Montag, 5. Februar 2018

Ein gestörtes Preis-Leistungs-Verhältnis

Nils Marvin Schulz: Untersuchung von Herta Müllers „Niederungen“ – Schreiben in der rumänischen Diktatur und Müllers Auseinandersetzung mit der banatschwäbischen Herkunft; GRIN Verlag; ISBN: 978-3-656-27843-6; 13,99 EUR

Um es gleich vorwegzunehmen: Noch nie  habe ich für so viel Geld so wenig Literatur oder Sekundärliteratur bekommen. Selber schuld, haben mich die Naturwissenschaftler in meiner Familie gehänselt, als sie erfuhren, wie ich ihren Gutschein für Papas Geburtstag verwertet habe. Geärgert habe ich mich natürlich nicht, denn als ehemaliger Musikant weiß ich längst, dass die gegenseitige Wertschätzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern jener (nicht todernst gemeinten) zwischen Bläsern und Streichern nicht unähnlich ist.

Um aber zur Sache zu kommen: Mein Bücherregal ist nicht gerade arm an Sekundärliteratur über Herta Müller. Aber weil ich gerne bei Hugendubel online bestelle und das Buch dann in der Buchhandlung abhole, habe ich mich auf der Homepage des Händlers mal umgesehen und bin auf eine Studienarbeit über die bekannten, bewunderten und gleichermaßen geächteten Niederungen gestoßen. Es könnte doch interessant sein, zu erfahren, wie Studenten heute aus neutraler Sicht über diese Erzählung denken und schreiben. Auch der erläuternde Untertitel weckte meine Neugierde: Schreiben in der rumänischen Diktatur und Müllers Auseinandersetzung mit der banatschwäbischen Herkunft. Das klang nicht nach einer Fokussierung auf eine Erzählung, die nur eine von 16 in einem Band, der ihren Titel trägt, ist – mit 77 Seiten allerdings die längste. (Herta Müller: Niederungen, Rotbuch Verlag, 1988). Also habe ich das Buch mit einigen Klicks bestellt und mich nach der Lieferungs-E-Mail erwartungsfroh auf den Weg in die Ingolstädter Fußgängerzone gemacht. Schließlich kann man ja bei solchen Gelegenheiten ausgiebig, auch bei einem Kaffee, in der Buchhandlung schmökern.

Dann hielt ich das „Buch“ in der Hand. „Buch?“ das hatte ich zwar bestellt, aber ohne auf die Seitenzahl zu achten. Mein für 13,99 Euro gekauftes „Buch“ war ein Paperback-Heftchen mit 19 (neunzehn!) nummerierten Seiten, insgesamt 24. Ich bestellte mir im Hugendubel-Café ein Haferl Kaffee und las ... in der FAZ. Das „Buch“ landete zu Hause auf einem Bücherstapel, befreit von der Plastikhülle und kurz durchgeblättert.

Dann kam eine jener Nächte, in denen ältere Herrschaften aufwachen und nicht mehr einschlafen können. Es war 1:00 Uhr. Ich schloss die Schlafzimmertür leise hinter mir, legte mich auf die Couch im Wohnzimmer und machte mich mit der Studienarbeit des Nils Marvin Schulz vertraut. Um 4:00 Uhr hatte ich die Untersuchung von Herta Müllers >Niederungen< studiert. Als einer, der sich beim Lesen immer Zeit nimmt und schon den ein oder anderen Satz, Abschnitt oder gar Kapitel zweimal oder sogar öfter liest – meist mit Bleistift und sämtlichen Wörterbüchern griffbereit -, war ich echt stolz auf diese Leistung. Noch nie hatte ich ein Buch (auch wenn das hier nur ein Heftchen ist) so schnell ausgelesen. Wohlgemerkt: mit Unterstreichungen und trotz der frühen Morgenstunden auch jetzt noch entzifferbaren Anmerkungen.

Der Inhalt könnte für einen Leser, der von Herta Müller nichts oder nur wenig gehört und gelesen hat, durchaus interessant sein. Für mich war es hingegen spannend zu erfahren, wo sich die Ausführungen des Autors mit meinen eigenen Erfahrungen decken. So zum Beispiel, wenn es auf Seite 12 heißt, in den Niederungen „werden die traditionellen banatschwäbischen Werte ins Groteske entstellt und aus der Perspektive der kindlichen Außenseiterin als anachronistisch und funktionslos entlarvt“.  Bezogen auf die „Perspektive der kindlichen Außenseiterin“ entziffere ich meine nächtliche Schrift am Seitenrand: „auch gültig für Jugendliche mit andersnationalen Liebschaften – lebenslange Traumata“.

Schon auf der nächsten Seite schreibt Nils Marvin Schulz: „Vor den Enteignungen wurde der Vermehrung des eigenen Besitzes größere Priorität eingeräumt, als Liebeshochzeiten oder die Ehe mit anderen Nationalitäten.“ Am Seitenrand erkenne ich wieder meine Handschrift: „starke soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft“. Tja, davon könnte ich nun wirklich ein eigenes Lied singen. (Eine Doina – ein Klagelied). Und solche Lieder gab und gibt es bestimmt auch heute noch zur Genüge.

Um meine eigenen Erfahrungen zu bedienen, hätte ich mir aber die 13,99 Euro sparen können. Dazu kam noch, dass ich diese Hausaufgabe der Vergleichenden Literaturwissenschaft im Fachbereich Germanistik – Komparatistik mit einer Benotung von 1,3 vorfand. Tatort: Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Das wiederum ergab bei mir die Frage: Was habe ich in meinem Leben nur falsch gemacht? Ich erinnere mich vage, dass ich damals beim Bakkalaureat über Marin Predas Moromeții doch auch 10 Seiten mit kleiner Handschrift zusammengebracht hatte. Hätte ich gewusst, dass man mit so wenig Geschriebenem so viel Geld verdienen kann, wie das bei dieser Untersuchung über die Niederungen anscheinend der Fall ist, hätte ich vielleicht nicht knapp drei Jahrzehnte lang in der deutschen Automobilindustrie schwitzen müssen.

Und was sagen meine Naturwissenschaftler in der Familie zu meinen Überlegungen? Sie schauen mich weiterhin belustigt an und meinen grinsend bis an die Ohren: „Ja, ja, die Germanisten.“  
Anton Potche

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