Diese Erinnerungen von Nora Iuga sind, in zwei Teile
gebündelt, Fasanenstraße 23 – O vară la
Berlin (Fasanenstraße 23 – Ein Sommer in Berlin) und Stuttgarter Platz 22, unter dem Titel Berlinul meu e un monolog (Mein
Berlin ist ein Monolog) in rumänischer Sprache erschienen.
Tagebuchliteratur ist in Rumänien nach wie vor ein beliebtes Genre. Eine wahre
Journal-Flut erlebte die rumänische Literaturszene nach 1989. Heute ist sie
zwar etwas abgeflaut – schließlich gibt es ja Blogs, Twitter, Internetforen und nicht
zuletzt das allumfassende Facebook -, aber ab und zu bedient doch noch jemand
diese literarische Gattung.
„Nora Iuga ist die erste
Surrealistin Rumäniens und die letzte Surrealistin Europas.“ Das sagte der
Sprecher von DEUTSCHLAND RADIO KULTUR in einem 30-minütigen Porträt der
rumänischen Dichterin, das im November 2007 ausgestrahlt wurde. In der gleichen
Sendung sagte Ernest Wichner, Leiter
des Literaturhauses Berlin, dass Nora
Iuga „sich für ein Stipendium nach Berlin beworben hatte, das sie auch
bekommen hat“.
„Während ich schreibe,
denke ich an meinen Leser“, schreibt Nora
Iuga. Wirklich? Das Buch besteht zwar aus Tagebucheintragungen, aber ohne
Datumsangaben. Ist dieses Buch eine Frucht des von Ernest Wichner erwähnten Stipendiums? Wenn es da heißt, „der
Express 2000 mit Schriftstellern aus allen Ländern Europas ist angekommen“, könnte
man auf die Jahrtausendwende setzen. Ernest
Wichner sagte in der erwähnten Radiosendung, seine Bekanntschaft mit Nora Iuga reiche in das Jahr 1994
zurück.
Auf jeden Fall ist dieses Jurnal (Journal) nichts für Biografiejäger. Eine Autobiografie ist auch
etwas anderes. Hier haben wir es mit Momentaufnahmen, Empfindungen des
Augenblicks zu tun, die mal präzise und dann wieder sehr freizügig Erlebnisse
des Tages – nicht immer abgelaufen – wiedergeben.
Sicher ist, dass Nora Iuga in der Fasanenstraße, „im
Zentrum Berlins“, wohnte. Und dieses Stipendium verdankt sie der Stiftung
Preußische Seehandlung, während ein besonderer Dank den Herren Ernest Wichner und Herbert Wiesner gebührt, die der Autorin zu „dieser nicht erhofften
Chance“ verholfen haben. Die schon damals nicht mehr sehr junge
Schriftstellerin, Dichterin und Übersetzerin (geb. 1931) ist so hingerissen von
dieser Stadt, dass sie sich fragt, „ob hier gestorben wird“.
Rumäniendeutsche Leser
treffen in diesen Tagebuchaufzeichnungen auf so manche aus der Literaturszene
von unten, also Rumänien, bekannte Namen: Ernest
Wichner, Oskar Pastior, Herta Müller, Gerhard Csejka u. a. Irgendwann schreibt Nora Iuga über Herta Müller:
„Sie vergisst ihre Wunden nie. Ihr Schmerz erreicht den Höchstwert. Ob sie wohl
verzeihen kann?“ Die rumänische Autorin weiß nämlich auch, „dass man den
Schmerz intensiver erlebt als die Freude“.
Sie ist viel unterwegs
gewesen in diesem Teil Berlins, und sie spricht dauernd mit sich selbst, wie es
sich für einen Monolog auch ziemt. Da kommen dann natürlich nicht nur „Straßen,
Plätze, Cafés und andere Stadtansichten einfach zum Vorschein, sondern auch
ganz persönliche Deutungen dieser und der dort beobachteten Menschen. Und doch
dürfte der eine und andere Leser enttäuscht sein. Man ist doch zu sehr an
Ungereimtheiten im deutschen Literaturbetrieb gewöhnt, um Nora Iugas Aufzeichnungen nicht als ziemlich belanglos zu
empfinden. Da gab es in diesem Berlin und in der Bundesrepublik der Jahrtausendwende
nur Freunde und Sympathisanten in der rumäniendeutschen Literaturszene. Gut,
damals waren die Securitateakten noch alle hinter Schloss und Riegel.
* * *
Der zweite Teil des
Journals ist zehn Jahre später entstanden. Dazwischen liegt der Nobelpreis für Herta Müller und die Securitateakten
wurden im fernen Bukarest einsichtbar.
Die Tagebucheinträge sind
länger und wir dürfen uns sogar an einem Datum erfreuen: „Wie gut, dass ich
wieder Lust am Spiel habe, heute in Berlin, 13. Juli 2009 anno domini.“ Aber
auch eine klare Charakterisierung einer Volksgruppe, der nicht nur Herta Müller, sondern auch meine
Wenigkeit angehören, wird uns geboten: „Die in Rumänien geborenen Deutschen
kritisieren die Rumänen am heftigsten und wenden gleichzeitig viel graue
Substanz auf, um Ordnung in ihre Probleme aus dem Heimatland zu bringen, nach
dreißig, fünfunddreißig Jahren Abwesenheit; ohne Zweifel, ‚die Hölle ist mit
guten Absichten gepflastert’“. Wie wahr!
Und siehe da, die
rumäniendeutschen Literaten von vor neun oder zehn Jahren scheinen passé zu
sein – die aus Deutschland. Hingegen taucht Joachim Wittstock vor den Augen der Tagebuchschreiberin auf als
„ultimul domn german din România“ (letzter deutscher Herr aus Rumänien).
Nora Iuga
ist in diesem Teil viel mehr mit sich selbst beschäftigt. Sie reist immer öfter
in die Vergangenheit. Das soll ja altersbedingt sein, hört man immer wieder.
Aber es sind zugleich die schönsten Einträge, sehr poetisch, mit einer Sprache
voller Erotik und Vokabeln, die auf die deutschen Wurzelteile Nora Iugas hindeuten: omama, vailing
(große Schüssel), abţibild (Abziehbild)...
Und dann kommen diese
Sätze, die nach Altersobszönität klingen. Man ist es nun mal nicht gewöhnt,
dass eine „bald 79-jährige Frau“, wie sie selber des Öfteren betont, über
sexuelle Phantasien schreibt, als wäre sie Charlotte
Roche oder Helene Hegemann in
Person. Aber schon wenige Tage später heißt es voller Nostalgie: „Wer
korrespondiert heute noch so, außer Joachim Heinrich Wittstock und Eleonora
Elisabeth Juga?“ (deutsche Schreibweise von Iuga). Gemeint ist nicht nur der
Inhalt, bestimmt nicht körperlich-erotisch, sondern vor allem die Schrift,
nämlich Sütterlin.
Jedes Stipendium, das
zweite vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, läuft mal aus. In den
letzten Einträgen dieses Berlin-Monologs kommt Herta Müller wieder zur Sprache. Aus Nora Iugas Zeilen klingt Bitterkeit, eine verletzte Seele spricht
aber nicht Klartext. Sie flüchtet in sarkastisches Selbstmitleid. Dieser
Abschied von Berlin geht mit dem Bruch vieler Beziehungen einher. Schade. Es
ist immer jammerschade, wenn Menschliches auf der Strecke bleibt.
Die Gründe? Wir sollten
nie vergessen, dass wir uns auf dem Markt der Eitelkeiten befinden. Vor gut
einem Jahr schrieb Walter Mayr im
SPIEGEL: „Die Grass-Übersetzerin Nora Iuga, Grande Dame der rumänischen
Literatur, warnt davor, im Rückblick auf die kommunistische Zeit im
Karpatenland nur noch die Knute der Securitate wahrnehmen zu wollen. [...] Sie
sagt: ‚Herta und ich, wir waren Freunde. Der Bruch kam erst, nachdem sie den
Nobelpreis erhalten hatte. Ich hatte nur einmal erwähnt, wer wie ich fast 80 Jahre
in Rumänen lebe, kenne das Land vielleicht besser als jemand, der es früh
verlassen hat. Als ich Herta traf, in Berlin vor Oskar Pastiors alter Wohnung,
hat sie mich öffentlich angeschrien.’“
So ist das immer mit dem
Anspruch auf absolute Wahrheit. Er führt nie zu etwas Gutem.
Anton Potche
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