Montag, 13. April 2015

Eine Lektüre aus dem Antiquariat

George Călinescu: Rätsel um Ottilie, Roman; Buchverlag Der Morgen, Berlin 1963; 622 Seiten (mit Nachwort & Anmerkungen); 12,- DM (DDR).

Enigma Otiliei. So heißt der Roman in seiner Originalsprache Rumänisch. Wenn ich mich gut erinnere, war das Werk in Rumänien sogar Schullektüre. Das war in den Anfangssiebzigern des 20. Jahrhunderts. Also ein dem sozialistische Realismus geschuldetes Werk, könnte man sagen. Wenn man die Umstände kennt. Beim Lesen kommt man aber kaum auf diese Idee. Erst das Nachwort von Dr. Romul Munteanu gibt diesbezüglich Aufschluss. Da heißt es nämlich abschließend: „Als Chefredakteur verschiedener Zeitungen und Zeitschriften, als zutiefst begeisterter Berichterstatter der Errungenschaften des Sozialismus, als Journalist voller Schwung und ständig neuer Gedanken, als Politiker mit einem hohen gesellschaftlichen Bewußtsein hält George Călinescu, der Gelehrte und Schriftsteller – jugendlich, nie müde werdend und von einem Werk zum anderen immer erneuert -, Schritt mit dem stürmischen Rhythmus der Epoche, in der ein immer schöneres und blühenderes Rumänien aufgebaut wird.“ Da lohnt sich natürlich ein Blick auf den Verlag, der Rätsel um Ottilie in deutscher Sprache veröffentlicht hat, zu werfen: Buchverlag Der Morgen, Berlin, 1963. Mit Berlin ist die Hauptstadt gemeint. Also die DDR. Dazu passt dann auch die Logik des Schlusswortes.

Mit all dem hat der Roman aber nichts zu tun. Er wurde 1938 vom damals 39-jährigen George Călinescu fertiggestellt und hat mit dem Ansinnen einer sozialistischen Kulturpolitik, als deren Verfechter der Autor hier geadelt wird, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Sein Engagement als kommunistischer Abgeordneter ab 1946 bis zu seinem Tode im Jahre 1965 war nach 1990 ein viel diskutiertes Thema im rumänischen Feuilleton.

Rätsel um Ottilie ist ein Sitten- und Gesellschaftsgemälde höchster literarischer Güte. Man kann nur staunen, wie es dem Autor gelingt, die Spannung über 613 klein bedruckte Seiten aufrechtzuerhalten, wo doch in dem Roman nichts Sensationelles passiert. Bukarest im Jahre 1910 ist auch wahrlich nicht der Nabel der Welt. Und seine Menschen sind auch nicht anders gepolt als ihresgleichen woanders. Diese kleinbürgerliche Gesellschaft an der Nahtstelle zwischen Orient und Okzident hat ihre spießbürgerlichen Sonderheiten, die sowohl zum unglaublichen Kopfschütteln als auch zum Schmunzeln anregen.

Die Menschen in diesem Roman, etwa ein Dutzend, machen eigentlich nichts anderes, als sich gegenseitig zu belauern. Felix’ Liebe zu Ottilie ist ein einziges, vielköpfiges und an den Nerven zehrendes Misstrauen. Die gesamte Verwandtschaft des geldsüchtigen Kostake Giurgiuveanu, Ottilies Stiefvater, belauert den Alten rund um die Uhr mit der Hoffnung, an sein Vermögen zu kommen. Der Bojar Paskalopol, mit einem Gut im Bărăgan, wo „sich die Linien des Panoramas abrundeten und die Proportionen zwischen den Dingen mangels eines einheitlichen Maßstabes ins Phantastische verschoben“, traut Felix nie so richtig über den Weg, liebt er die viel jüngere Ottilie doch in einem Gemisch von väterlicher Zuneigung und männlichem Verlangen. Selbst Nebenfiguren wie Weißmann, ein Kommilitone des Medizin studierenden Felix, werden belauert – besonders von der dem Status einer alternden Jungfrau entgegenschlitternden Aurika. Dieses den ganzen Roman durchziehende Beäugen führt oft zu komischen Szenen. George Călinecu verfällt aber nicht der Versuchung, sie in billige Witzsequenzen ausarten zu lassen. Sein Humor ist fein; und sein Spott, der selbst vor dem Pope Tzuika, der sein Menschsein auch im Chorstuhl nicht vergisst und die stolabedeckte Aurika tröstet, nicht haltmacht: „Bist du eine Jungfrau, zum Kuckuck, sag mir folgendes: Du hast doch nicht etwa ... häßliches Wort ... gesündigt als heiratsfähiges Mädchen oder als du verlobt warst ... Und wenn du schon gesündigt hast, [...], was ist schon dabei? Gott verzeiht, denn der Mann ist ein Schwein.“

George Călinescu gilt ja vor allem als einer der großen rumänischen Literaturkritiker. Umso bereichernder kann daher seine Epik sein. Wir sprechen von einem Romancier, der alle Facetten einer hochkarätigen Prosa beherrscht.

Im vorliegenden Werk haben wir es mit einem Figuren-Roman zu tun. Und einige dieser Figuren sind unterwegs, sogar bis Paris. Aber auch im heimatlichen Umfeld. Und sie spüren die Natur im unmittelbaren Zuhause wie dazumal gestalten bei Klopstock oder Goethe. „Otillie wartete gar nicht erst die Antwort ab, führte Felix an der Hand in das Klavierzimmer, hob den Deckel, blies einmal über die Klaviatur und begann, Chant sans paroles von Tschaikowski zu spielen und dazu zu pfeifen. Danach sprang sie ans Fenster und blickte in den Hof. Es schneite große Wollflöckchen, deren Niederfallen ein Gefühl der Langsamkeit und Lautlosigkeit mit sich brachte. Die Bäume bogen sich unter der Schneelast, und die Baumaterialien des alten Kostake hatten mit ihrem weißen Pelzüberzug das Aussehen polarer Architektur.“ Ein Bukarester Stimmungsbild anno 1910, literarisch gemalt von George Călinescu (1899 – 1965).

Für einen mit der rumänischen Schrift vertrauten Leser muten die von der Übersetzerin Dr. Ingeborg Seidel gewählte Namensschreibweise etwas gekünstelt an. Mit Kostake ist natürlich Costache gemeint, Ratziu ist Raţiu so wie Aurika Aurica ist. Und der Pope (orthodoxer Priester) Tzuika spricht sogar gerne der Ţuica (dem Schnaps) zu. Ansonsten ist es bestimmt keine Zeitverschwendung auf diesen Roman zurückzugreifen, falls er noch irgendwo auffindbar ist. Ich habe mein Exemplar vor einigen Jahren in einem Bayreuther Antiquariat gefunden.

Bei Amazon war das Buch gestern (12.April 2015) bei sechs Anbietern zu erwerben. Die Preise lagen zwischen 1,99 und 18,93 Euro plus jeweils 3 Euro Versandkosten. Dabei handelt es sich um verschiedene Ausgaben, was heißen will, dass der Roman auch in deutscher Übersetzung mehrere Auflagen erfahren hat.
Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen