Freitag, 25. Mai 2012

Was gibt es Schöneres, als mitzuerleben, wie Töne sich gegen ihr Ausklingen wehren?

Musik ist auch ein Sterben, ein immerwährendes Sterben von Tönen. Manchmal, ja meistens, verklingt ein Ton bereits in Bruchteilen von Sekunden nach seiner Entstehung. Nur in Ausnahmefällen gewähren akustische Gegebenheiten den Musiktönen eine längere Verweildauer im Raum - auch nur von ein oder zwei Sekunden, aber schon wegen der Seltenheit des Phänomens vom Zuhörer als kleine Ewigkeit wahrnehmbar. Und wenn diese Töne dann auch noch aus meisterhaft gespielten Instrumenten kommen, dann darf man ein Klangerlebnis genießen, das man gerne in Erinnerung behält.

Große Kirchen sind der geeignete Ort für diese zauberhaften Klangspektren. Auch das Münster „Zur Schönen Unserer Lieben Frau“ in Ingolstadt gehört zu diesen Toncluster ermöglichenden Kirchenbauten. Wer samstags um die Mittagsstunde das immense Kirchenschiff betritt, wird in Klangwolken gehüllt. Orgeltöne: beruhigend, entspannend, besinnlich.

SamstagOrgel im Münster nennt sich die Konzertreihe im Liebfrauenmünster und das Programmfaltblatt verspricht 30 Minuten Orgelmusik an der Großen Klais-Orgel – jeweils am Samstag um 12 bei freiem Eintritt – 12. Mai bis 28 Juli. Es kommen aber auch Bläser zum Einsatz. Dann ist das Ringen um die Lebensdauer der Töne noch viel interessanter. Köstlichste, aber oft auch sehr ungewöhnliche Harmoniegebilde entstehen, wenn ein langer Ton der Oboe noch auf dem Weg zum weit entfernten Hauptaltar ist – vom Zuhörer klar vernehmbar – und der Orgel oder dem Blasinstrument bereits die nächsten Harmonien oder Einzeltöne entspringen. Kein Komponist kann Pausen für akustische Raumverhältnisse komponieren. Sie, die Pausen, sind lediglich dem Thema und dem Rhythmus zugeeignet. Im Hall des immensen Kirchenschiffes werden Pausen zur Makulatur. Sie existieren nur noch auf dem Notenblatt. Im Kirchenraum scheint immer irgendein Ton unterwegs zu sein. Und wenn er noch so leise verklingt, er hat bereits im Sterben einen oder auch mehrere Leidensgenossen an seiner Seite.

So war das erlebbar auch beim Konzert am vergangenen Samstag. Evi Weichenrieder an der Orgel und Georgi Kobulaschwili mit der Oboe und dem Englischhorn zauberten fühlbare Engführungen in den Raum, die den Zuhörer das Treiben der lebhaften Innenstadt schnell, sehr schnell, vergessen ließ. Ihr Programm begann mit England’s Glory von Nigel Ogden, setzte sich fort mit Alessandro Marcellos (1669 – 1747) Concerto d-Moll für Oboe und Orgel, Joseph Hector Fioccos (1703 – 1741) Arioso für Oboe und Orgel, Théodore Dubois’ (1837 – 1924) Fiat lux, um schließlich im sehr getragenen Musikstück Pavane. Variationen über einen Tanz aus El Maestro (1536) von Luis de Milán für Englischhorn und Orgel einen musikalischen, den akustischen Bedingungen in jeder Hinsicht gerecht werdenden Höhepunkt zu erreichen. (Video). Enjott Schneider (*1950) hat diese Pavane komponiert, und wie die zwei Konzertprotagonisten spielten, konnte man sich gut die Würde vorgaukelnde Schrittgemächlichkeit an den europäischen Adelshöfen des 16. und 17. Jahrhunderts vorstellen. Man konnte aber auch wie in keinem Werk zuvor den Lebenswille der von dem Duo in den Raum gezauberten Töne spüren: dieses faszinierende Kommen, Sein und Verhallen. Ein Genuss, nicht nur für Konzertbesucher, sondern auch für so manchen Touristen, der im kühlen und im wahrsten Sinne des Wortes  klangvollen Kirchenschiff einige Minuten – es waren mehr als 30 - Ruhe und einen kurzen Weg zu sich selbst suchte und wahrscheinlich auch fand. Das Konzert endete mit einer Toccata h-Moll von Eugéne Gigout (1844 – 1925).

Anton Potche



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