Montag, 22. September 2014

Schwere Tage

Ich habe schwere Tage hinter mir. Meine Frau behauptete, sie müsse sich mit mir schämen, wenn wir Fahrrad fahren. Ingolstadt sei eine noble Stadt, mit vielen großen, glänzenden Vierringeautos und mit 50 kunstbeflissenen Stadträten. Mein Fahrrad hingegen habe Rost angesetzt, besonders an den Schutzblechen, wo jeder Nichtblinde ihn sehe.

Ja, ist schon gut, sie hat ja Recht. Aber mein alter Drahtesel hat mich viele Jahre lang ans andere Ende der Stadt gebracht, bei grimmigster Kälte – einmal waren mir die Augenlider so angefroren, dass ich erst nach einer viertelstündigen Auftaufase wieder blinzeln konnte – und unerträglicher Hitze, über die Donau, tagein, tagaus. Treuer wie ein Hund. Nur in einem Jahr, kurz nach der Jahrtausendwende, hatte ich in einem Winter fünf Pannen. Das war aber ein singulärer Fall.

Und jetzt das. Tagelang bin ich durch die Stadt gerannt. Sinnlos. Ziellos. Zu Hause habe ich immer wieder versucht, meine Gattin von meiner Beziehung zu meinem Fahrrad zu überzeugen. „Du scheinst dieses verrostete Stück Eisen ja mehr zu lieben als deine Frau“, giftete sie mich an. Immer häufiger suchte ich außerhalb des trauten Heims meinen Frieden. Ich wollte allein sein mit meinem Schmerz, mit meinem alten, treuen Drahtesel. Ich suchte mir ruhige, menschenleere Parkanlagen zum Rückzug, fuhr langsam durch das Glacis, stieg ab, schob meinen so liebgewonnen Begleiter durch einen großen Teil meines Lebens und sprach mit ihm. Ich suchte nach Worten, um ihm begreiflich zu machen, in welch misslicher Situation ich mich befand. Meist schnürte mir schon im Ansetzen zum Sprechen ein Kloß im Hals die Worte ab. Jeder neue Versuch musste kläglich scheitern und ich überließ mich meinen Tränen. So war es besser, die Welt durch einen Schleier zu sehen. Diese unbarmherzige Welt. Und diese Frau zu Hause. Wie kann man nur so gefühlskalt sein.

Der Schatten im Glacis tat gut, kühlte mein erhitztes Gemüt. Wir gingen nebeneinander her, mein vielgeliebter Zweiräder und ich. Ab und zu schweifte mein Blick über den Glacissaum. Dort. Das Kavalier Heydeck. Davor die große Wiese. Und auf der Wiese... Oh Gott! Komm, wir fahren dort hin. Ich stieg auf. Trat in die Pedale. So leicht ist mein guter Alter noch nie gelaufen. Ich habe ihn fotografiert, meinen lieben, alten Drahtesel, vor diesen zwei kostbaren, total verrosteten Eisenstücken. Das eine gebogen, das andere nur zugeschnitten. Ja, ja, der Himmel hat sie uns beiden geschickt, denn sie sind es, die zwei Stücke verrostetes Eisen, die der Bildhauer Alf Lechner, der Stadt Ingolstadt als Leihgabe überlassen hat. Doch jetzt will er das Material wieder haben, um es in einer anderen Form dem Rost preiszugeben. Da ging ein Aufschrei durch den Stadtrat. Nein, das ist Kunst in höchster Vollendung, Rost als künstlerisches Element. Das monumentale Rostwerk muss erstanden werden. Und wahrlich, kein Stadtrat musste dem Verlustschmerz erliegen. Ingolstadt hat die zwei (zugegeben großen) Stücke Eisen dem Bildhauer Alf Lechner abgekauft: für 100.000 Euro. Ich habe meinen vielgeliebten, verrosteten Alten sofort in Fotopose gebracht und beide abgelichtet, das Werk des großen Künstlers und ihn, meinen ewiglich treuen Drahtesel.

Und siehe da: Es ist Friede eingekehrt in unser Heim. Gemeinsam haben wir, meine bessere Hälfte und ich, den Taschenrechner zur Hilfe genommen und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Stadt Ingolstadt uns bestimmt für das irgendwann total verrostete Fahrrad mindestens 5000 Euro geben wird. Mein Lebensabschnittsgefährte in mehr als 20 Jahren wird noch lange leben. Bis er ganz verrostet ist! Dann werden wir ihn der Stadt als Kunstwerk anbieten, zum Aufstellen im öffentlichen Raum - als Proletarierfortbewegungsmittel in der Autostadt an der Donau. So wird er weiterleben, mein lieber Alter, und wir werden dafür 5000 Euro oder mehr kassieren. Doch es ist nicht das Geld, nein, nein. Nur sein Drahteselleben im Schutze des Kunstrostes, das allein ist unser Grund zum Handeln. Und es ist diese Stadt, und nur sie, die das ermöglichen kann, denn nirgends auf der ganzen Welt ist das Verständnis, ja die Liebe für Gegenstände und Kunst aus Rost größer als in Ingolstadt.

Unbeschwerte Tage stehen ins Haus. So schön kann Familienleben sein.
Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen