Dienstag, 29. Januar 2013

Lese- und Kaffehauskultur in Ingolstadt


Das klingt vielleicht überspitzt, einige mögen es gar übertrieben finden und andere von einer nostalgischen Schwärmerei nach literarischer Stammtischatmosphäre wie einst im Romanischen Café zu Berlin oder im Wiener Café Griensteidl  reden. Daran mag etwas liegen. Für einen Menschen, dessen Sein sich aber aus Heute und Gestern zusammensetzt, gehen Kulturen nie unter. Sie begleiten ihn ein Leben lang; und das umso mehr je häufiger Spurenelemente dieser Kultur im jeweiligen Zeitgeist sicht- und spürbar bleiben. Der neue STERN-Herausgeber Dominik Wichmann sagte kürzlich in einem Interview mit DER ZEIT, dass er bei einem Besuch Seattles (USA) unter anderem auch von der dortigen „Lese- und Kaffeehauskultur“ angetan war. Sie lebt also weiter, die Gepflogenheit des Vorlesens im Café; und das nicht nur im deutschen Sprachraum.

Und sie ist anders als die als Event vermarktete Lesung mit Stars der Szene. Die Lesekultur im Kaffeehaus hat einen Hauch von Intimität. Man kennt sich. Man liest. Man spricht - mehr oder weniger – über die vorgetragenen Texte. Ach ja, man hat sich einen Tee oder einen Kaffee bestellt und damit alle Voraussetzungen einer gemütlichen Anderthalbstunde geschaffen. So kann man sich eine Lese- und Kaffeehauskulturatmosphäre in Berlin, Wien, Seattle oder eben auch in Ingolstadt vorstellen. Und wahrlich, man liegt nicht weit daneben. Als wäre die Zeit stehen geblieben.

 In Ingolstadt gibt es seit etlichen Jahren einen Autorenkreis. Er wird zurzeit von Susanne Feiner und Michael von Benkel geleitet. Zu einer richtigen Lese- und Kaffeehauskultur gehört selbstverständlich ein Café. Die Ingolstädter Autoren treffen sich monatlich im Café Maximilian in der Ingolstädter Altstadt. Dort veranstalten sie auch in unregelmäßigen Abständen öffentliche Lesungen, bei denen Autoren aus ihren Werken lesen. Die Reihe nennt sich Lesung ohne Motto. Die letzte Lesung dieser Reihe fand am 24. Januar statt und war auf Eineinhalbstunden anberaumt. Es traf sich gut. Donnerstagabend. Kalt in der Schanz. Vereinzelte Frau-Holle-Federn und mein Bedürfnis zuzuhören. Mal das Gefühl, etwas selber sagen zu müssen, unterdrücken und die eigene Konzentrationsfähigkeit auf den Prüfstand stellen. Wie lange kann ich einer Handlung folgen, ohne in Gedanken abzuschweifen, um mich dann erschreckt zu fragen: Verdammt, wo ist der Faden?

Fünfzehn Leute saßen im Café Maximilian an Tischen in einem zu einer Seite geöffneten Karree. An dieser Seite stand ein Tisch mit einer Kerze drauf. Meine Fantasie überspielte mir Bilder von der Gruppe 47. Aber es kam ganz anders. Giesela Geiseler las als Erste der drei im Raum Ingolstadt zu den bekannten Namen gehörenden Autoren. Die Schriftstellerin hat im Regensburger Verlag verweiledoch zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht. Ihre Texte haben nach eigenem Bekunden einen realen Kern, der in fiktionalen Hüllen verpackt ist. Die bei dieser Lesung vorgetragenen Erzählungen zeugen von einer sehr anspruchsvollen, aber gleichzeitig verständlichen Sprache, obwohl immer wieder auch Wörter oder kurze Sätze in Fremdsprachen im Text vorkommen. Selbst wenn man sie nicht versteht, wirken sie nicht störend sondern erhellen das jeweilige Lokalkolorit; selbst dann, wenn es um eine dunkle Geschichte geht, die zum Beispiel Fremdenfeindlichkeit in Spanien thematisiert. Dass die Autorin aber um einen inhaltlichen Ausgleich bemüht war, bewies sie mit ihrer zweiten, nach der Pause gelesenen Erzählung Dolce Vita. Caféatmosphäre in der Faschingszeit - ein zeitlich passender Text.

Auch Klaus W. Sporer ist ein literarisches Schwergewicht in der Region Ingolstadt. Der vielseitige Künstler, Musik & Malerei, hat eine ganze Reihe von Lyrikbänden veröffentlicht. Eine anscheinend noch nicht abgeschlossene Folge, denn der Dichter hat an diesem Abend nur von Manuskriptblättern gelesen. Gedichte in Arbeit? Noch unziseliert? Arbeit am Kunstwerk? Wer weiß das schon? Vielleicht nicht einmal der Poet selber. Sie klingt so reif, diese Lyrik des Klaus W. Sporer. Und wie sollte sie auch nicht, „wenn man dem Roman seines Lebens / auf dem Weg begegnet“, „wenn sich Bilder über Bilder legen“ und es ein Fehler war, „die Narren mit ihren Schellen zu übertönen“. Tief und sonor klingt die Stimme des Lyrikers. Und wenn sie sich beim jeweils letzten Vers zur Ruhe begibt, erklingen Gitarrenakkorde und Melodieansätze - passend zu jedem verklungenen Gedicht. Eine gelungene Symbiose. Michael von Benkel hatte seine Gitarre mitgebracht. Und wie der das Instrument beherrscht! Da war selbst der Multikünstler Sporer überrascht. Diese Musikübergänge waren zwar abgesprochen, aber nicht eingeübt. Inspiration des Augenblicks. Wie beim Free Jazz. Oder gar den Benkelmusikanten? Warum nicht? Nur eben ohne deren sozialkritische Herbheit. Das Geheimnis, verschiedene Kunstsparten harmonieren zu lassen, liegt im Aufeinenderhören. Mit dieser Lösung wurde es gelüftet.

Paul Misch (Foto: Anton Delagiarmata)
Auch Paul Misch ist für Ingolstädter Literaturinteressierte kein Unbekannter. Er hat aus Erzählungen und nackte Tatsachen (edition Fischer, 2011) gelesen. Eine dieser „erträumten“ (Einwurf einer Zuhörerin) nackten Tatsachen war dann auch Schuld daran, dass die vorgesehene Lesezeit um eine gute halbe Stunde überzogen wurde. Eine andere Besucherin hatte sich nämlich die Erzählung Der junge Mann hinter dem Zaun gewünscht. Sie hatte in der Pause in Paul Mischs Erzählband geschmökert. Der Autor zögerte ein wenig mit der Begründung, dass er diesen Text noch nie öffentlich vorgetragen habe. Aber die Runde hatte Blut geleckt. Sie wollte den Text. Also hat der Schriftsteller aus der Grass-Generation gelesen. Ruhig, sachlich, wie ein erzählender Großvater im Kreis seiner Enkel. Und diese Geschichte hatte es in sich. Sie thematisiert zwar die Kriegszeit, spielt aber ausnahmsweise nicht in Europa, sondern in Amerika. Wie viel Paul Misch mag in dem deutschen Kriegsgefangenen Paul Gerhard stecken? Die Frau mit den „erträumten nackten Tatsachen“ schien es zu wissen. Auf jeden Fall kam die Erzählung bei den meist jüngeren Teilnehmern der Lesung, einige im Enkelalter, gut an - auch wenn Gerhard und Shirlay sich nicht gekriegt haben, was wiederum die ältere Dame mit dem „erträumten“-Einwurf zu freuen schien. (Vielleicht die Gattin des Autors?)

Die Lesung ohne Motto war beendet. Welche Überschrift hätte sie wohl verdient? Ich bin mir sicher, dass es bei einer Umfrage fünfzehn verschiedene gegeben hätte. Schon das allein spricht für die gegenwärtige Lese- und Kaffehauskultur in Ingolstadt. Ach ja: Von Zensuren á la Gruppe 47 war nichts zu spüren.

Anton Potche

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