Catalin Dorian
Florescu: Zaira, Roman; Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, München,
2009, 5. Auflage 2015; ISBN 978-3-423-13829-1; 479 Seiten; 9,90 EUR
Ich hätte viel versäumt, wenn ich diesen Roman nicht gelesen
hätte. Vor allem wäre mir die Welt in Strehaia, das Städtchen im rumänischen
Landkreis Mehedinți, mit ihrem Zweiklassendasein - fast hätte ich gesagt Charme
– unbekannt geblieben. Und diese Menschen auf dem Gutshof sowie ihre
Dienerschaft, Charaktere, als wären sie George
Călinescus Enigma Otiliei entstiegen, hätten nie
Einzug in mein ganz persönliches Literaturpersonal gehalten.
Natürlich würde
die Welt nicht untergehen, wenn ich Zaira nicht zu meinen literarischen
Bekanntschaften zählen könnte. Aber ich hätte ohne ihre Bekanntschaft auch
nichts erfahren von ihren so unterschiedlichen Liebhabern, gescheiterten Ehen
und Fast-Ehen, ihrem Leben in drei Gesellschaftsordnungen, Monarchie,
Kommunismus und Amerika, ihrer Begabung, Puppen Leben einzuhauchen, und nicht
zuletzt von ihrer im Geiste immer wiederkehrenden Heimkehr auf das Gut und die
Dörfer ihrer Kindheit.
Man könnte beim
Lesen oft innehalten, über den einen oder anderen Vorfall nachdenken, sich den
einen oder anderen Abschnitt wieder zu Gemüte führen, aber man tut es kaum,
will nur lesen, weiterlesen, will wissen, wie es weitergeht mit Zaira, ihren
Angehörigen und Bekannten. Und man würde sich kaum Gedanken über die spannende
Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion machen, wenn man als Leser,
besonders aus Rumänien kommender, sich nicht dauernd beim Vergleichen der Romaninhalte
mit der eigenen Biografie ertappen würde. Man würde dieses Buch ohne seine
jeweils ureigenen Erinnerungen ganz anders lesen, oberflächlicher,
voyeuristischer, und man würde sich gar nicht fragen, warum das eine oder
andere so ist. Es würde einem dabei auch gar nicht einfallen, Sätzen wie den
folgenden eine Schlüsselstellung im Zugang zum Kern dieses hier literarisch so
grandios bearbeiteten Stoffes zuzuschreiben: „[...] nichts erlischt, es
verkriecht sich nur in die hinterste Ecke der Gedanken. Es verblasst, aber es
vergeht nicht. Es ist immer da, bereit, sich im ungünstigsten Augenblick zu
melden. Bereit, uns klarzumachen, wie wenig wir eben dieses Leben genutzt
haben.“
Stünde es mir überhaupt zu, den Sinn eines Exkurses in die
Meeresbiologie mit Plankton, Fluoreszensmikroskopie und Floraminiferen
anzuzweifeln, verschluckte ich nicht regelrecht jedes Wort, jeden Satz, jede
Zeile, jeden Abschnitt, jedes Kapitel, jedes dieser vier Teile von Zaira? Nein, eindeutig nein, denn ich
käme meinem Recht zu kritisieren nicht nach und würde der Hoffnung des Autors,
aufmerksam gelesen und nach Lesergeschmack kritisiert zu werden, keine Rechnung
tragen, was einer Abwertung seiner Kunst gleich käme. Im selben Atemzug läge es
aber auch nahe, alle Höhepunkte und alle sowohl geerdeten als auch
verschrobenen Figuren dieses Romans hervorzuheben oder auch nur ihre gefühlte
Überflüssigkeit, wie etwa bei dem amerikanischen Streuner Donovan,
anzusprechen. Und das würde den Rahmen einer Buchbesprechung – ganz wichtig:
eines Lesers und nicht professionellen Kritikers aus dem Feuilleton – eindeutig
sprengen.
Nie hätte ich gedacht, dass dieses Buch so enden könnte, die
ganzen 478 Seiten lang nicht. Viel lieber hätte ich ein klares Happyend
akzeptiert. Aber wäre das angebracht gewesen? Nach all diesen immer wiederkehrenden
Umkehrungen nach Timișoara,
Bukarest, bis nach Strehaia wäre das alles anderes als logisch. Ich hätte
entgegen meiner Lesegewohnheiten schon früher das Buch aus der Hand legen
können. Ja, wäre da nicht dieser Anfang gewesen: „Ich hätte nicht hier gesessen
und auf jene Haustür gegenüber gestarrt, an der ich nicht klingle.“
Und dann, fast
ganz zum Schluss, wusste ich, wie Unrecht ich C.D. Florescu getan hätte, wenn ich den Sinn dieser
Donovan-Romanexistenz nicht im letzten Moment nicht doch noch erkannt hätte. Auch
wenn sein Abgang von der Romanbühne nur zu Zairas Heimreise überleitet: „Ich
knipste das Licht aus und ließ ihn schlafen. Am nächsten Morgen war er schon
weg, als ich aufstand, aber er hatte einen Brief auf den Küchentisch gelegt,
der für mich abgegeben worden war. [...] Zwei Wochen später bestieg ich das
Flugzeug, das mich nach Wien bringen sollte. Von dort aus flog ich weiter nach
Timişoara. Das Rollfeld war von Kühen belagert, sie hoben faul die Köpfe und
senkten sie wieder, sie waren an alle Arten von Rückkehrern gewöhnt.“
Wie würde es mir
gehen nach 35 Jahren Abwesenheit? Wäre ich bereits Teil dieses Romans, wenn ich
jetzt die Zügel streifen ließe und meine von Heimweh vernebelten Blicke zu dem
vom Regen klitschnassen Walmendingerhorn aufrichten würde? Zum Träumen natürlich.
Oder würde mir bei all diesen Enttäuschungen Zairas die Lust auf meine
Vergangenheit vergehen?
Nun liegt das Buch geschlossen vor mir. Zaira. Und ich hätte es wahrscheinlich nie gelesen, wenn ich nicht
auf ein Interview mit Cătălin Dorian
Florescu in der Temeswarer Literaturzeitschrift ORIZONT vom 23. März 2007
gestoßen wäre. Das Gespräch drehte sich vorwiegend um den Roman Der blinde Masseur und erst zum Schluss
fragte Robert Şerban nach Florescus damaliger Neuerscheinung Zaira. Er bekam auch dazu eine
aufschlussreiche Antwort und erfuhr unter anderem, dass Zaira eine 70 Jahre
alte Frau ist und „jetzt in Timişoara lebt, zusammen mit dem Mann, den sie seit
ihrer Jugend liebte, ihn aber verlassen hatte.“ Ohne dieses Interview und
besonders diesen Satz wäre der Roman Zaira
auch für mich wie wahrscheinlich für die
meisten Leser mit einem großen Fragezeichen ausgegangen.
Weitere 19 Seiten später in der gleichen Zeitschrift
unterhält Eugen Brumaru sich mit Traian Dorgoşan, dem Dichter und „König
der Temeswarer Boheme“. Schon zu Beginn des Gesprächs stellte Brumaru die Frage: „Wie fühlst du dich
in deiner neuen Rolle als literarische Figur?“ Darauf antwortete Dorgoşan: „Lass es gut sein, ich habe auch davon gehört
... Es handelt sich wirklich um den Roman eines jungen und talentierten
rumänischen Schriftstellers, der in der Schweiz lebt, Cătălin Dorian Florescu.
Aber ich bin dort in seinem Buch nur eine unwichtige, episodenhafte Gestalt.
Seine Inspiration zu dem Roman kam – hier liegt die Verbindung – von meiner
Frau Zaira. Von dem Mahlerischen und Reichtum ihrer Biografie.“
Interessant ist diese Aussage allemal, den Anstrich des Sensationellen
bekam sie für mich - als gebürtigen Jahrmarkter - aber erst bei der weiteren
Äußerung Traian Dorgoşans: „Mit dem
Prosator Cătălin Dorian Florescu
verbrachte ich in den vergangenen Jahren einen herrlichen Abend im Restaurant
Boema, neben der Buchhandlung Emil Cioran. Damals rezitierte ich ihm ein
Sonett, Beim Tode meines Schweines,
das ich geschrieben hatte, als ich etwa 15 Jahre alt war, nachdem ich - es
geschah zu Hause bei meiner Mutter in Giarmata - der traditionellen
Schweineschlacht vor den Winterfeiertagen beiwohnte.“
Und so ist der
Faden von Zaira zu mir gesponnen. Wie
dünn er auch sein mag, kann er für mich persönlich nie reißen, heißt er doch Jahrmarkt
– Giarmata. Mit der winterlichen Schweineschlacht inklusive.
Geschrieben in Mittelberg im Walsertal
Anton Potche
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