Die Deutschen haben größtenteils diesen Landstrich um Temeswar verlassen. Sie haben auch ihre Literaten und natürlich Leser mitgenommen, was auch für die anderen rumänischen Landesteile gilt. Da wäre es vielleicht anlässlich dieses Geburtstages interessant, mal nachzusehen, was vom deutschen Element so alles in dieser rumänischen Literaturzeitschrift übriggeblieben ist. Ich denke dabei an einfache Erwähnungen bis zu ausführlichen Rezensionen, falls vorhanden. Und weil 50 Jahrgänge zu durchforsten, ja doch eine mühselige Geschichte ist, habe ich mir mal die Hefte des vergangenen Jahres vorgenommen. (In PDF-Dateien im Internet abrufbar.)
Die Januarausgabe 2021 wird gleich mit einem ausführlichen Essay des Literaturkritikers Cornel Ungureanu über Dieter Schlesak und seine Heimkehren (Dieter Schlesak și întoarcerile sale acasă) eingeleitet. Der Literaturkritiker legt den Schwerpunkt in seinem Text auf Schlesaks Roman
Auf Seite 22 wird ein zweisprachiger Gedichtband (deutsch – rumänisch) des im diplomatischen Dienst stehenden Emil Hurezeanu von Alexandru Ruja besprochen. Das Buch Zärtlichkeit, Routine – Tandrețe, rutină ist im POP-Verlag erschienen. Die Gedichte eines Knauserers 1979 – 2019, so der Untertitel, wurden vom Literaturkritiker, Journalisten und Übersetzer Georg Aescht ins Deutsche nachgedichtet. A. Ruja meint, Hurezeanus „Poeme sind vorsichtig bearbeitet, präsentiert in einer ausdruckstarken Eleganz, die direkte Wahrnehmung mit der Erinnerung kombinierend.“
April 2021. Auch diese Nummer hat eine Fragerunde: „Mit wem würden Sie ein Buch vierhändig schreiben?“ Eine schöne Allusion auf das Klavierspiel. Der auch deutsch schreibende Dichter, Dramaturg, Übersetzer und Intendant Lucian M. Vărșăndan kann sich das nicht vorstellen: „Wie kannst du jemand Teil deiner Sensibilität sein lassen, die in dem Vers, den du schreibst, Ausdruck finden will?“ Vielleicht sollte man hier erwähnen, wem diese Frage eingefallen ist: Robert Șerban. Ich finde sie interessant.
Mai 2021. In der Maiausgabe von ORIZONT wollte Robert Șerban wissen, mit wem die Befragten „sich nicht einmal im Paradies treffen wollten“. Unter den Antwortgebern war auch Traian Pop Traian, Gründer des in Ludwigsburg beheimateten POP-Verlags. Dem Literaten und Literaturmanager fielen da einige ein. Und er beginnt mit dem 1,50 m großen Feldwebel der rumänischen Armee, fährt chronologisch fort mit seinem Lyzeumslehrer des wissenschaftlichen Sozialismus, einem nicht näher benannten Individuum, das ein Musikabspielband mit Aufnahmen von Ilie Stepan vernichtet hat, dann mit den „Patriotischen Garden“ und noch vielen anderen. Aber schlussendlich will er aus gleich einer ganzen Reihe von Gründen sich selber nicht, nein, überhaupt nicht, begegnen. Nicht einmal im Paradies.
Viorel Marineasa erinnert sich im gleichen Heft an das Jahr 1968 in Rumänien. Dabei zitiert er auch den „vom Franzosen zum Deutschen und obendrauf auch noch Europarlamentarier“ gewordenen Daniel Cohn-Bendit: „Das immer wieder aufkeimende Gespräch über 1968 führt zu nichts. ’68 hat die Welt verändert, ob es euch passt oder nicht.“ Also wenn man Marineasas Text liest, kann man sein Augenzwinkern gar nicht übersehen. Schlimmer wurde es in Rumänien allerdings erst ein paar Jahre später.
Die in Bukarest geborene Historikerin Mariana Hausleitner hat 2020 im Lukas Verlag die Studie Eine Atmosphäre von Hoffnung und Zuversicht. Hilfe für verfolgte Juden in Rumänien, Transnistrien und Nordsiebenbürgen 1941 – 1944 veröffentlicht. Mihai Panu hat das Buch gelesen und ist sehr angetan von seinem Inhalt. Das Buch „stellt einen legitimiert wissenschaftlich kalibrierten Diskurs mit einer weiten Reichweite dar.“ Damit will der Rezensent sagen, dass es sowohl inhaltlich als auch sprachlich so verfasst ist, dass auch der Normalbürger ohne akademisches Spezialwissen etwas davon hat. Das narative Konzept ruht auf Biografien von Personen, die versucht haben, dem Genozid entgegenzuwirken: Elisabeta Nicopoi, Viorica Agarici, Ion D. Popescu, Fritz Schellhorn, Traian Popovici, Siegfried Jägendorf.
August 2021. Wie kommt man nach Teremia? Zu deutsch: Marienfeld. Andrei Ujică weiß es. Und erzählt es. „Kurze Zeit nachdem er am 23. April 1962 die Vollstreckung der Kollektivierung in der Rumänischen Volksrepublik verkündet hat, erließ Gheorghe Gheorghiu-Dej ein Dekret, laut dem jeder Kollektivwirtschaft ein Agronomingenieur zugeteilt wurde.“ Andrei Ujicăs Vater war Agronomingenieur. Was folgt ist so geschrieben, dass es sich schon für diesen Text lohnt, diese ORIZONT-Nummer zu lesen.
Zweisprachigkeit war im Banat des 20, Jahrhunderts schon fast Normalität. In dieser ORIZONT-Nummer werden zwei bilinque Dichter vorgestellt. Beide sind in den 1970er Jahren geboren und sprechen und schreiben rumänisch und serbisch. Marian Odangiu ist sehr angetan von diesen Poeten. Sein Aufsatz nimmt stellenweise schwärmerische Züge an. Borco Ilin (*1975, Temeswar) zitiert er aus einem Interviu so: „Ich habe mich wie jemand entwickelt, der vier Hände hat, - ohne sich dessen bewusst zu sein - in zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Musiken, zwei Historien, zwei Literaturen.“ Von dessen Landsmann Goran Mrakić (*1979, Warjasch) ist der Rezensent genauso überzeugt. Wir haben es anscheinend mit einem dem Realismus zugetanen Lyriker zu tun ... und lernen dabei, dass beim Schürfen in Banater Dichterköpfen die eine oder andere banatschwäbische Erinnerung sich immer noch einen Weg an die Öffentlichkeit bahnt. So auch im zitierten Gedicht Străzile șvăbești – Die schwäbischen Straßen: „Ich ging 1989 in Temeswar zur Schule. / Als ich 1993 zurückkehrte, / War Warjasch nicht mehr dasselbe. / Alle Deutschen waren weggegangen. / Die Situation war so sonderbar, / dass ich nicht zu mir kam. / Die Menschen, die ich täglich sah, / waren schlicht und einfach nicht mehr. / […] / Auch wir werden bleiben / mit einigen gezackten Fotos / und mit dem Wind, / der durch die Friedhofsfichten weht.“ (aus dem Rumänischen von A. P.). Marian Odangiu spricht von einem „Heimatraum wie in Stefan Jägers Gemälden, aber mit den vernichtenden Rhythmen unserer Gegenwart.“
September 2021. De ce nu-s românii ca nemții? – Warum sind die Rumänen nicht wie die Deutschen? heißt ein 2019 im Verlag Paralela 45 erschienenes Buch. Die Autoren: Jan Cornelius & Adina Popescu. Besprochen wird das Buch mit 203 Seiten von Dan C. Mihăilescu. Er gesteht gleich zu Beginn seiner Rezension, dass er in der Buchhandlung nur wegen Adina Popescu nach dem Buch gegriffen habe. Was aber nicht heißen soll, dass er Jan Cornelius, den er für einen „Vertrauten der großen Buchmessen“, aber auch für einen „rührigen Übersetzer aus dem Rumänischen“ hält. Beide sind in rumänischen Literaturkreisen bekannt durch ihre „Vitalität, Offenheit, gutmütige Ironie, Zärtlichkeit, jovialen Realismus, Scharfsinnigkeit und schelmische Klugheit.“ Der Rezensent spricht von „epistelhaften Essays“, die ihm gefallen. Die von den zwei Literaten benutzte Briefform (Epistel) ist anscheinend die richtige für dieses Thema.
Viorel Marineasa erzählt der interessierten Leserschaft: „Ich habe ein Viertel meines Lebens in Sitzungen verbracht“. Expliziter heißt das in „Diskussionen, Zusammenkünften, Vollversammlungen, Treffen, Konferenzen, Besprechungen, Darlegungen, Lancierungen, Vernissagen, Gesprächen, Instruktionen“. Marineasa greift auf Notizblöcke aus den Jahren 1981, ’82, ’83 und ’84 zurück und findet dabei eine Liste mit Namen, die in Sitzungen einer literarischen Zusammenkunft (cenaclu) in Crivaia zu Wort kommen sollten. Man schrieb das Jahr 1983 und die Liste enthält folgende Namen: Lyrik – Richard Wagner, Ion Monoran, Ioan Morar, Valentin Constantin, Eugen Bunaru, Dan Alexe, Traian Pop Traian; Prosa – Gheorghe Ene, Herta Müller, Viorel Boldureanu. „Wir taten halt, was wir konnten“, erinnert Marineasa sich in seinem Artikel. Ob dieser „cenaclu“ überhaupt zustande kam oder nicht, wird nicht mehr berichtet.
Oktober 2021. Wie kann eine Rubrik in einer Literaturzeitschrift, genauer in ORIZONT, entstehen. Zum Beispiel so: In Karlsruhe wird im Theater Sandkorn das Einmannstück Seara dinainte (Vorabend) gespielt. Drei Personen sind beteiligt: Cătălin Dorian Florescu – Autor, Victor Cârcu – Regisseur und Walter Roth – Darsteller. Und da sitzt eine Frau im Publikum, die nach dem Stück meint, es sollte jemand über diese Aufführung berichten. Irgendwo. Der Autor des Stückes frägt dazu rethorisch: „Warum schreibst du nicht?“ Diese Frage muss etwas in der Frau ausgelöst haben. Sie schreibt wirklich über das Erlebte und schickt es zu ORIZONT nach Temeswar. Der Redaktion gefällt es und aus dem Erscheinungsplatz wird eine Kolumne mit dem Titel Cronică Sentimentală (Sentimentale Kronik) – „mal öffentlich, mal für mich“. Und die hat bis heute, 15 Jahre später, Bestand. Ihre Autorin: Adriana Cârcu. Glückwunsch!
November 2021. Der Oktober ist der Nobel-Monat. So war es auch 2021. Literaturinteressierte warten auf den Tag der großen Verkündigung, sitzen gespannt vor dem Radio, Fernseher, Handy, Tablet, Computer oder einem anderen Nachrichtengerät. Auch Radu Pavel Gheo. Natürlich hat er gehofft, dass Mircea Cărtărescu der Preisträger sein wird. Es war dann aber Abdulrayak Gurnah aus Sansibar. Und mit wem tröstete sich R. P. Gheo? (Seine Frau Alina fieberte auch mit.) Ist doch nicht schwer: mit Herta Müller. Die Begründung ist ganz einfach. Auf einer langen Liste mit den Ländern, aus denen Nobelpreisträger kommen, findet man auch Rumänien mit Herta Müller und Bulgarien mit Elias Canetti. Um sein Herz noch mehr zu erleichtern könnte der rumänische Autor noch Elie Wiesel ins Blickfeld nehmen. Eigentlich hat der seinen Friedensnobelpreis 1986 mit literarischen Werken verdient.