Montag, 16. Juni 2025

Was heißt hier ... vergessen?


Ileana Vulpescu: De-amor, de-amar, de-inimă albastră - roman; Editura Tempus, 2005; ISBN 973-85140-6-1; 407 pagini, 25,-- lei.

Ein rumänischer Roman in der 1. Person. Die in Ich-Form geschriebenen Romane verleiten natürlich schnell zur Annahme, dass hier viel Autobiografisches in die Handlung eingeflossen ist, ja es sich sogar um eine camouflierte Autobiografie handeln könnte. So erging es mir auch mit diesem Buch von Ileana Vulpescu, mit dem umständlichen und schwer zu übersetzenden Titel Von Liebe, von Leid, von blauem Herz. Andere dem Deutschen mächtige Leser dieses Romans finden wahrscheinlich schnell einen anderen Titel. Mich hat das Buch nach den ersten zehn Seiten dazu veranlasst, zu schauen, wer diese rumänische Schriftstellerin überhaupt ist.

Ileana Vulpescu (1932 – 2021) war eine in Sachen Sprachen vielseitig gebildete Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie hat an der Philologiefakultät der Universität Bukarest französische Literatur studiert und am Linguistik-Institut der Rumänischen Akademie an zwei Standardwerken der rumänischen Sprache gearbeitet: Dicționarul limbii române (Wörterbuch der rumänischen Sprache) und Dicționarul explicativ al limbii române (Erklärendes Wörterbuch der rumänischen Sprache). Ich benutze besonders das zweite Sprachlexikon noch heute sehr gerne – online natürlich.

Ileana Vulpescu hat Prosa und Theater geschrieben. Ihr Sprachtalent hat sie in Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen und Spanischen ins Rumänische zur Geltung gebracht. Obwohl sie als Literatin ziemlich spät gestartet ist (1966), hat sie ein ansehnliches Œvre hinterlassen: 15 Prosabände (meistens Romane), 26 Übersetzungen, sechs Theaterstücke (Die Kunst der Konversation – mit über 1000 Aufführungen) und viele andere Beiträge in Zeitschriften und Anthologien.

Alles klar nach 10 Seiten: Dieser Roman ist ein Roman und keine schön geschriebene Vita. Und er liest sich auch fließend, obwohl die Sprache ziemlich archaisch daherkommt, so als wären die Sätze in der Zwischenkriegszeit entstanden und nicht erst kurz nach der Jahrtausendwende.

„E timpul timp și este și un timp al fiecăruia. Ultimul are și început și sfârșit.” („Die Zeit ist Zeit und ist auch die Zeit jedes Einzelnen. Letztere hat auch Anfang und Ende.“) Wie wahr! Die von Seite zu Seite sympathischer werdende Hauptfigur dieses Romans stellt sich so vor: „În actul de naștere mă numesc Boboc Argentina. În cel de botez – Adelina.” („Im Geburtsschein heiße ich Boboc Argentina. Im Taufschein – Adelina.“) Das war im Jahr 1932 in einem oltenischen Dorf. Sein Name: Brăteasa. Und seine Einwohner teilweise noch Analphabeten. 

Was folgt, ist die Lebensgeschichte einer Frau mit viel Liebe, aber keiner festen Bindung, mit immer wiederkehrenden Gemütsschwankungen ob der eigenen Unfruchtbarkeit, mit einer Berufslaufbahn in der Medizin, und mit vielen Verwandten, die sie durchs Leben begleiten. Das heißt, auch durch den Kommunismus und die ihm folgende Transformation der rumänischen Gesellschaft.

Ich habe mich regelrecht in dieses harmlose, ja, triviale Geschehen hineingelesen, vertieft. Auch weil ich so vielen Wortarten begegnete, die mich zurück in meine Jugendzeit führten. Als ich zum Beispiel las: „Ochii care nu se văd se uită. Was heißt hier ... vergessen? Plötzlich war alles wieder da. Wie gerne würde ich wissen …

Ich habe das Buch dann weggelegt und erst nach einem Monat wieder hervorgenommen, um es bis zum letzten Satz zu lesen, der dort lautet: „Mă uit pe fereastră la frunzele pe care toamna le eliberează din copaci și la stolul de vrăbii din teiul rotat, în rînd cu balconul. Ele în ce ‘Anotimp’ s-or afla? Timpul lor oare cînd o fi? Poate mereu, poate niciodată.” („Ich betrachte durchs Fenster die Blätter, die der Herbst aus den Bäumen befreit, und die Sperlingschar aus der mit dem Balkon aufgereihten Linde. In welcher 'Jahreszeit' werden sie sich wohl befinden? Wann wird ihre Zeit sein? Vielleicht immer, vielleicht nie.“)

Ein in Rumänien bekannter Psychologe, Buchhändler und Blogger, Sever Gulea, beendete eine im Jahre 2017 verfasste Rezension zu diesem Buch mit folgendem Fazit: „Și acest volum [...] oferă o experiență de lectură aparte pentru cititorul contemporan: un popas într-o lume a scriiturii frumoase, care reușește să te echilibreze, pe alocuri poate sentimentală, ușor etnocentristă, dar cu siguranță rodul unui talent capabil să recreeze o atmosferă și să amprenteze caractere durabile și povești de viață ce pot atinge, prin sensibilitate și adâncime psihologică, cititorii oricărei generații.“ (https://blog.libris.ro/2017/09/20/de-amor-de-amar-de-inima-albastra-ileana-vulpescu-recenzie/) („Auch dieses Buch [...] gewährt dem zeitgenössischen Leser eine außergewöhnliche Erfahrung: Eine Rast in der Welt der schönen Schrift, die dich ausgleichen kann, teilweise vielleicht sentimental, leicht ethnozentrisch, aber sicher die Ernte eines Talents ist, fähig, eine Atmosphäre wiedererstehen zu lassen und bleibende Charaktere zu prägen wie auch Lebensgeschichten, die durch Sensibilität und Tiefenpsychologie die Leser jedweder Generation berühren können.“) Wo er Recht hat, hat er Recht.

Anton Potche

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