Mittwoch, 4. Juli 2018

Eine literarische Bekanntschaft mit Spuren in die Heimat


Catalin Dorian Florescu: Zaira, Roman; Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, München, 2009, 5. Auflage 2015; ISBN 978-3-423-13829-1; 479 Seiten; 9,90 EUR

Ich hätte viel versäumt, wenn ich diesen Roman nicht gelesen hätte. Vor allem wäre mir die Welt in Strehaia, das Städtchen im rumänischen Landkreis Mehedinți, mit ihrem Zweiklassendasein - fast hätte ich gesagt Charme – unbekannt geblieben. Und diese Menschen auf dem Gutshof sowie ihre Dienerschaft, Charaktere, als wären sie George Călinescus Enigma Otiliei entstiegen, hätten nie Einzug in mein ganz persönliches Literaturpersonal gehalten.

Natürlich würde die Welt nicht untergehen, wenn ich Zaira nicht zu meinen literarischen Bekanntschaften zählen könnte. Aber ich hätte ohne ihre Bekanntschaft auch nichts erfahren von ihren so unterschiedlichen Liebhabern, gescheiterten Ehen und Fast-Ehen, ihrem Leben in drei Gesellschaftsordnungen, Monarchie, Kommunismus und Amerika, ihrer Begabung, Puppen Leben einzuhauchen, und nicht zuletzt von ihrer im Geiste immer wiederkehrenden Heimkehr auf das Gut und die Dörfer ihrer Kindheit.

Man könnte beim Lesen oft innehalten, über den einen oder anderen Vorfall nachdenken, sich den einen oder anderen Abschnitt wieder zu Gemüte führen, aber man tut es kaum, will nur lesen, weiterlesen, will wissen, wie es weitergeht mit Zaira, ihren Angehörigen und Bekannten. Und man würde sich kaum Gedanken über die spannende Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion machen, wenn man als Leser, besonders aus Rumänien kommender, sich nicht dauernd beim Vergleichen der Romaninhalte mit der eigenen Biografie ertappen würde. Man würde dieses Buch ohne seine jeweils ureigenen Erinnerungen ganz anders lesen, oberflächlicher, voyeuristischer, und man würde sich gar nicht fragen, warum das eine oder andere so ist. Es würde einem dabei auch gar nicht einfallen, Sätzen wie den folgenden eine Schlüsselstellung im Zugang zum Kern dieses hier literarisch so grandios bearbeiteten Stoffes zuzuschreiben: „[...] nichts erlischt, es verkriecht sich nur in die hinterste Ecke der Gedanken. Es verblasst, aber es vergeht nicht. Es ist immer da, bereit, sich im ungünstigsten Augenblick zu melden. Bereit, uns klarzumachen, wie wenig wir eben dieses Leben genutzt haben.“


Stünde es mir überhaupt zu, den Sinn eines Exkurses in die Meeresbiologie mit Plankton, Fluoreszensmikroskopie und Floraminiferen anzuzweifeln, verschluckte ich nicht regelrecht jedes Wort, jeden Satz, jede Zeile, jeden Abschnitt, jedes Kapitel, jedes dieser vier Teile von Zaira? Nein, eindeutig nein, denn ich käme meinem Recht zu kritisieren nicht nach und würde der Hoffnung des Autors, aufmerksam gelesen und nach Lesergeschmack kritisiert zu werden, keine Rechnung tragen, was einer Abwertung seiner Kunst gleich käme. Im selben Atemzug läge es aber auch nahe, alle Höhepunkte und alle sowohl geerdeten als auch verschrobenen Figuren dieses Romans hervorzuheben oder auch nur ihre gefühlte Überflüssigkeit, wie etwa bei dem amerikanischen Streuner Donovan, anzusprechen. Und das würde den Rahmen einer Buchbesprechung – ganz wichtig: eines Lesers und nicht professionellen Kritikers aus dem Feuilleton – eindeutig sprengen.

Nie hätte ich gedacht, dass dieses Buch so enden könnte, die ganzen 478 Seiten lang nicht. Viel lieber hätte ich ein klares Happyend akzeptiert. Aber wäre das angebracht gewesen? Nach all diesen immer wiederkehrenden Umkehrungen nach Timișoara, Bukarest, bis nach Strehaia wäre das alles anderes als logisch. Ich hätte entgegen meiner Lesegewohnheiten schon früher das Buch aus der Hand legen können. Ja, wäre da nicht dieser Anfang gewesen: „Ich hätte nicht hier gesessen und auf jene Haustür gegenüber gestarrt, an der ich nicht klingle.“

Und dann, fast ganz zum Schluss, wusste ich, wie Unrecht ich C.D. Florescu getan hätte, wenn ich den Sinn dieser Donovan-Romanexistenz nicht im letzten Moment nicht doch noch erkannt hätte. Auch wenn sein Abgang von der Romanbühne nur zu Zairas Heimreise überleitet: „Ich knipste das Licht aus und ließ ihn schlafen. Am nächsten Morgen war er schon weg, als ich aufstand, aber er hatte einen Brief auf den Küchentisch gelegt, der für mich abgegeben worden war. [...] Zwei Wochen später bestieg ich das Flugzeug, das mich nach Wien bringen sollte. Von dort aus flog ich weiter nach Timişoara. Das Rollfeld war von Kühen belagert, sie hoben faul die Köpfe und senkten sie wieder, sie waren an alle Arten von Rückkehrern gewöhnt.“

Wie würde es mir gehen nach 35 Jahren Abwesenheit? Wäre ich bereits Teil dieses Romans, wenn ich jetzt die Zügel streifen ließe und meine von Heimweh vernebelten Blicke zu dem vom Regen klitschnassen Walmendingerhorn aufrichten würde? Zum Träumen natürlich. Oder würde mir bei all diesen Enttäuschungen Zairas die Lust auf meine Vergangenheit vergehen?

Nun liegt das Buch geschlossen vor mir. Zaira. Und ich hätte es wahrscheinlich nie gelesen, wenn ich nicht auf ein Interview mit Cătălin Dorian Florescu in der Temeswarer Literaturzeitschrift ORIZONT vom 23. März 2007 gestoßen wäre. Das Gespräch drehte sich vorwiegend um den Roman Der blinde Masseur und erst zum Schluss fragte Robert Şerban nach Florescus damaliger Neuerscheinung Zaira. Er bekam auch dazu eine aufschlussreiche Antwort und erfuhr unter anderem, dass Zaira eine 70 Jahre alte Frau ist und „jetzt in Timişoara lebt, zusammen mit dem Mann, den sie seit ihrer Jugend liebte, ihn aber verlassen hatte.“ Ohne dieses Interview und besonders diesen Satz wäre der Roman Zaira auch für mich  wie wahrscheinlich für die meisten Leser mit einem großen Fragezeichen ausgegangen.

Weitere 19 Seiten später in der gleichen Zeitschrift unterhält Eugen Brumaru sich mit Traian Dorgoşan, dem Dichter und „König der Temeswarer Boheme“. Schon zu Beginn des Gesprächs stellte Brumaru die Frage: „Wie fühlst du dich in deiner neuen Rolle als literarische Figur?“ Darauf antwortete Dorgoşan: „Lass es gut sein, ich habe auch davon gehört ... Es handelt sich wirklich um den Roman eines jungen und talentierten rumänischen Schriftstellers, der in der Schweiz lebt, Cătălin Dorian Florescu. Aber ich bin dort in seinem Buch nur eine unwichtige, episodenhafte Gestalt. Seine Inspiration zu dem Roman kam – hier liegt die Verbindung – von meiner Frau Zaira. Von dem Mahlerischen und Reichtum ihrer Biografie.“

Interessant ist diese Aussage allemal, den Anstrich des Sensationellen bekam sie für mich - als gebürtigen Jahrmarkter - aber erst bei der weiteren Äußerung Traian Dorgoşans: „Mit dem Prosator Cătălin Dorian Florescu verbrachte ich in den vergangenen Jahren einen herrlichen Abend im Restaurant Boema, neben der Buchhandlung Emil Cioran. Damals rezitierte ich ihm ein Sonett, Beim Tode meines Schweines, das ich geschrieben hatte, als ich etwa 15 Jahre alt war, nachdem ich - es geschah zu Hause bei meiner Mutter in Giarmata - der traditionellen Schweineschlacht vor den Winterfeiertagen beiwohnte.“

Und so ist der Faden von Zaira zu mir gesponnen. Wie dünn er auch sein mag, kann er für mich persönlich nie reißen, heißt er doch Jahrmarkt – Giarmata. Mit der winterlichen Schweineschlacht inklusive.

Geschrieben in Mittelberg im Walsertal
Anton Potche

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