Ich habe schwere Tage hinter mir. Meine Frau behauptete, sie
müsse sich mit mir schämen, wenn wir Fahrrad fahren. Ingolstadt sei eine noble
Stadt, mit vielen großen, glänzenden Vierringeautos und mit 50 kunstbeflissenen
Stadträten. Mein Fahrrad hingegen habe Rost angesetzt, besonders an den
Schutzblechen, wo jeder Nichtblinde ihn sehe.
Ja, ist schon gut, sie hat ja Recht. Aber mein alter
Drahtesel hat mich viele Jahre lang ans andere Ende der Stadt gebracht, bei
grimmigster Kälte – einmal waren mir die Augenlider so angefroren, dass ich
erst nach einer viertelstündigen Auftaufase wieder blinzeln konnte – und
unerträglicher Hitze, über die Donau, tagein, tagaus. Treuer wie ein Hund. Nur
in einem Jahr, kurz nach der Jahrtausendwende, hatte ich in einem Winter fünf
Pannen. Das war aber ein singulärer Fall.
Und jetzt das. Tagelang bin ich durch die Stadt gerannt.
Sinnlos. Ziellos. Zu Hause habe ich immer wieder versucht, meine Gattin von meiner Beziehung zu meinem Fahrrad zu überzeugen. „Du scheinst dieses
verrostete Stück Eisen ja mehr zu lieben als deine Frau“, giftete sie mich an.
Immer häufiger suchte ich außerhalb des trauten Heims meinen Frieden. Ich
wollte allein sein mit meinem Schmerz, mit meinem alten, treuen Drahtesel. Ich
suchte mir ruhige, menschenleere Parkanlagen zum Rückzug, fuhr langsam durch
das Glacis, stieg ab, schob meinen so liebgewonnen Begleiter durch einen großen
Teil meines Lebens und sprach mit ihm. Ich suchte nach Worten, um ihm
begreiflich zu machen, in welch misslicher Situation ich mich befand. Meist
schnürte mir schon im Ansetzen zum Sprechen ein Kloß im Hals die Worte ab.
Jeder neue Versuch musste kläglich scheitern und ich überließ mich meinen
Tränen. So war es besser, die Welt durch einen Schleier zu sehen. Diese
unbarmherzige Welt. Und diese Frau zu Hause. Wie kann man nur so gefühlskalt
sein.
Der Schatten im Glacis tat gut, kühlte mein erhitztes Gemüt.
Wir gingen nebeneinander her, mein vielgeliebter Zweiräder und ich. Ab und zu
schweifte mein Blick über den Glacissaum. Dort. Das Kavalier Heydeck. Davor die
große Wiese. Und auf der Wiese... Oh Gott! Komm, wir fahren dort hin. Ich stieg
auf. Trat in die Pedale. So leicht ist mein guter Alter noch nie gelaufen. Ich
habe ihn fotografiert, meinen lieben, alten Drahtesel, vor diesen zwei
kostbaren, total verrosteten Eisenstücken. Das eine gebogen, das andere nur zugeschnitten. Ja, ja, der Himmel hat sie uns beiden geschickt, denn sie sind es,
die zwei Stücke verrostetes Eisen, die der Bildhauer Alf Lechner, der Stadt Ingolstadt als Leihgabe überlassen hat. Doch
jetzt will er das Material wieder haben, um es in einer anderen Form dem Rost
preiszugeben. Da ging ein Aufschrei durch den Stadtrat. Nein, das ist Kunst in
höchster Vollendung, Rost als künstlerisches Element. Das monumentale Rostwerk
muss erstanden werden. Und wahrlich, kein Stadtrat musste dem Verlustschmerz
erliegen. Ingolstadt hat die zwei (zugegeben großen) Stücke Eisen dem Bildhauer
Alf Lechner abgekauft: für 100.000
Euro. Ich habe meinen vielgeliebten, verrosteten Alten sofort in Fotopose
gebracht und beide abgelichtet, das Werk des großen Künstlers und ihn, meinen
ewiglich treuen Drahtesel.
Und siehe da: Es ist Friede eingekehrt in unser Heim.
Gemeinsam haben wir, meine bessere Hälfte und ich, den Taschenrechner zur Hilfe
genommen und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Stadt Ingolstadt uns
bestimmt für das irgendwann total verrostete Fahrrad mindestens
5000 Euro geben wird. Mein Lebensabschnittsgefährte in mehr als 20 Jahren
wird noch lange leben. Bis er ganz verrostet ist! Dann werden wir ihn der Stadt
als Kunstwerk anbieten, zum Aufstellen im öffentlichen Raum - als Proletarierfortbewegungsmittel in der Autostadt an der Donau. So wird er weiterleben, mein lieber Alter, und wir werden dafür 5000 Euro oder mehr
kassieren. Doch es ist nicht das Geld, nein, nein. Nur sein Drahteselleben im
Schutze des Kunstrostes, das allein ist unser Grund zum Handeln. Und es ist
diese Stadt, und nur sie, die das ermöglichen kann, denn nirgends auf der ganzen Welt
ist das Verständnis, ja die Liebe für Gegenstände und Kunst aus Rost größer als
in Ingolstadt.
Unbeschwerte Tage stehen ins Haus. So schön kann
Familienleben sein.
Anton Potche
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