Ileana Vulpescu: De-amor,
de-amar, de-inimă albastră - roman; Editura
Tempus, 2005; ISBN 973-85140-6-1; 407 pagini, 25,-- lei.
Ein rumänischer
Roman in der 1.
Person. Die in Ich-Form geschriebenen Romane verleiten
natürlich schnell zur Annahme, dass hier viel Autobiografisches in
die Handlung eingeflossen ist, ja es sich sogar um eine camouflierte
Autobiografie handeln könnte. So erging es mir auch mit diesem Buch
von Ileana Vulpescu, mit dem umständlichen und schwer zu
übersetzenden Titel Von Liebe, von Leid, von blauem Herz.
Andere dem Deutschen mächtige Leser dieses Romans finden
wahrscheinlich schnell einen anderen Titel. Mich hat das Buch nach
den ersten zehn Seiten dazu veranlasst, zu schauen, wer diese
rumänische Schriftstellerin überhaupt ist.
Ileana Vulpescu (1932 –
2021) war eine in Sachen Sprachen vielseitig gebildete
Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie hat an der Philologiefakultät
der Universität Bukarest französische Literatur studiert und am
Linguistik-Institut der Rumänischen Akademie an zwei Standardwerken
der rumänischen Sprache gearbeitet: Dicționarul
limbii române (Wörterbuch
der rumänischen Sprache) und Dicționarul
explicativ al limbii române
(Erklärendes Wörterbuch der rumänischen Sprache).
Ich benutze besonders das zweite Sprachlexikon noch heute sehr gerne
– online natürlich.
Ileana Vulpescu hat Prosa und
Theater geschrieben. Ihr Sprachtalent hat sie in Übersetzungen aus
dem Englischen, Französischen und Spanischen ins Rumänische zur
Geltung gebracht. Obwohl sie als Literatin ziemlich spät gestartet
ist (1966), hat sie ein ansehnliches Œvre
hinterlassen: 15 Prosabände (meistens Romane), 26 Übersetzungen,
sechs Theaterstücke (Die Kunst der Konversation –
mit über 1000 Aufführungen) und viele andere Beiträge in
Zeitschriften und Anthologien.
Alles klar nach 10 Seiten: Dieser
Roman ist ein Roman und keine schön geschriebene Vita. Und er liest
sich auch fließend, obwohl die Sprache ziemlich archaisch
daherkommt, so als wären die Sätze in der Zwischenkriegszeit
entstanden und nicht erst kurz nach der Jahrtausendwende.
„E timpul timp și
este și un timp al fiecăruia. Ultimul are și început și
sfârșit.” („Die Zeit ist Zeit und ist auch die Zeit
jedes Einzelnen. Letztere hat auch Anfang und Ende.“) Wie wahr! Die von Seite zu Seite sympathischer werdende Hauptfigur dieses
Romans stellt sich so vor: „În actul de naștere
mă numesc Boboc Argentina. În cel de botez
– Adelina.” („Im
Geburtsschein heiße ich Boboc Argentina. Im Taufschein –
Adelina.“) Das war im Jahr 1932 in einem oltenischen Dorf. Sein
Name: Brăteasa. Und seine Einwohner teilweise
noch Analphabeten.
Was
folgt, ist die Lebensgeschichte einer Frau mit viel Liebe, aber
keiner festen Bindung, mit immer wiederkehrenden Gemütsschwankungen
ob der eigenen Unfruchtbarkeit, mit einer Berufslaufbahn in der
Medizin, und mit vielen Verwandten, die sie durchs Leben begleiten.
Das heißt, auch durch den Kommunismus und die ihm folgende
Transformation der rumänischen Gesellschaft.
Ich habe mich
regelrecht in dieses harmlose, ja, triviale Geschehen hineingelesen,
vertieft. Auch weil ich so vielen Wortarten begegnete, die mich
zurück in meine Jugendzeit führten. Als ich zum Beispiel
las: „Ochii care nu se
văd se uită.”
Was heißt hier ... vergessen? Plötzlich war alles wieder da. Wie
gerne würde ich wissen …
Ich habe das Buch dann weggelegt und
erst nach einem Monat wieder hervorgenommen, um es bis zum letzten
Satz zu lesen, der dort lautet: „Mă uit pe
fereastră la frunzele pe care toamna le eliberează din copaci și
la stolul de vrăbii din teiul rotat, în
rînd cu balconul. Ele în ce ‘Anotimp’
s-or afla? Timpul lor oare cînd o fi? Poate mereu, poate niciodată.”
(„Ich betrachte durchs Fenster die Blätter, die der Herbst aus
den Bäumen befreit, und die Sperlingschar aus der mit dem Balkon
aufgereihten Linde. In welcher 'Jahreszeit' werden sie sich wohl
befinden? Wann wird ihre Zeit sein? Vielleicht immer, vielleicht
nie.“)
Ein in Rumänien bekannter
Psychologe, Buchhändler und Blogger, Sever Gulea, beendete
eine im Jahre 2017 verfasste Rezension zu diesem Buch mit folgendem
Fazit: „Și acest volum [...]
oferă o experiență de lectură aparte pentru cititorul
contemporan: un popas într-o lume a scriiturii frumoase, care
reușește să te echilibreze, pe alocuri poate sentimentală, ușor
etnocentristă, dar cu siguranță rodul unui talent capabil să
recreeze o atmosferă și să amprenteze caractere durabile și
povești de viață ce pot atinge, prin sensibilitate și adâncime
psihologică, cititorii oricărei generații.“
(https://blog.libris.ro/2017/09/20/de-amor-de-amar-de-inima-albastra-ileana-vulpescu-recenzie/)
(„Auch dieses Buch [...] gewährt dem zeitgenössischen Leser
eine außergewöhnliche Erfahrung: Eine Rast in der Welt der schönen
Schrift, die dich ausgleichen kann, teilweise vielleicht sentimental,
leicht ethnozentrisch, aber sicher die Ernte eines Talents ist, fähig,
eine Atmosphäre wiedererstehen zu lassen und bleibende Charaktere zu prägen wie
auch Lebensgeschichten, die durch Sensibilität und Tiefenpsychologie
die Leser jedweder Generation berühren können.“) Wo
er Recht hat, hat er Recht.
Anton Potche
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