Montag, 8. Mai 2017

Vergleiche mit der eigenen Empfindsamkeit

Francisca Ricinski: Als käme noch jemand – Lyrische Prosa und Erzählcollagen; POP-Verlag, Ludwigsburg, 2013; ISBN 978-3-86356-074-4; 168 Seiten; € D [15,50], € A [15,90]

Würde mich jemand fragen, welches Buch ich ihm/ihr für den Urlaub empfehlen würde, wäre dieses Buch nicht dabei. Würde mich aber jemand nach einer zum nachdenken provozierenden Lektüre fragen, so hätte ich Als käme noch jemand im Angebot ..., aber nicht als Preisnachlassartikel gedacht, sondern als Hirnschmalzanreger. Also das ist keine literarische Massenware, was Francisca Ricinski hier für den Leser aufbereitet hat.

Das sind persönliche Empfindungen, die zu Vergleichen mit der eigenen Empfindsamkeit führen können und dadurch Ablehnung oder Befürwortung hervorrufen. So etwa der Umgang mit dem Alter. Wehe, wenn man alt wird! Die Wenigsten bleiben besonnen „jenseits der Runzeln“, und wer schafft es schon, ruhig und gelassen über das Ende des Alters zu philosophieren?

Lyrik ist fast immer schwierig. Erst dann lyrische Prosa. Und gar Erzählcollagen, wie die Autorin sie ankündigt. Da hängen Zusammenhänge nicht mehr zusammen. Sätze fließen, ja, stürzen wie ein Bergbach, der immer neue Klippen zu überwinden hat. Und der Leser, der gutgesinnte, müht sich oft ab wie die Forelle. Der gleichgültige oder gar verärgerte blättert weiter. Und das kann sich durchaus lohnen. Überhaupt wenn man noch nicht jedweder Selbstironie abhold ist und nachvollziehen kann, dass auch ein „zahnloses Nachtgrinsen“ das Begehren – das sexuelle meine ich – nicht ausschließt.

„Geschichten, die sich selbst schreiben“, sind ... ja, man muss es wohl sagen: brutal. Franciska Ricinski klammert sie nicht aus, bei allen poetischen, oft auch ins Surreale führenden Gedankenspielen dieses Buches. Und sie sind von schockierender (aber unvermeidlicher) Körperlichkeit geprägt: „alternde Brüste“, „wie oft du die Einlagen am Tag wechselst“, „Schluckauf- und Furztöne“, „Alzheimer-Kranke“, „deine Zähne [...], wo du sie hinlegst“ u.s.w. Danach spürt man sogar dann noch eine Erleichterung, wenn man auf Texte stößt, aus denen man sich nur mit Mühe etwas zusammenreimen kann.

Die Form dieser lyrischen Prosa und Erzählcollagen ist kurz. Da kommt es dann durchaus vor, dass man auch auf eine Poesie des Altwerdens in einer anrührenden Epik trifft und es bereut, dass Kurzprosa eben kurz ist. Sie hat in diesem Fall Nur eine Taste und zwei Knöpfe und kommt in der Form eines die Kinderfantasie anregenden Radios daher. Meine Gedanken flogen beim Lesen sofort zurück in mein banater Dorf  irgendwann in den 1960er Jahren und an die alte Frau in der Nachbarschaft, die nicht begreifen konnte, dass die Menschen auf dem Fernsehbildschirm nicht auch dort oben auf der Fernsehantenne herumspringen. Schließlich hatte man ihr doch gesagt, dass das Geschehen in diesem Kasten durch die Antenne komme.

So wirkt Literatur. Oder so kann Literatur wirken, auch wenn sie sehr ichbezogen und teilweise sogar experimentell daherkommt. (Ich dachte doch, Texte ohne Interpunktion würden längst der Vergangenheit angehören.) Auf jeden Fall ist man immer neugierig, so „als käme noch jemand“. 79-mal kann man diese Neugierde befriedigen. Dann hat man 165 Seiten (inklusive Nachwort und Kurzkritiken – natürlich nur positive) hinter sich und ist zumindest um die Erkenntnis reicher, dass man mit seinen Altersschrullen und sogar –ängsten nicht alleine dasteht.

Wer diese Art meditativer, fabulierender und philosophierender Literatur mag, ist bei Francisca Ricinskis Kurzprosa gut aufgehoben. Ich bleibe ein Fan der erzählenden Literatur, was dann auch in diesem Buch zu dem Bleistiftvermerk unter der Erzählung Buchstaben wie Ameisen führte: „Und dann kommt sie doch noch, die lineare Geschichte, eine Heimkehrergeschichte.“ So wie ich sie eben liebe.
Anton Potche

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