Horst Samson: Heimat als Versuchung – Das nackte Leben; Pop-Verlag Ludwigsburg, 2018; ISBN 978-3-86356-196-3; 24,50 € [D], 25,20 € [A].
Lesebücher
hatte ich schon immer gerne, sie leben von ihrer Diversität. Das
vorliegende Buch ist ein Literarisches Lesebuch
mit Gedichte[n], Prosa, Literaturkritiken
[und] Interviews,
wie es im Untertitel heißt.
Und es ist nicht gerade
schmalbrüstig mit seinen 484 Seiten. Dazu darf man sich schon gleich
am Titel abarbeiten. Heimat als Versuchung.
Fragezeichen. Hat Versuchung nicht etwas mit Sucht zu tun? Etwas, dem
man erliegt, gegen das man nicht aufbegehren kann? Und Das
nackte Leben. Fragezeichen.
Ist es gewollt so unverhüllt? Hat das nicht gar etwas mit
Exhibitionismus zu tun? Ob dieses Buch eine Antwort oder mehrere
Antworten auf diese (Leser)Fragen gibt? Ja, hat der Autor sich diese
Fragen überhaupt selbst gestellt? Oder hat er etwas ganz anderes mit
diesem Buch im Sinn?
Und
Dichter, besonders Dichter, sind nun mal Exhibitionisten. Sie kehren
gerne ihr Inneres nach Außen. Ob der Leser dann mit dem, was durch
die Sprache zum Vorschein kommt, überhaupt etwas anfangen kann,
hängt von mehreren Faktoren ab: der inhaltlichen Lebensnähe, der
Verständlichkeit, aber auch vom (manchmal guten) Willen des Lesers.
Horst
Samson (*1954) ist ein
Dichter, der diese Kriterien erfüllt und dem man nach der Lektüre
dieses Buches je mehr („nur“ geht nie) verständnisvolle Leser
wünscht. Diese wiederum
dürften mit der Hauptthematik der samsonschen Lyrik kein Problem
haben – besonders wenn sie den südosteuropäischen Landstrich, aus
dem der Autor stammt, kennen. Aber auch Leser, denen sowohl er als
auch seine Biografie fremd sind, dürften mit dieser Dichtkunst keine
Probleme haben. Das gilt ganz besonders für die hier
veröffentlichten Verse – nur ein kleiner Teil seines lyrischen
Œvres.
Der
Leser hat es mit diesen Gedichten insofern leicht, als viele
Rezensionen und literaturkritische Abhandlungen ihm einen
Führungsstab an die Hand geben. Über die Heimat als
Versuchung zu schreiben, heißt eigentlich, auch Rezensionen
zu rezensieren, nicht nur Gedichte. Doch das soll hier unterbleiben.
Nur so viel: Wenn ich mich nicht verzählt habe, gibt es in diesem
Buch 28 solcher Texte, also Gelegenheit genug, die Lyrik Horst
Samsons kennenzulernen. Luzian Geier zieht anhand einer
lyrischen Standortbestimmung Horst Samsons in Temeswar und
Frankfurt/Main ein „vorläufiges Fazit“: „Der Autor Horst
Samson ist hierzulande gut an– und aufgenommen worden,
unbeantwortet bleibt die Frage, ob er auch (ganz) angekommen ist!?“
Ich
würde sagen, nein. Samson ist zwar ein bekennender Dichter,
aber er kann auch Prosa. Und wie! Seine Essays (und Interviews) sind
zum Teil sprachlich fein ziseliert, kommen andererseits aber sogar
unterschwellig grobschlächtig und wenige Male sogar als
Direktangriffe daher, wenn es zum Beispiel heißt: „Unsere liebe
Freundin Herta selbst ist aber exklusiv und voll selbstbezogen. Seit
ihrer Nobelierung ist das noch ein Stück weit ausgeprägter. Sie
kümmert sich um ihren verdienten Ruhm, dann noch um Chinesen,
gekochte Eier und fiktive Bahnhöfe, schwärmt für ihre toten
Freunde, tut aber rein gar nichts für die Bücher ihrer noch
lebenden Komplizen. […] Sie tritt nur mit ihrem Kammerdiener, dem
Literaturfälscher Ernest Wichner, auf.“
Tja,
so klingt es, wenn Literaten Leichen aus dem Keller holen. Da liegen
noch einige. Man kann so etwas auch Literaturbetrieb nennen.
Spannend. Auch dafür lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Es enthält
nämlich neben dem bereits Geschilderten auch reichlich
Schwarz-Weiß-Fotos und ausführliche bio- bibliografische Angaben zu
den Autoren, aus denen man sogar erfährt, dass aus einem
Zerspanungsmechaniker ein Germanist werden kann – und das, ohne
seinen Hosenboden jemals auf einer Universitätsbank gewetzt zu
haben. Auch das kann „nur“ Literatur. Da fallen mir Namen ein wie
Werner Bräunig, Knut Hamsun, Wolfgang Hilbig,
Erwin Strittmatter oder der berühmteste dieser
Arbeiter-Schreiber-Spezies, John Steinbeck. So einer ist (rein
biografisch gedacht) meines Wissens auch dieser in Horst Samsons
Buch gerutschte Mark Jahr.
So
liegt mit dieser Blumenlese ein Jahrmarkt der Ideen, Gefühle,
Ansichten, Einsichten, Erkenntnissen und weiterhin auch vieler
offener Fragen, wie Marcel Reich-Ranitzki sagen würde,
auf dem Tisch. Ein gewaltiger Schinken Literatur, den es sich lohnt,
genießend zu verzehren.
Anton
Potche