten Zuschauer klar: das sind ja alles Tote. Nichtwesen mit Brandmalen im Gesicht. Mit Nummern gekennzeichnet. Die Nummer 1 ist ein Junge. (Von den 155 Toten waren 31 noch keine 18 Jahre alt.) Und er klagt an. In einem fast eine halbe Stunde währenden Monolog. Doch sonderbarerweise ohne Bösartigkeit, ohne Rachegelüste, eine fast sachliche Ansprache aus dem Jenseits, mit Blicken in die Tiefe der österreichischen Geschichte – und natürlich ihren Verstrickungen mit der deutschen.

Der Mann im Trachtenanzug (Anjo Czernich) – er gibt die Karten für die Fahrt in den Tod aus -, also der Einheimische, stellt sein Kauen ein und geht zur Replik über. Welch ein Scheusal: Häme und Spott. „Die Berge waren schon satt.“ Aber nicht die Toten. Die wollen ihre Gaudi, hier und heute. Und sie feiern ungezügelt weiter. Weiter wie im wirklichen Leben. „Der Berg lebt. Schade, dass ich bereits bewusstlos bin“, kreischt die Sportlerin mit der Nr. 126 (Patricia Coridun – hervorragend in ihrem österreichischen Slang). Sauferei und Sex. Orgienhaft. Und im Wahn scheinen sich sogar die Charaktere zu ändern. Latenter Antisemitismus macht sich breit. Ja, im Angesicht der unheimlichen Katastrophe.

Und siehe da, ein Fremder, ein Wanderer in den Bergen – er bleibt aber im Tal -, der in dieser Gesellschaft nicht auftreten könnte, weilte er nicht längst im Jenseits: Paul Celan (Ralf Lichtenberg). Wen sucht der da? Vielleicht Adorno? Jelinek sorgt nicht für Aufklärung. Das kann dem staunenden Zuschauer auch egal sein. Er darf gegen Ende des Stücks noch einem beklemmenden Dialog beiwohnen: Der Junge (Béla Milan Uhrlau), der zu Beginn des Stückes so sympathische, wird plötzlich zum menschenverachtenden Antisemiten. Er greift Celan mit im Hitlerjargon vorgetragenen Parolen an. „Wir haben Ihnen nichts getan. Die Bilder wollen Sie auch noch von uns.“ Niemand ist Schuld in Österreich. Nie und nimmer. Elfriede Jelinek wie sie leibt und lebt. Dafür „lieben“ ihre Landsleute sie so innig.

Chor & Matthias Zajgier als
Bergrettungsmann
Foto: Jochen Klenk
Der Chor der Toten (Einstudierung: Matthias Flake) nimmt Aufstellung vor der verräucherten, gruftartigen Talstation (Bühne: Daniel Roskamp) und intoniert das bekannte Bergvagabunden-Lied. Schlicht und einfach nur ergreifend ist dieser musikalische und szenische Höhepunkt des Stückes. (Der Chor, 12 Frauen und Männer, ist kein Profiensemble. Absolut professionell ist aber ihr gesamter Auftritt.) „Beim Alpenglühen heimwärts wir ziehen,/ Berge, die leuchten so rot./ Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder,/ Brüder auf Leben und Tod./ Lebt wohl, ihr Berge, sonnige Höhen,/ Bergvagabunden sind treu.“ Einer um den anderen verlässt die Station. Als der letzte Sänger die Bühne verlassen hat, kommt sie selbst: Elfriede Jelinek (Victoria Voss).

Sie ist da, um noch einmal zu präzisieren, wer schuldig, Pardon!, unschuldig ist an diesem schrecklichen Unglück. Denn es gab laut österreichischem Rechtsverständnis wirklich einen Schuldigen. (Man höre und staune, auch wenn am 11. November die Narren regieren). Schuld am Tod von 155 Menschen ist angeblich Fakir Hobby TLB. Und genau das will Elfriede Jelinek nicht gelten lassen. Sie verteidigt ihn leidenschaftlich auf ihrer Homepage: Diese Maschine ist unschuldig!

Wer ist dann wirklich schuld? In den Alpen wurde nicht geschrieben, um das aufzuklären, was Gerichte nicht konnten oder wollten. (16 Angeklagte wurden freigesprochen und keiner verurteilt.) In den Alpen wurde geschrieben, um soziale, kulturelle, gesellschaftliche, rechtliche Missstände in „Ösopotamien, Ösistan, Republik Ösiland“ (Jelinek) aufzudecken. Und das ist gelungen. Durch die Stimmen der Toten. Sie bekamen höflichen Beifall, obwohl sie eine hervorragende schauspielerische und musikalische Leistung vollbracht haben. Applaus wirkt nun mal unterschiedlich. Bei vollem Saal klingt er natürlich anders. Bei der zweiten Vorstellung in Ingolstadt war der Große Saal des Stadttheaters nur zu einem Drittel gefüllt. Beim Hinausgehen hörte ich einen älteren Herrn sagen: „Das war keine leichte Kost.“ Und das wiederum war bestimmt im Sinne von Elfriede Jelinek.

Weitere Vorstellungen: 6. April, 14:00 Uhr; 10. April, 19:30 Uhr; 12. April, 19:30 Uhr; 13. April, 19:00 Uhr; 17. April, 19:30 Uhr; 22. April, 19:30 Uhr

Anton Potche

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