Montag, 11. Januar 2016

Auch die Liebe war nicht immer das, was sie heute ist

Maria und Herbert Eisenreich (Hg.): Liebesgeschichten aus Österreich; Diogenes Verlag AG, Zürich, 1978; ISBN 3 257 00970 4; 410 Seiten; 8,10 € plus 2,00 € Versandkosten bei www.buchfreund.de (Stand vom 09.01.2016)

18 Liebesgeschichten von 17 Autoren haben Maria und Herbert Eisenreich (1925 – 1986) in einer Anthologie gesammelt. Es geht los mit Brigitta von Adalbert Stifter (1805 – 1868). Und diese Geschichte spielt nicht in Österreich, sondern in einem Land mit Bächlein, Bächen und Flüssen, Hirten und zottigen Hunden, einsamen „Haidebrunnen […], die mit dem furchtbar hohen Stangenwinkel zum Himmel sehen“, Sackpfeifer, Rosshirten und Rohrdächern. Wo anders könnte das sein als in Ungarn? Die Geschichte selber scheint mühsam konstruiert worden zu sein. Man hat das Gefühl, dass Stifter in der Mitte nicht mehr weiter wusste und wieder von vorne begonnen hat. Wie auch immer: Am Ende wird wieder alles gut.

Auch die zweite Erzählung schildert eine Begebenheit aus Siebenbürgen, also eher vom Rande der Monarchie. Dort gab’s schon damals nicht viel zu holen: „Das Gut der Tante (es hieß Folt, lag an der Grenze des Banats und war viel wert) kriegt die Kleine nicht, das hat die Tante einem Kloster verschrieben, in das sie eintreten will, sobald die Nichte angebracht sein wird.“ Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916) hat mit Der gute Mond eine zwar tragisch ausgehende Dorfgeschichte geschrieben, befleißigte sich dabei aber einer sehr lockeren, ja fröhlich daherkommenden Sprache.

Ferdinand von Saar (1833- 1906) ist mit einer Herzschmerzgeschichte vertreten. Eine Redewendung weiß, dass man sich oft zweimal im Leben trifft. In dieser Erzählung begegnen Der »Exzellenzherr« und seine Angebetete Hermine sich sogar dreimal. Vergebens. Und weil das Reich der Habsburger nun mal so groß war, verwundert es nicht, dass der Exzellenzherr im Laufe seiner politischen Laufbahn auch „mit bereits ziemlich hohem Range in Ungarn verwendet“ wurde. Die Liebe allerdings blieb … unglücklich - wie so oft in Saars Novellen und Erzählungen.

Dass die von den Außengrenzen der Monarchie kommenden Literaten ein wahrer Segen für die österreichische bzw. deutsche Literatur waren, ist längst kein Geheimnis mehr. Auch Karl Emil Franzos (1848 – 1904) gehört zu ihnen. Natürlich kommen in den Werken dieser Autoren ihre jeweiligen Abstammungsgebiete nicht zu kurz. Die Novelle Nach dem höheren Gesetz ermöglicht mit ihrem dramatischen Verlauf einen Einblick in das standesbedingte Leben einer jüdischen Gemeinde in Galizien. Das immerhin glimpfliche Ende einer jüdischen Ehe, die bis zu jener „Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt“, ohne die laut Ludwig Tieck (1773 – 1853) eine gute Novelle nicht auskommt, eine glückliche (im Sinne von Anpassung) war, wirft auch ein Licht auf den schmerzlichen Assimilierungsprozess des Judentums. Das ist auch heute noch große Literatur, gar keine Frage.

Warum Arthur Schnitzler (1862 – 1931) diese Erzählung Die Frau des Weisen genannt hat, wird erst zum Schluss klar. Bis dahin lesen wir eine Wiederbegegnungsgeschichte mit bei Schnitzler nicht untypischen Durchleuchtungen verspielter erotischer Situationen, ohne dass es allerdings zu entscheidenden Schlusshandlungen kommt. Der Ich-Erzähler verschwindet hier, bevor es zu weiteren Komplikationen kommt, weil er mehr über den „Weisen“ weiß, als seine Angehimmelte von anno dazumal.

Die kurze Erzählung Lucidor mit dem Untertitel Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie ist eine klassische Verwechslungsgeschichte, aus der man wirklich eine Komödie schreiben könnte. Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929) hat sie aber so geschrieben, dass sie auch in eine Tragödie hätte münden können. Dass es die Hauptfiguren der Erzählung von einem „Familiengut im russischen Teil Polens“ ins Machtzentrum der Donaumonarchie verschlagen hat, passt zu dem soziologischen Hintergrund aller bisher in diesem Buch veröffentlichten Prosastücke.

Stefan Zweig (1881 – 1942) ist mit einer Sommernovellette vertreten. Man soll ja nicht böswillig sein. Aber Leser sind das nun mal ab und zu. Ich habe mich zum Beispiel ganz böse während dem Lesen gefragt, ob Stefan Zweig nicht vielleicht Hugo von Hofmannsthals Lucidor kannte. Auf jeden Fall wird hier wie dort fleißig geschrieben, Briefe, Zettel, Gedichte etc., und das immer mit gut gemeinter Hinterlist.

Eine Geschichte, die von zu viel Liebe – gibt es das überhaupt? – warnt, hat Franz Nabl (1883 – 1974) verfasst. Der Teufel an der Wand ist nichts anderes als ein gequältes Festhalten an traditionellen Werten, selbst wenn sie einem ein Leben lang die Hölle bescheren.

Wie große Liebe – wie so oft ist es auch in Oskar Jellineks (1886 – 1949) Novelle die verbotene, aber im Verborgenen umso leidenschaftlichere – in ein Drama mündet, erfährt Der Bauernrichter am eigenen Leibe und besonders an seiner vom Ehrgeiz angefressenen Seele. Und wir sind auch in dieser österreichischen Liebesgeschichte weit weg vom Zentrum Wien, irgendwo „auf dieser weiten, fruchtbaren mährischen Erde“. Man liest diese Dorfnovelle in einem Atemzug und wäre zum Schluss froh, sie nicht bis zur letzten Seite gelesen zu haben. Aber das ist nun mal das Schicksal des Partei ergreifenden Lesers.

Kein Wunder, dass die Nazis Autoren wie Hermann Broch (1886 – 1951) nicht mochten. Eine literarisch so fein ziselierte Liebesbeziehung zu einer Kommunistin, zu Barbara, war in den Augen der braunen Literaturbanausen nicht mehr und nicht weniger als ein Verbrechen. Sie konnten den Autor demzufolge auch ins Exil schicken, seiner die deutsche Sprache so sehr bereichernde Schreibweise konnten sie aber nichts anhaben. Sie lebt in Wörtern wie „hohlsausend“, „erntemüde“, „abendfriedlich“, Wahrwerden“, „Seinsvertrauen“ und vielen mehr weiter. Freilich muss man Barbara von Anfang bis Ende, und das bitte hellwach, lesen, um solche Sätze zu verstehen: „Denn dreht es sich einmal um die letzten Erkenntnisse des Ichs und seines Schicksals, dann wird die marionettenhafte Gespenstigkeit, mit der das Abgestorbene in der Eifersucht weiterlebt, vom Humanen her befreit.“ Deutsche Literatur, psychologisch durchdrängt, vom Feinsten.

Eine kurze Liebesgeschichte, nur drei Seiten lang, ist Cave veritatem von Albert Paris Gütersloh (1887 – 1974). Den Titel deutend und den Text lesend, kann man schlussfolgern: Hüte dich vor dem Altenjungfernschicksal. Es reicht aber dann doch, in schlichter Erzählweise dem Zufall eine Chance als Glücksbringer in Sachen Liebe einzuräumen.

Auch Franz Werfel (1890 – 1945) fasst sich kurz in Par l’amour. Aber es geht trotzdem nicht gut aus für den 44-jährigen Bertrand: „Ich habe mich verliebt, habe geheiratet, habe eine Ehe geführt und schließlich einen langwierigen Scheidungsprozess verloren.“ Und das alles im Vorortszug zwischen den Pariser Stationen Le Vesinet und St. Lazare. Junggesellenphantasien eben.

Wir wissen: Joseph Roth (1894 – 1939) ist einer der ganz Großen der österreichischen Literatur, obzwar er nicht alt wurde. Dass er auch sehr böse schreiben konnte, erfahren wir in der Novelle Triumph der Schönheit. Das Gegenteil von Alice Schwarzer, könnte man heute sagen, wenn man solche Sätze liest: „Als eine Art von aufgebesserten Gipsfiguren sinken die einstmals schönen Frauen ins Grab. Die Männer aber, die weise genug waren, nicht an ihnen zu sterben, werden von der Natur belohnt: bekleidet mit der Würde des Silbers und der nicht minderen Würde der Gebrechlichkeit gehen sie in den Schoß Gottes ein.“ Welches ist das Antonym von Feminismus? Maskulinismus, wenn ich mich nicht irre, würde Sam Hawkens sagen.  (Natürlich schreibt manchmal auch der Fusel mit. Und wie!) Und trotzdem lesenswert, sprachlich hochwertig, mit feinem, hintersinnigem Humor, hie und da auch Sarkasmus bestückt.

Morgen fahr’ ich heim ist eine Geschichte, die das Leben fast so schreiben könnte. Denn wahrscheinlich ist nichts spannender und von Individuum zu Individuum unterschiedlicher als die Pubertät. Und trotzdem gibt es da diese Wendung im Handlungsstrang, die man sich, obzwar es sich um einen novellenspezifischen Bausatz handelt, etwas glaubwürdiger gewünscht hätte. Es sei denn, es handelt sich um ein späteres Werk Johannes Urzidils (1896 – 1970). Da ging die Zeit der Prüderie nämlich schon langsam zur Neige und es gab endlich Sex vor den weit (teilweise sogar vor Angst) geöffneten Augen eines kleinen Spanners.  

Wer kennt sie nicht, diese überaus geschwätzigen Menschen, die sich derart in erfundene Geschichten hineinsteigern, dass sie selbst von dem gutmeinendsten Zuhörer nicht mehr ernst genommen werden. Ja nicht einmal von einem Werber, wie Hemito von Doderer (1896 – 1966) das köstlich mit dezentem Witz Im Irrgarten erzählt.

Eine Liebesgeschichte aus der Zeit der Napoleonischen Kriege entpuppt sich in Alexander Lernet-Holenias (1897 – 1976) kurzer Erzählung als eine Intrige, wie sie an herzöglichen Höfen wohl möglich waren, in diesem Fall aber „zugunsten der Menschen [ausging], mit deren Schicksalen – und wäre es sogar das Los der eigenen Tochter – man glaubt, spielen zu dürfen.“

Diese Landstreicher-Geschichte tut echt weh. Das Leben kann so brutal sein. Die Brutalität mit einer so schönen, lyrischen Sprache zu beschreiben, ist aber gute Literatur. Karl Heinrich Waggerl (1897 – 1973) beherrschte sein Handwerk, wenn er auch nicht zu den bekanntesten österreichischen Autoren gehört.

Erich Landgrebe (1908 – 1979) ist der Letzte der in dieser Blumenlese versammelten österreichischen Liebesgeschichtenerzähler. Was er geschrieben hat über Das kleine Fräulein Annemarie, ist auf den ersten Blick verstörend, entwickelt sich aber von Zeile zu Zeile zu einer aus der Einsamkeit geborenen Fantasiegeschichte, die von der Vorstellungskraft des Menschen, hier des Fräuleins Annemarie, erzählt. Es ist spannend zu lesen, wie der Autor verschiedene Zeitebenen übereinanderschiebt, um klar zu machen, dass Liebe auch rein geistiger Natur, ohne jegliche Körperlichkeit sein kann.  

Die in dieser Anthologie versammelten Autoren weilen alle nicht mehr unter den Lebenden. Als sie schrieben, galten noch andere Gesellschaftswerte. Die Liebe war nicht so frei wie heute. Nur das Glück und der Schmerz, den sie verursachte, waren um nichts größer oder kleiner als heute. Und daran werden auch die zukünftigen Wandlungsprozesse in der Gesellschaft – wie immer sie auch aussehen werden – nichts ändern.
Anton Potche


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