Montag, 1. November 2010

2. Musikantentreffen der Kaszner-Kapelle - DVD 2/2

"Wo gehen wir hin? Immer nach Hause." So zitiert der Zeitgenosse Bernhard Schlink den Romantiker Novalis, um dann in einem Interview selbst hinzuzufügen: "Fernweh ist eine Variante des Heimwehs. Was suchen wir eigentlich, wenn wir reisen? Uns selbst? Unsere Kindheit?" Und wenn diese Heimat in der Ferne liegt, dann gebiert die Sehnsucht nach ihr "verrückte Ideen", wie Berthold Ebner das in einem Schreiben an die Teilnehmer des 2.Treffens der Kaszner-Musikanten nennt. Wie Verrücktheit sich anfühlt, kann man auf dieser zweiten DVD von dem Treffen spüren. Um es vorwegzunehmen: sie hat etwas mit Entrücktheit zu tun. Und damit bleibt Novalis aktuell.

Eine Wiese mit weißen, lila und roten Blumen, natürlich "Pipatsche". Am Horizont das Dorf: Jahrmarkt. Vor diesem Hintergrund prangt der DVD-Titel und die Kapitelüberschriften: 2. Musikantentreffen der Kaszner-Kapelle // Film // Szenenauswahl Sonntag // Szenenauswahl Montag // Jahrmarkt Banat Rumänien // 23./24. 05.2010. Die Schrift ist in keuschem Weiß gehalten. Wer hier dabei war, konnte nichts Böses im Schilde führen. Wählt man den Sonntag, so hat man die Auswahl von weiteren vier Kapiteln: Saal // Hof // Offizieller Teil // Tanzmusik. Entscheidet man sich für den Montag, so bekommt man die Kapitel Hof // Abendessen // Blasmusik angeboten.

Es lohnt sich aber, diese Kapitel einfach zu vergessen und sich auf die Reise zu begeben - und zwar einem fliegenden Storch mit dem Zug Timişoara Nord - Radna - Timişoara Nord folgend. Das ist die Strecke, die von den meisten Altjahrmarktern früher für ihre Stadtfahrten benutzt wurde. Dieses vertraute Schienengeräusch. Schon kann man die ersten Häuser sehen und bereits diese Eindrücke deuten den Wandel an. Neubauten am südöstlichen Dorfrand. Der Strand liegt hinter hohen, breiten Weiden. Giarmata steht wie eh und je auf der Bahnhosfassade: unser Jahrmarkt.

Wir sind im Saal. In "unserem" Kamin. Die Leute sind beim Essen. Wen wundert's? Bei diesen Anfahrten! Blasmusik: Russel, Bussel. Was denn sonst? Nichts hat sich verändert - außer dem Saal. Und schon tanzen die ersten Paare zwischen den Tischen. Es sind meine Lieder, unsere Stücke von anno dazumal. Ich schaue und klopfe auf meine PC-Tastatur. Sind die älter geworden? Nein. Nicht an diesem Tag. Sie spielen wie besessen ... und meine Gänsehaut tanzt mit. Kein Konzert. Nur böhmische Blasmusik mit allem was dazu gehört: weiche Tenorhörner, zu spitze Klarinetten, kräftige Tuben, manchmal leicht vibrierende Flügelhörner und und und. Die Freude, ja Ausgelassenheit, miteinander in diesem Umfeld musizieren zu dürfen, spricht aus jedem einzelnen Byte dieser Scheibe.

Und dann der offizielle Teil dieses Treffens. Signal Marsch. "Grieß Gott Johrmark! Grieß Gott, ihr liewe Gäst vun nah un fern." Ich kenne Hans Kaszner jun. als Bläser und Sänger, aber nicht als Redner. Er macht das gut, auch wenn er sich seine "schwowischi" Begrüßung aufgeschrieben hatte. (Das ist zumindest mein Eindruck.) Dann kommt Berthold Ebner, der Mann mit der "verrückten Idee". Es klingt fast wie eine Entschuldigung, wenn er sofort klarstellt, dass er nicht der allein Schuldige an dieser Veranstaltung ist. Er stellt seine Mitmissetäter auch gleich vor: Walter Streitmatter, Ewald Streitmatter und Jürgen Possler. Nach 27 Jahren fand wieder eine Blasmusikveranstaltung in diesem Gebäude, dem Jahrmarkter Kulturheim, "em Kamin", statt.

Bună seara!. Onorată asistenţă, bine aţi revenit acasă! Ioan Delvai, Jahrmarkts Bürgermeister, ohne dessen Unterstützung dieses Treffen natürlich nicht möglich gewesen wäre, begrüßt die Heimkehrer. Verdammt noch mal! Hätte die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert nicht auch anders verlaufen können? Es werden Geschenke ausgetauscht. Von Seiten der Gemeinde bekommt jede teilnehmende Familie eine Mappe mit einer DVD und einer rumänisch-englischen Broschüre, aus der auch der folgende Satz stammt: "Până la al doilea război mondial întreaga populaţie a comunei Giarmata este formată din etnici germani, iar începând cu anul 1945 se stabilesc treptat în Giarmata şi români." Eine Statistik zeigt folgende gegenwärtige ethnische Struktur der Dorfbewohner (mit dem Dorf Cerneteaz/Zorn) auf: 7295 Rumänen, 210 Roma und 5 Ungarn.

Polka für Zwei - gespielt von den Gebrüdern Hans Kaszner jun. & Helmut Kassner für ihren 2008 verstorbenen Vater Hans Kaszner sen., denn "ohne ihn hätt's die Kapell  iwerhaupt net gewwe". Es folgen weitere musikalische und rezitatorische Höhepunkte: Blasmusiklieder und Instrumentalsolos, Gedichte und Ansprachen und natürlich viele Danksagungen und die damit verbundenen Pannen. Viele Musikanten werden als Bläser in berühmten Profikapellen oder als Gastmusiker vorgestellt. Und weil das so viele sind, werden die verbliebenen "echten Kaszner-Musikanten" schlicht und einfach vergessen - was natürlich niemand niemand übel nimmt, denn auch solche Dinge gehören wie der alljährliche Regen an der Kerweih zur Geschichte der Kaszner-Kapelle. Es gilt sowieso nur, was Elfriede Roth gedichtet hat: "Haltet fest den Augenblick / die Zeit, sie kehrt nie mehr zurück." Das wissen alle im Saal und keiner denkt mehr an Formalien. Es wird gelacht und applaudiert. Vedder Lasi und der kleine Lucas Kassner sind der jeweils älteste und jüngste Star des Abends. Zwei Stars unter Stars, denn das sind heute alle auf der Bühne in Jahrmarkt. Auch die Wortbeiträge von Franz Frombach und Niki Wagner kommen gut an. Man spürt mal wieder, auch das eine "Spezialität" der ehemaligen Kaszner-Kapelle, dass Spontaneität diese Jahrmarkter Musikantengesellschaft immer schon geprägt hat. Jeder darf einmal, wenn er denkt, dass er einen Beitrag zu dem Geschehen leisten kann. Und als Frau Semeniuc, ehemalige Bürgermeisterin und wohnhaft in der alten Nachbarschaft der Kaszner-Familie, Hans Kaszner mit den Worten umarmte "Hansi este la fel de frumos, la fel de talentat", ist die Stimmung natürlich auf dem Höhepunkt.

Aber es bleibt die Musik, immer wieder die Musik, die verstaubte Zeiten wieder auferstehen lässt. Tanzmusik, "Streich", wie es fälschlicherweise hieß. Das war unsere Zeit, unsere Lieder, unsere Sänger, unsere Mädchen, unsere Liebschaften - geglückte und gescheiterte, unsere Jugend. Und jetzt ist sie da, wirklich da, für einige Stunden, an alter Stätte. Längst sind die Noten auf den Notenständern verwaist und der Berns Niki und der Fritz singen O Mariana, o mică dulce Mariana. Ist es denn wirklich möglich, dass die Zeit einen Rückwärtsgang hat? Du schwarzer Zigeuner, du kennst meinen Schmerz, / wenn deine Geige weint, weint auch mein Herz.

Mein Herz stolpert durch diese DVD. Es weint und lacht. So muss Sucht sein. Schrecklich schön. Diese Sänger sind kaputt. Und sie singen und singen - unaufhaltsam weiter. Der Ossi, steht und spielt, schläft und spielt, ununterbrochen, ununterbrochen.

Und da ist ja noch der Montag. Ebenso verrückt, wie alles was ich bisher gesehen habe. Musikanten spielen im Hof des "Kamins". Alte, uralte Stücke aus den ganz alten Heften. Das "Kerweihstick" und erwachsene Menschen außer Rand und Band. Dann der Possler Matz als Oberkellner wie in der "guten alten Zeit". Er hat nichts verlernt. Jetzt lehn' ich mich nur noch zurück und schaue und staune, und freue mich und schließe die Augen und kehre zurück - über Felder und Wälder, Berge und Seen, Länder und Grenzen, nach Hause in meine Jugend, und ich hole mein altes Stowasser-Euphonium hervor und spiele, spiele und spiele.
Anton Potche

Als Geschmacksverstärker sei noch zum Schluss dieses Video serviert:

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