Montag, 16. April 2012

Theaterbesuch an einem Dreizehntenfreitag

Es gibt Tage, da steht man am besten morgens nicht auf, heißt es. Umso mehr, wenn ein Dreizehnter auf einen Freitag fällt. Also aufgestanden bin ich am Freitag, dem 13. Februar 2012 schon. Ich musste zwar wie jeden Freitag die Wohnung putzen, aber Schlimmeres als an anderen Freitagen ist mir dabei nicht widerfahren. Gott sei’s gedankt! Doch sollte auch dieser Tag erst mit dem Abend enden… und ich hatte am Vortag eine Theaterkarte gekauft: für Winterreise von Elfriede Jelinek. Meiner Angetrauten hatte ich in weiser Voraussicht erklärt, dass Frau Jelineks literarische Werke nicht unbedingt Glückshormonauslöser seien.

Die Hauptfrage zu einem Theaterstück ist ja heute nicht mehr, wie gut das Stück vom Autor X geschrieben wurde oder wie gut ein Ensemble es umgesetzt hat, sondern es geht nur noch darum, was ein Regisseur draus gemacht hat. Viel zu oft Schreckliches. Verstümmelte, umgedeutete, seinem Genre schändlich entrissene Theaterstücke sind heute keine Seltenheit mehr. Das nennt man dann modernes Theater oder Regietheater und erwartet, dass vom Arbeitstag stressgeplagte Bürger, Regenerierung im Versuch finden, die Symbolgeilheit eines Regisseurs zu entschlüsseln, statt sich an einer nachvollziehbaren Handlung zu delektieren und zu erholen. Ich denke wahrlich nicht nur an Komödien oder Musicals.

So könnte ich jetzt einfach sagen, Obiges trifft auch auf die Inszenierung von Elfriede Jelineks Winterreise am Stadttheater Ingolstadt (eigentlich eine Produktion des Badischen Staatstheaters Karlsruhe) zu, und damit wäre alles gesagt. Ja, wenn es sich nicht um ein „Stück“ von der österreichischen Nobelpreisträgerin handeln würde. Also muss man zur Entlastung des Regisseurs und Bühnenbildners in Personalunion, Michael Simon, ein ganz entscheidende Tatsache anführen, nämlich, dass die öffentlichkeitsscheue Autorin gar keine Theaterstücke im üblichen Sinne des Wortes schreibt. Wie man in einer Einführung in das Stück – eine sehr löbliche Einrichtung – vom Dramaturgen des Hauses, Donald Berkenhoff, erfahren konnte, handelt es sich bei diesem Stück nicht um eine übliche Handlung mit Rede und Widerrede, sondern um Textflächen, aus denen der Regisseur sich dann das Stück zusammenschustert. Wer aber die Jelinek-Prosa kennt, kann sich unschwer vorstellen, welche Arbeit da auf einen Regisseur zukommt. Man muss sich das so vorstellen: Die Jelinek schickt einfach ca. 100 dicht beschriebene Seiten an Theaterhäuser und versieht diese Texte dann auch noch mit sinngemäßen Anmerkungen wie: „Macht damit, was Ihr wollt.“ oder „Die Regisseure machen ja sowieso, was sie wollen.“ Es heißt, sie würde sich um das Schicksal ihrer Stücke auch gar nicht mehr interessieren. Mit der Warnung des Dramaturgen, dass in Winterreise bis zur Pause nicht gesprochen wird – nur zur Erinnerung: es handelt sich um ein Theaterstück –, durfte wohl die Neugierde der Theaterzuschauer zur Genüge angestachelt worden sein.

Wie gesagt, so getan. Vorhang auf. Szenisches Bild. Vorhang zu. Vorhang auf. Szenisches Bild. Vorhang zu. Und das geht 35 Minuten lang so. Fast ohne Bewegung, mit Ausnahme eines dementen Mannes und einer dem Veiztanz zum Opfer gefallenen Frau. Die assoziativen Bilder sind musikalisch von einem ununterbrochenen Melodiereigen umrahmt, Contrabass & Klavier, eine sehr tiefgehende, ja zum Teil berückende Musik (Bearbeitung Nina Wurman), die auf die mythologischen und manchmal sehr düsteren Szenenbilder einen Verstärkungseffekt ausüben.

„Was war denn das jetzt?“, hörte ich eine Frau ihren Mann in der Pause fragen. Ob beide nach der Pause noch im Saal waren, weiß ich nicht. Alle Zuschauer waren auf jeden Fall nicht mehr da. Sollte das an der fehlenden Sprache gelegen haben?

Die sollte im zweiten Teil zu ihrem Recht kommen. Und was vermittelte sie? Einsamkeit, Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit, Orientierungslosigkeit und was es an unglücklich machenden Gefühlen noch so alles gibt. Aber gerade das ist Elfriede Jelineks Stärke. Auch in diesem Text. Und Michael Simon hat diese Grundmotive, eigentlich aus Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise, in eine fulminante Textcollage gegossen, die dann vier DarstellerInnen in einem schier endlosen Wortschwall umsetzen. Patricia Coridun, Teresa Trauth, Sebastian Kreutz und Thomas Schrimm sind eine gute Besetzung für diese Aufgabe.

Was auf die Zuschauer zukam, war alles andere als leichte Kost. Es geht philosophisch los. Zwei zierliche Frauengestalten parlieren über die Irreversibilität der Zeit und allem damit verbundenen Ungemach. Drei Frauen erhoben sich drei Reihen vor mir und verließen den Theatersaal. Sie schienen ihren Glauben auch ans Sprechtheater verloren zu haben.

So blieb ihnen das von klaren und dunklen Geistesblitzen angetriebene Umherirren eines von Frau & Tochter verlassenen und demenzkranken Mannes erspart. Da werden die Gewissenszellen der Zuschauer richtig strapaziert: „Die haben mich abgeschoben. … Ob im Mai noch etwas für mich blühen wird? … Es war ihnen ein Anliegen, mich nicht zu mögen. … Meine zwei Menschen, die nicht mehr meine sind, haben mich weggebracht.“ Im Saal stockt so mancher Atem. Man könnte selbst so werden. Man hat alte, gebrechliche Eltern. Man muss Verantwortung übernehmen, ob man will oder nicht. Niemand, niemand auf der Welt wird sie dir abnehmen. Der Arme sucht das Klo und findet es nicht. Schrecklich! Ich konnte es nachvollziehen, hatte ich in der Pause doch auch eins gesucht. Ja, ein WC. Und das im Stadttheater einer Großstadt. „Im Theaterrestaurant ist auch eins.“ Eine Frau sprach es und hastete die Treppe hinauf. Ein altes Ehepaar stand vor den verschlossenen Theatertoiletten. Bevor ich in die Tiefgarage hinabstieg, um qualfrei den zweiten Teil der Winterreise mitmachen zu können, sah ich, wie die zwei alten Leute das Theater verließen. Hoffentlich sind sie gut nach Hause gekommen.

Zumindest der Tod blieb ihnen erspart. Der gesellt sich nämlich in Gestalt eines Clowns zu dem bedauernswerten Demenzkranken und rockt auf einer E-Gitarre Texte wie „Dass man einmal tot sein kann, weiß jeder, auch wenn er es nicht wissen will.“ Die zwei im Internet nach sexueller Befriedigung suchenden Frauen kümmert das wenig: „Danke liebes Netz. … Ich bin jetzt in die Warteschleife gelegt worden.“ Klage und Ekstase wechseln sich ab und der Tod singt im Sinne des orientierungslosen und jetzt auch sprachlosen Mannes: „Nun merk ich erst, wie müde ich bin. Alles ist an mir vorbeigegangen, hab’s gar nicht gemerkt.“

Müde. Wer müde kam, ist bestimmt nicht entspannt gegangen. Das wäre auch nicht im Sinne Elfriede Jelineks gewesen. Höflicher Applaus. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwähren, dass alle froh waren, als diese Winterreise zu Ende war, Zuschauer und Darsteller, auch 20 Statisten. Der nur zur Hälfte gefüllte Saal leerte sich schnell und auch in der Tiefgarage hatte sich kein Stau bei der Ausfahrt gebildet. Wie gut! Zu Hause haben wir eine Toilette, nicht von außen verschlossen wie die im Stadttheater Ingolstadt.

Verrückt! Genauso unwirklich und trotzdem real wie Elfriede Jelineks Winterreise und anderes aus ihrer Feder. Man sollte an einem Dreizehntenfreitag doch lieber zu Hause bleiben.

Anton Potche

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