Mittwoch, 6. Dezember 2017

Viele Einzelschicksale in Stichworten

Advent. Die Zeit der Lichter. Aber auch die Zeit der Rückbesinnung. Auf das eigene Leben und das Leben Anderer: bekannter und unbekannter Menschen. Das geht schlecht auf lichtdurchfluteten, mit Süßigkeiten und Geschenken überfrachteten Weihnachtsmärkten. Aber es funktioniert ganz gut in ruhigen, warmen (im Sommer kühlen) Museumsräumen. In Ingolstadt ist das zurzeit der Fall. Im Bayerischen Armeemuseum im Neuen Schloss – bis an dessen Eingangstor hat sich der Weihnachtsmarkt in den letzten Jahren ausgebreitet – kann man eine Sonderausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma besuchen. Gefördert wird die Initiative von der Kulturstiftung des Bundes. Die Ausstellung trägt den Titel „Rassendiagnose: Zigeuner“ – Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung.

Schautafeln mit Bildern, Zitaten und kurzen Informationen rufen den Besuchern eine Zeit ins Gedächtnis, von der man sich wünscht, es hätte sie nie gegeben, und die man schon darum nie vergessen soll, damit sie sich nie wiederholen wird. Wie wir heute wissen, ist das leider nur ein frommer Wunsch.

Das Ausmaß eines Genozids kann nie in seiner gesamten Tragweite erfasst werden, besteht es doch aus unzähligen Einzelschicksalen, die nur stichwortartig zu einem Gesamtbild beitragen können. So geht es auch dieser Ausstellung. Aber es reicht aus, um diesen Museumssaal in Gedanken versunken zu verlassen und nach wenigen Schritten auf dem Ingolstädter Paradeplatz, umgeben von weihnachtlich gestimmten Menschen in glanzvollem Budenzauber, seinem eigenen Schicksal demütig zu danken, im Hier und  Jetzt leben zu dürfen.

Die Stichworte (Tafelüberschriften) dieser Ausstellung habe ich mir in einen Notizblock notiert: 1.) „Rassendiagnose: Zigeuner“ – Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung, 2.) Populäre „Zigeuner“-Bilder [unter der Überschrift Schöne Zigeunerin wird eine rumänische Postkarte vom Anfang des 20. Jh. und eine Fotoreproduktion des Gemäldes Drei Zigeuner von Alois Friedrich Schönn (1826 – 1897) nach dem bekannten Gedicht Nikolaus Lenaus (1802 – 1850) Die drei Zigeuner gezeigt], 3.) Gesellschaftliche Teilhabe [man sieht Bilder von Sinti und Roma aus der Arbeitswelt und der Kultur wie etwa den Moskauer Roma-Chor vom Ende des 19. Jh.], 4.) Ein gegen „Zigeuner“ gerichtetes Sonderrecht [Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gab es in Deutschland Sonderrechte gegen die „Zigeuner“.], 5.) Selbstbehauptung [gezeigt werden Bilder von in  der Wirtschaft und im Militär gut integrierter Sinti & Roma.], 6.) Der Völkermord an Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa [Schätzungsweise kamen 500.000 Menschen dieser Volksgruppe ums Leben.],  7.) Rassenideologie als Staatsdoktrin 8.) Totale Erfassung: die „Rassenhygienische Forschungsstelle“, 9.) Kommunale Zwangslager für Sinti und Roma [In Berlin-Marzahn gab es ein solches Lager.], 10.) Formen der Ausgrenzung [In Minden hat ein Schild aus dem Jahre 1943 mit der Inschrift „Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten.“ die Zeit überdauert], 11.) Ausschluss aus dem Arbeitsleben, 12.) Ausschluss aus den Schulen, 13.) Ausschluss aus der Wehrmacht, 14.) Einweisung in die Konzentrationslager [ab 1938/1939 in Buchenwald, Sachsenhausen, Mauthausen, Ravensbrück, Dachau], 15.) Österreich, 16.) Die Organisation der Vernichtung: das „Reichssicherheitshauptamt“, 17.) Die ersten Deportationen in das besetzte Polen [Am 21. September 1939 fand unter Heydrichs Leitung eine SS-Konferenz statt, auf der die Deportation von 30.000 „Zigeunern“ aus dem Reich nach Polen beschlossen wurde. Was dann auch geschah.] 18.) Sinti und Roma in den Gettos und Zwangsarbeitslagern,
Fotos: Anton Potche
19.) Die europäische Dimension des Völkermords an den Sinti und Roma, 20.) Tschechoslowakei, 21.) Polen, 22.) Frankreich und Belgien, 23.) Niederlande, 24.) Serbien, 25.) Italien, 26.) Kroatien, 27.) Rumänien [Antonescu bei Hitler], 28.) Sowjetunion [Sinti und Roma in Ostrow organisierten eine Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzungsmacht.] 28.) Ungarn, 30.) Sinti und Roma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, 31.) Der Deportationsbefehl Himmlers vom 16. Dezember 1942 [betraf 23.000 Sinti und Roma], 32.) Verweigerte Hilfe: Die Rolle der katholischen Bischöfe [Die geistlichen Herren spielten eine höchst unrühmliche Rolle.], 33.) Der Lagerabschnitt BIIe in Auschwitz-Birkenau: das „Zigeunerlager“ [In diesem Lagerabschnitt waren 23.000 Menschen interniert. 90 Prozent von ihnen sind dort gestorben.], 34.) Mengeles Menschenversuche in Auschwitz-Birkenau [mit einem Foto, das man nicht verdrängen kann - grauenvoll], 35.) Der Widerstand am 16. Mai 1944 und die „Liquidierung“ des „Zigeunerlagers“ am 2./3. August 1944 [Der Widerstand der Insassen endete mit ihrer Vergasung.], 36.) Der Weg bis zur Befreiung [Todesmärsche im Frühjahr 1945], 37.) Schwieriger Neubeginn, 38.) Die Deutungsmacht der Täter [Ehemalige SS-Schergen waren nach dem Krieg in bundesdeutschen Polizeiämtern tätig. Sie rechtfertigten ihre verbrecherischen Taten mit dem sperrigen Begriff „Kriminalprävention“.], 39.) Verweigerte Entschädigung und verspätete Aufarbeitung, 40.) Aus dem Schatten heraustreten: Die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma [Diese Bewegung gibt es seit Ende der 1970er Jahre.] 41.) Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma [gegründet 1982], 42.) Kein Aufbruch nach 1989: Roma als Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung und rassistischer Gewalt [Das ist vorwiegend eine Problematik des früheren Ostblocks.], 43.) Antiziganismus auf dem Vormarsch [Mit 10 bis 12 Millionen Menschen bilden die Sinti und Roma die größte Minderheit Europas.], 44.) Zwanzig Jahre Kampf um ein würdiges Erinnern: Das nationale Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma [befindet sich seit dem 24. Oktober 2012 in Berlin zwischen dem Brandenburger Tor und dem Reichstagsgebäude. Es ist ein Werk des Künstlers Dani Karavan (*1930)].

Die Ausstellung kann bis zum 7. Januar 2018 besichtigt werden.
Öffnungszeiten
Di – Fr: 9:00 – 17:30 Uhr
Sa/So/Feiertage: 10:00 – 17:30 Uhr
24., 25. und 31. Dezember geschlossen
Der Eintritt in die Sonderausstellung ist frei.
Anton Potche

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