Eine Orchesterprobe kann sogar interessanter als ein Konzert
sein. Das hat nicht nur etwas mit dem Eintrittspreisunterschied zwischen
Hauptprobe und Aufführung zu tun. Man erfährt Feinheiten der gespielten
Musikstücke, die einem im Konzert schon darum entgehen, weil doch kein Mensch
mit einer Partitur in der Hand das Geschehen auf der Bühne verfolgt – falls er
mit so einem Papier überhaupt etwas anzufangen weiß.
Das Georgische Kammerorchester Ingolstadt
hatte mal wieder eine öffentliche Hauptprobe anberaumt, Donnerstagmorgen, 10
Uhr. Eine gute Zeit für ältere Semester wie meine Wenigkeit. Man ist
einigermaßen ausgeschlafen und kann sich noch konzentrieren, zumal das in einem
Klassikkonzert schon notwendig sein kann.
Das Thema des Konzertes war allerdings nicht sehr einladend:
Musik zwischen Tod und Leben. Das
sollte natürlich kein Bezug zu den ergrauten Köpfen im doch gut besetzten Saal
sein, sondern war als Erinnerung an den 100. Jahrestag des 1. Weltkriegausbruchs
und auch an 75 Jahres seit des Einfalls der Wehrmacht in Polen, also des
Beginns des 2. Weltbrandes, gedacht.
Da war ich schon etwas irritiert, als ich das Programm
überflog. Als erstes Stück lagen Béla
Bartóks (1881 – 1945) Rumänische
Volkstänze für Streichorchester auf den Notenpulten. Was, fragte ich mich,
sollten Jocul cu bâtă, Brâul, Pe loc, Buciumeana, Poarga românească und Măruntel, mit dem Krieg zu tun haben? Diese
temporeichen und verspielten Stücke verströmen eher Lebensfreude als
Todesahnungen. Der noch sehr junge Dirigent Benjamin Shwartz, seit Anfang 2014 künstlerischer Leiter des Georgischen
Kammerorchesters Ingolstadt, wird sich schon etwas dabei gedacht haben.
Erstens sind diese Tänze in der Kriegszeit entstanden:1915 eine Klavierfassung
und zwei Jahre später die Orchesterfassung für Streicher. Und zweitens bot sich
Bartók auch als Rahmenprogramm an.
Aber erst mussten die sechs – genau genommen sind es acht, da Allegro (6) nicht viel mehr als eine
Tempoverschärfung des Polkarhythmus aus Poarga
românească und Allegro vivace (8)
der zweite Schnelltanz aus Măruntel
ist – bewältigt werden. Das lief wie geschliffen. Die reiche Melodik liegt den
Georgiern sowieso. Nur zwei Stellen wurden noch einmal kurz angespielt.
Dann war der Krieg da, falls man den überhaupt mit Musik
ausdrücken kann. Paul Hindemith (1895
– 1963): Trauermusik für Bratsche und
Streichorchester. Jennifer Stumm
spielte die Viola. Auch dieses Werk mit vier Tempoangaben, Langsam, Ruhig bewegt, Lebhaft, IV Choral: Für deinen Thron tret ich
hiermit” – Sehr langsam, hat keinen direkten Bezug zu den Weltkriegen. Es
ist 1936 anlässlich des Todes von König
Georg V. von England (1865 – 1936) entstanden. Klagende Geigen gehen dem
Einsatz der Bratsche voraus. Die übernimmt ihren Solopart natürlich auch
klagend, mal in der Wolke der Akkorde verschwindend, mal sich von dieser
abhebend. Jennifer Stumm beherrscht
dieses abwechselnde Spiel zwischen resignierender Hingabe und aufbrausender
Empörung sehr gut. Ihr Ton kann besonders weich, ja sogar Mitleid heischend
sein, aber auch aufbegehrend, wenn die musikalische Gefühlslage des Komponisten
so und nicht anders aus der Partitur herauszulesen ist. Obwohl diese Musik
nicht von technischen Raffinessen und verqueren Tempowechseln lebt, war Benjamin Shwartz nicht mit allem
zufrieden, was er da gehört hatte. (Das Publikum schon, dem war kaum etwas
Negatives aufgefallen.) Es gab mehrere Wiederholungen einzelner Stellen.
Und dieser Trend sollte sich verstärken, denn das nächste
Werk stellte gleich mehrere Anforderungen an das Orchester und die Solistin:
Ohne Tontechniker (guten!) und die entsprechende Technik im Saal geht da
nichts. Die jüdische Komponistin Betty
Olivero (*1954) hat das Stück Neharót
Neharót für Viola, Akkordeon, Percussion und Streicher komponiert.
Wunderschöne Musik, darf man vorwegnehmen. Aber auch sehr heikel, weil eine ein
Klagelied (wahrscheinlich auf Jiddisch) singende Frauenstimme vom Band kam und
mit Orchester und Solistin, Jennifer
Stumm, harmonieren musste. Hier war das wesentlichste Qualitätssiegel eines
guten Orchesters, das Aufeinenderhören, außer Kraft gesetzt. Es hat vieler
Anläufe bedurft, bis dieses Technik-Mensch-Zusammenspiel geklappt hat. Am Abend
im Konzert scheint es dann auch funktioniert zu haben, denn die Kritikerin des
DONAUKURIER, Christine Engel,
schrieb zwei Tage später: „Diese Komposition – mit afrikanischen Klageliedern
vom Band unterlegt – beschreibt Eindrücke des Leidens, die der Krieg im Libanon
im Jahre 2006 verursachte.“
Nach diesem die Nerven aller Beteiligten strapazierenden
Stück – nur der Dirigent schien die Ruhe nicht zu verlieren – hatten sich alle
eine Pause verdient, Musiker wie Zuschauer. Musik
zwischen Tod und Leben. Im zweiten
Teil triumphierte das Leben, eindeutig. Es ging spritzig, hurtig, witzig los
mit der aus irischer Volksmusik entstandenen Komposition Molly On The Shore von Percy Grainger (1882 – 1961), ein in
Amerika sesshaft gewordener Australier britischer Herkunft. Die Georgier
hatten mit den technischen Finessen dieser rasanten Melodienfolge kein Problem.
Man hätte ewig zuhören können.
Die Probleme kamen zum Schluss. Auslöser war das Divertimento für Streichorchester, mit
dem Benjamin Shwartz den Rahmen
seines Themenkonzertes zu schließen gedachte. Es hat mit dem jungen,
reiselustigen Bartók (reiste durch
viele Länder, um Volkslieder zu sammeln) begonnen und endete mit dem reisezwiespältigen
(soll oder soll er nicht nach Amerika auswandern) Bartók. Das Stück ist 1939 in den Schweizer Alpen entstanden und
hat einen von zwei Divertimento-Sätzen eingeschlossenen Trübsinn ausstrahlenden
Mittelsatz. Eine Vorahnung? Nur einen Monat nach der Fertigstellung dieses
Werkes ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und Béla Bartók sollte seine
ungarische Heimat (der Teil von ihr mit seinem Geburtsort war nun rumänisch)
nie mehr wieder sehen. Hier standen sich zwei Gefühlswelten gegenüber:
Depression und Vitalität. Rein quantitativ hat die Lebensfreude obsiegt, interpretativ
stellten aber beide Gefühlslagen hohe Ansprüche ans Orchester. Und Benjamin Shwartz ist der richtige
Magier am Pult, um ein hohes Vortragsniveau einzufordern – ohne Taktstock. Es
wurde gefeilscht und gefeilt, auf Deutsch, Englisch, Georgisch, und einer
behielt immer Recht. Jawohl, Sie haben es erraten: der Dirigent. Nutznießer
dieses Ringens um jeden Einsatz und die geringste Dynamikverbesserung sind und
bleiben letztendlich die Zuhörer im Saal.
Die hatten sich allerdings fast alle schon auf leisen Sohlen
aus dem Staub gemacht. Mittag war längst vorbei und für Senioren spielt ein
geregelter Tagesablauf eine wichtige Rolle. Für den einen oder anderen war die
nicht zu erlahmen scheinende Mühe der Musiker dann vielleicht doch ein bisschen
zu viel des Guten. Schöner Musik zu lauschen, kann so genüsslich sein, aber
ihrem Entstehen beizuwohnen durchaus auch anstrengend.
Anton Potche
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