Montag, 23. Juni 2014

Den Georgiern über die Schulter geschaut

Eine Orchesterprobe kann sogar interessanter als ein Konzert sein. Das hat nicht nur etwas mit dem Eintrittspreisunterschied zwischen Hauptprobe und Aufführung zu tun. Man erfährt Feinheiten der gespielten Musikstücke, die einem im Konzert schon darum entgehen, weil doch kein Mensch mit einer Partitur in der Hand das Geschehen auf der Bühne verfolgt – falls er mit so einem Papier überhaupt etwas anzufangen weiß.

Das Georgische Kammerorchester Ingolstadt hatte mal wieder eine öffentliche Hauptprobe anberaumt, Donnerstagmorgen, 10 Uhr. Eine gute Zeit für ältere Semester wie meine Wenigkeit. Man ist einigermaßen ausgeschlafen und kann sich noch konzentrieren, zumal das in einem Klassikkonzert schon notwendig sein kann.

Das Thema des Konzertes war allerdings nicht sehr einladend: Musik zwischen Tod und Leben. Das sollte natürlich kein Bezug zu den ergrauten Köpfen im doch gut besetzten Saal sein, sondern war als Erinnerung an den 100. Jahrestag des 1. Weltkriegausbruchs und auch an 75 Jahres seit des Einfalls der Wehrmacht in Polen, also des Beginns des 2. Weltbrandes, gedacht.

Da war ich schon etwas irritiert, als ich das Programm überflog. Als erstes Stück lagen Béla Bartóks (1881 – 1945) Rumänische Volkstänze für Streichorchester auf den Notenpulten. Was, fragte ich mich, sollten Jocul cu bâtă, Brâul, Pe loc, Buciumeana, Poarga românească und Măruntel, mit dem Krieg zu tun haben? Diese temporeichen und verspielten Stücke verströmen eher Lebensfreude als Todesahnungen. Der noch sehr junge Dirigent Benjamin Shwartz, seit Anfang 2014 künstlerischer Leiter des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt, wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Erstens sind diese Tänze in der Kriegszeit entstanden:1915 eine Klavierfassung und zwei Jahre später die Orchesterfassung für Streicher. Und zweitens bot sich Bartók auch als Rahmenprogramm an. Aber erst mussten die sechs – genau genommen sind es acht, da Allegro (6) nicht viel mehr als eine Tempoverschärfung des Polkarhythmus aus Poarga românească und Allegro vivace (8) der zweite Schnelltanz aus Măruntel ist – bewältigt werden. Das lief wie geschliffen. Die reiche Melodik liegt den Georgiern sowieso. Nur zwei Stellen wurden noch einmal kurz angespielt.

Dann war der Krieg da, falls man den überhaupt mit Musik ausdrücken kann. Paul Hindemith (1895 – 1963): Trauermusik für Bratsche und Streichorchester. Jennifer Stumm spielte die Viola. Auch dieses Werk mit vier Tempoangaben, Langsam, Ruhig bewegt, Lebhaft, IV Choral: Für deinen Thron tret ich hiermit” – Sehr langsam, hat keinen direkten Bezug zu den Weltkriegen. Es ist 1936 anlässlich des Todes von König Georg V. von England (1865 – 1936) entstanden. Klagende Geigen gehen dem Einsatz der Bratsche voraus. Die übernimmt ihren Solopart natürlich auch klagend, mal in der Wolke der Akkorde verschwindend, mal sich von dieser abhebend. Jennifer Stumm beherrscht dieses abwechselnde Spiel zwischen resignierender Hingabe und aufbrausender Empörung sehr gut. Ihr Ton kann besonders weich, ja sogar Mitleid heischend sein, aber auch aufbegehrend, wenn die musikalische Gefühlslage des Komponisten so und nicht anders aus der Partitur herauszulesen ist. Obwohl diese Musik nicht von technischen Raffinessen und verqueren Tempowechseln lebt, war Benjamin Shwartz nicht mit allem zufrieden, was er da gehört hatte. (Das Publikum schon, dem war kaum etwas Negatives aufgefallen.) Es gab mehrere Wiederholungen einzelner Stellen.

Und dieser Trend sollte sich verstärken, denn das nächste Werk stellte gleich mehrere Anforderungen an das Orchester und die Solistin: Ohne Tontechniker (guten!) und die entsprechende Technik im Saal geht da nichts. Die jüdische Komponistin Betty Olivero (*1954) hat das Stück Neharót Neharót für Viola, Akkordeon, Percussion und Streicher komponiert. Wunderschöne Musik, darf man vorwegnehmen. Aber auch sehr heikel, weil eine ein Klagelied (wahrscheinlich auf Jiddisch) singende Frauenstimme vom Band kam und mit Orchester und Solistin, Jennifer Stumm, harmonieren musste. Hier war das wesentlichste Qualitätssiegel eines guten Orchesters, das Aufeinenderhören, außer Kraft gesetzt. Es hat vieler Anläufe bedurft, bis dieses Technik-Mensch-Zusammenspiel geklappt hat. Am Abend im Konzert scheint es dann auch funktioniert zu haben, denn die Kritikerin des DONAUKURIER, Christine Engel, schrieb zwei Tage später: „Diese Komposition – mit afrikanischen Klageliedern vom Band unterlegt – beschreibt Eindrücke des Leidens, die der Krieg im Libanon im Jahre 2006 verursachte.“

Nach diesem die Nerven aller Beteiligten strapazierenden Stück – nur der Dirigent schien die Ruhe nicht zu verlieren – hatten sich alle eine Pause verdient, Musiker wie Zuschauer. Musik zwischen Tod und Leben.  Im zweiten Teil triumphierte das Leben, eindeutig. Es ging spritzig, hurtig, witzig los mit der aus irischer Volksmusik entstandenen Komposition Molly On The  Shore von Percy Grainger (1882 – 1961), ein in Amerika sesshaft gewordener Australier britischer Herkunft. Die Georgier hatten mit den technischen Finessen dieser rasanten Melodienfolge kein Problem. Man hätte ewig zuhören können.

Die Probleme kamen zum Schluss. Auslöser war das Divertimento für Streichorchester, mit dem Benjamin Shwartz den Rahmen seines Themenkonzertes zu schließen gedachte. Es hat mit dem jungen, reiselustigen Bartók (reiste durch viele Länder, um Volkslieder zu sammeln) begonnen und endete mit dem reisezwiespältigen (soll oder soll er nicht nach Amerika auswandern) Bartók. Das Stück ist 1939 in den Schweizer Alpen entstanden und hat einen von zwei Divertimento-Sätzen eingeschlossenen Trübsinn ausstrahlenden Mittelsatz. Eine Vorahnung? Nur einen Monat nach der Fertigstellung dieses Werkes ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und Béla Bartók sollte seine ungarische Heimat (der Teil von ihr mit seinem Geburtsort war nun rumänisch) nie mehr wieder sehen. Hier standen sich zwei Gefühlswelten gegenüber: Depression und Vitalität. Rein quantitativ hat die Lebensfreude obsiegt, interpretativ stellten aber beide Gefühlslagen hohe Ansprüche ans Orchester. Und Benjamin Shwartz ist der richtige Magier am Pult, um ein hohes Vortragsniveau einzufordern – ohne Taktstock. Es wurde gefeilscht und gefeilt, auf Deutsch, Englisch, Georgisch, und einer behielt immer Recht. Jawohl, Sie haben es erraten: der Dirigent. Nutznießer dieses Ringens um jeden Einsatz und die geringste Dynamikverbesserung sind und bleiben letztendlich die Zuhörer im Saal.

Die hatten sich allerdings fast alle schon auf leisen Sohlen aus dem Staub gemacht. Mittag war längst vorbei und für Senioren spielt ein geregelter Tagesablauf eine wichtige Rolle. Für den einen oder anderen war die nicht zu erlahmen scheinende Mühe der Musiker dann vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten. Schöner Musik zu lauschen, kann so genüsslich sein, aber ihrem Entstehen beizuwohnen durchaus auch anstrengend.
Anton Potche

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