Selbst wenn wir mal Abstand von der Vorstellung nehmen,
welche Reaktionen eine solche Aussage heute im Feuilleton auslösen würde,
müssen wir Schiller ein gesundes
Selbstbewusstsein zugestehen. Ohne das kann man auch heute keine
Literaturzeitung über eine längere Zeitspanne am Leben erhalten. Man muss von
der Literatur und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft überzeugt sein. Und das
ist möglich, ohne dass man sich gleich die selbstherrliche Einstellung des
Sturm-und-Drang-Protagonisten aneignet. Der beste Beweis dafür sind die horen
selbst. Es gibt sie nämlich auch heute noch. 1955 hat der Schriftsteller Kurt Morawietz (1939 – 1994) die
Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik die horen gegründet. Der
Schrift nach urteilend, hat der Gründer an kleinere Schwestern der
schillerschen Horen gedacht. Vielleicht war es eine Verneigung vor dem
Schöpfer des Don Carlos, Wilhelm Tell, der Räuber usw. Die Namen, die man seither aber in den horen
findet, sind auch aller Ehren wert: Bertolt
Brecht, Franz Fühmann, Günter Grass, Peter Härtling u.v.a.
Im Internet-Auftritt der Zeitschrift heißt es: „Zum
Themenspektrum der Zeitschrift gehören nahezu alle Aspekte zeitgenössischer
Literatur. [...] Zum Markenzeichen geworden sind die Auswahlbände zur
fremdsprachigen Literatur, vorwiegend mit deutschen Erstübersetzungen.“
Eins dieser Bände ist im 3. Quartal 2009 erschienen. Es handelt sich um
den Band Nr. 235 mit dem Titel Die
halluzinogene Katze / Träume, Realien – Stimmen & Stimmengewirr aus der
Gegenwart Rumäniens. Zusammengestellt wurde diese Ausgabe der horen
vom Leiter des Berliner Literaturhauses, Ernest
Wichner. Er gibt in der Einführung dieser interessanten Blumenlese zu, dass
„diese Auswahl alles andere als repräsentativ sein kann. Sie liefert eine von
mehreren möglichen Perspektiven auf das, was heute und in den letzten
eineinhalb Jahrzehnten in Rumänien geschrieben wurde und wird.“ Dass die
Qualitätsansprüche dieser Zeitschrift ohne hervorragende Literaturübersetzer
nie und nimmer befriedigt werden können, dürfte jedem Leser einleuchten. Dieser
Band wurde durch die Übersetzerarbeit von Georg
Aescht, Michael Astner, Jan Cornelius und Gerhardt
Csejka erst ermöglicht. Auch Wichner
hat einige Texte aus dem Rumänischen übersetzt.
Und so setzt das literarische Blumenbukett sich zusammen:
Petru Cimpoeşu
(*1952): Ein Schriftsteller aus Bukarest
ist gekommen – Über soviel Aufmerksamkeit, wie diesem Schriftsteller aus
Bukarest zuteil wurde, würde sich so mancher Autor freuen. Besonders wer die
Verhältnisse im kommunistischen Rumänien kannte, wird beim Lesen dauernd affirmativ
schmunzeln.
Ioan T. Morar
(*1956): Lindenfeld – Man kann gegen
die Erinnerung nicht ankämpfen. Aber man kann auf sie hereinfallen, wenn andere
die Phantasie, das Talent und den Mut zur Wiederauferstehung eines böhmischen
Dorfes haben.
Niemand weiß besser wie Ioan
Es. Pop (*1958), dass es zwischen Im-Kreis-Fahren und Gar-nicht-Fahren kaum
einen Unterschied gibt. Năneşti heißt
die Ortschaft, die sich für die Beweisführung in reimlosen Versen regelrecht
anbietet.
Und dann sind sie da, Gedichte, die niemand versteht, aber
ohne die keine Literaturzeitschrift, die etwas auf sich hält, auskommt. Ion Mureşan (*1955 ) hat sie
geschrieben und man kann zumindest annehmen, dass Ernes Wichner ihren Sinn erfasst hat. Sonst wäre aus der
Übersetzung ins Deutsche nichts geworden.
Lucian Dan
Teodorovici (*1975): Unser Zirkus
- Das ist einer jener Texte, bei denen man nicht so richtig weiß, wie man sie
einordnen soll. Man liest eine verrückt anmutende Provinzpostille, die etwas
von der Trostlosigkeit der rumänischen Übergangsgesellschaft, auch
Transformationsgesellschaft genannt, – wie lange noch? – transportiert.
Dan Lungu
(*1969): Infraenergie - Mieter-Vermieter-Verhältnisse
sind nicht immer von gegenseitigen Sympathiebekundungen geprägt. Das kann schon
mal ins Auge gehen. Aber wer am längeren Hebel sitzt, klärt sich auch hier
schnell auf.
Gheorghe Săsărman
(*1941): Die Narbe – Den rumänischen
Schriftstellern scheint der magische Realismus zu liegen. Auch in diesem Text
balanciert der Autor auf dem schmalen Grat zwischen Magie und Realität, wobei
die Pointe erst im Gruseligen ihre wahre Wirkung entfaltet.
Daniel Bănulescu
(*1960): Der dritte Tag: „Nicht lügen”
– Diese in Wohnsilos entstandenen und auch dort spielenden Geschichten haben
sich in der rumänischen Literatur zu einem eigenen Genre entwickelt. Man kommt
schon mal schnell von der Anspielung zur Tat, also ins Bett. Wie heißt das so
schön? Es bleibt doch in der Familie.
Ioana Bradea
(*1975): Freitag abend – In diesem
Fragment kommen alle in Rumänien gängigen euphemistischen Invektive zur
Geltung, was den Übersetzer leicht ins Schwitzen hätte bringen können. Das ist
die reinste Pornosprache á la Roche.
Dass auch ein Ernest Wichner diesem
schwachsinnigen Zeitgeist verfallen ist, wundert mich schon ein wenig. Na ja,
wer auf einen repräsentativen Querschnitt der zeitgenössischen Literatur hinaus
ist, der muss halt auch solche Texte berücksichtigen.
Cezar Paul Bădescu
(*1968): Eine Reise im Morgengrauen –
Oh, was haben wir denn da? Pornohorror. Oder Horrorporno. Egal. Alles dreht
sich um einen abgeschnittenen und wieder angenähten Schwanz. Ein bisschen Sex, ein bisschen Geheimnis
– Tja, so ist das nun mal mit dem Erstenmal und einer großen Pause danach. Wir
lesen ein mit viel gutem Humor verfasstes Bekenntnis. So geht es auch: ohne
eine Spur von Obszönität. Gute Literatur.
Gedichte von Daniel
Bănulescu (*1960) und Caius Dobrescu
(*1966) sorgen für Abwechslung in dem Sinne, dass man sich als Leser
Interpretationen nach eigenem Gusto leisten kann. Wie das bei der
Gegenwartslyrik eben so ist, in allen Sprachen und über alle Kontinente hinweg.
Experimentieren, experimentieren, experimentieren.
Mircea Cărtărescu
(*1956): Jenseits von Raum, Zeit und
Erinnerung – Der rumänische Literaturstar schlechthin. Im deutschen
Feuilleton. Nicht gleichzusetzen mit Deutschland, kümmern sich doch
schätzungsweise nur fünf Prozent der Deutschen um Kultur. Wie viele davon sich für
Literatur interessieren – als solche vom Feuilleton anerkannte –, ist
statistisch nicht erfasst. Also darf man annehmen, dass stark autobiografisch
geprägte und reichlich mit Fantasie angereicherte Texte - wie der hier
veröffentlichte und Jenseits von Raum, Zeit
und Erinnerung stehende - nicht in besonders vielen deutschen Bücherregalen
überleben werden. Auch da gilt: Wer als Rumäniendeutscher mal über die Grenzen
seines Dorfes hinausgeschaut hat, kann mit dieser Literatur dann doch etwas
anfangen.
Es folgen Gedichte von Claudiu
Komartin (*1983) und Teodor Dună
(*1981). Reflexionen und besonders letzterem kann man eine gewisse
Todessehnsucht nicht absprechen.
Somona Popescu
(*1965): Häutungen – Dieser Text ist
wohl das Intimste, was man mit Sprache aus sich herausholen kann. Ich fand es
(angenehm) merkwürdig, dass man einen so ichbezogenen Text dermaßen leicht
lesen kann.
Cristian Popescu
(*1959): Über Vater und uns – Das ist
eine skurrile Familiengeschichte. Die Sinne spielen verrückt, werden dauernd
vermischt und ausgetauscht, so dass ein spürbarer Synästhesieeffekt entsteht.
Radu Vancu (*1978)
und Mariana Marin (1956 - 2003)
schreiben / schrieben epische Gedichte. In Vancus
„Versen” klingen sozialkritische Töne mit, während in der Poesie Marins die in der Dichtkunst so oft
angetroffene Selbstreflexion dominiert.
Simona Popescu
(*1965): Sie glauben nicht daran, dass es
(auch) eine poetische Realität gibt – Man könnte hier von einem Traktat, in
Prosa und Versen, über die Poesie sprechen. Mugur Grosu (*1973) präsentiert in ich erinnere mich an die Kollateralfrau schwer verdauliche
literarische Kost. Was man heutzutage so alles Literatur nennt...
Iulian Tănase
(*1973): Abgrunde – Der Autor bemüht
sich, den Schlaf als den Idealzustand unseres Seins darzustellen. Nur in ihm
können wir Träume haben, die „unsere Persönlichkeit und Identität prägen“ und
„uns tatsächlich zu realen Wesen machen“.
Dan Sociu (*1978)
schreibt Liebeslyrik. Besonders wer seine glücklosen Liebesjahre noch nicht
vergessen hat – es sei denn, er hat seine Jugendliebe geehelicht -, weiß wovon
dieser Dichter schreibt.
Natürlich kann man sich anhand von drei Gedichten keine
Meinung von einem Dichter bilden. Aber auf den ersten Blick scheint T. S. Khasis (*1975) ein Meister der
Belanglosigkeit zu sein.
Nora Iuga
(*1931): Der kleine Dichter ist tot –
Dieser Nachruf auf Bobiţă stimmt nur eins: traurig. Constantin Virgil Bănescu ist 2009 im Alter von nur 27 Jahren
gestorben. In dieser horen-Ausgabe kann man 22 seiner
Gedichte lesen. Und wie das in der Lyrik so ist, feiert auch hier die Eigenart
fröhliche Urstände. Was um Himmels Willen bedeutet „schagrat” oder „kartari”
oder „swapua”?
Der Band bietet auch etwas fürs Auge. Man kann Zeichnungen
von Tudor Jebeleanu (*1949) und
Vignetten von Dan Perjovschi (*1961)
bestaunen oder bewundern.
Nicht ins Konzept dieses Heftes passt eine von Gerald Sammet (*1949) geschriebene
Einführung zu einer Ausstellung von Peter
K. Kirchhof (*1944) in Bremerhaven.
Ansonsten, nur Gutes zu dieser rumänischen Anthologie in der
Zeitschrift die horen.
Anton Potche
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