Mittwoch, 10. Oktober 2012

Rauris in den Hohen Tauern – IV

Auch Literatur gehört zum Gesellschaftsleben in Rauris

Ich habe resigniert. Schon lange kämpfe ich nicht mehr dagegen an: gegen meine Banater im engeren und rumäniendeutsche Vergangenheit im weiteren Sinn. Sie ist einfach da, in meinem Kopf. Warum auch dagegen ankämpfen? Irgendwie schärft sie den Blick und verleitet mich dazu, immer und überall nach ihr zu suchen oder zumindest nicht wegzuschauen. Nur schaue ich eben in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit. Also lebe ich – auch im Urlaub. Zu beachten habe ich dabei immer nur eins: Du darfst niemand damit belästigen. Alles, Gedanken, Suchen und Finden schön für dich behalten.

Als Frau Potche im Billa war – als Ferienwohnungsurlauber muss man da schon mal rein -, betrat ich das Rauriser Rathaus. Ich hatte schon vom Rauriser Literaturpreis und den Rauriser Literaturtagen gehört und mich gewundert, bisher nichts davon in der Ortschaft gesehen zu haben – in einem Schaufenster vielleicht. Eine Buchhandlung gibt es nicht.

Doch siehe da: In der Eingangshalle des Rathauses – ein imposanter Natursteinbau – stand ein Tisch mit Broschüren „zum Mitnehmen“: Lesen auf dem Lande – Literarische Rezeption und Mediennutzung im ländlichen Siedlungsgebiet Salzburgs – Bericht über ein empirisches Forschungsprojekt von Walter Hömberg und Karlheinz Roßbacher, ferner „DIE RAMPE – Porträt Hans Eichhorn und  DIE RAMPE – 50 Jahre Landeskulturpreis für Literatur sowie DAS MAGAZIN –40 Jahre Rauriser Literaturtage von Brita Steinwendtner und Hildemar Holl. Dazu fand ich am Tag darauf noch im Tourismusbüro ein Veranstaltungsprogramm des Literaturhauses Salzburg. Wenn das kein Schmökermaterial für meine Urlaubsruhefasen – bei diesem herrlichen Spätsommerwetter waren es nicht allzu viele – auf dem Balkon der Ferienwohnung im Hause Potche war! Dagegen kamen die SALZBURGER NACHRICHTEN nicht mehr an. Bei Schlagzeilen wie „Leben wir in der Republik der Gauner?“ ist das umso verständlicher.

Aus dem Vorwort der Studie Lesen auf dem Lande geht hervor, dass sich 1971 „in Rauris, einer Marktgemeinde in einem Salzburger Hochtal, einige bekanntere und unbekanntere Schriftsteller trafen, um aus ihren Werken zu lesen und über ihre Texte zu sprechen. Seitdem gibt es die Rauriser Literaturtage jährlich.“ Damals maturierte Herta Müller (*1953) an der Nikolaus-Lenau-Schule in Temeswar. Herta Müller? Ja.

Der Österreicher Hans Eichborn (*1956) schreibt in der ihm gewidmeten und vorbehaltenen RAMPE Nr. 3/2011: „Schreiben über diesen Ort heißt sich selbst als Vereinfachung preisgeben, heißt die Verwandlungen über Bord werfen, heißt etwas greifen wollen, das nur in der Vielzahl sagbar ist. Ist diese skrupulöse Annäherung an einen Ort nicht die skrupulöse Annäherung an ein Ich?“ Er meint Attersee am Attersee. Der Fischer, Maler und Schriftsteller hat sein erstes Gedicht 1983 veröffentlicht. Zehn Jahre später erschien sein erstes Buch. Ein Jahr vor dem ersten veröffentlichten Eichhorn-Gedicht sind die Niederungen erschienen, im Banat, am südöstlichen Rand der verblichenen Monarchie – Herta Müllers erstes Buch. Wenn es im Editorial dieses „Heftes für Literatur“ über Hans Eichhorn heißt, dass „der See oft der Ausgangspunkt seiner Sprachassoziationen ist, ohne dass diese jedoch vor Ort verankert würden“, dann genügt es, den „See“ mit dem „banatschwäbischen Dorf“ auszutauschen, und schon hat man ein zutreffendes Ein-Satz-Porträt der Nobelpreisträgerin. Ob Hans Eichhorn und Herta Müller sich kennen? Ich weiß es nicht. Hans Eichhorn hat 1984 das Rauriser Arbeitsstipendium für Literatur erhalten, Herta Müller ein Jahr später den Rauriser Literaturpreis, wie im MAGAZIN nachzulesen ist.

Im Editorial desselben MAGAZINS (Ausgabe 2010) heißt es: „In Rauris haben bisher fast 400 Autorinnen und Autoren gelesen, diskutiert, das Tal erkundet und neue Freundschaften geschlossen. [...] Wir freuen uns sehr, dass jüngst, im Jahre 2009, zwei ehemalige Rauris-Preisträger mit den höchsten literarischen Auszeichnungen geehrt wurden: Walter Kappacher mit dem Büchner-Preis und Herta Müller mit dem Nobelpreis für Literatur.“ Rauris spielt also eine Rolle in den Biographien von Hans Eichhorn und Herta Müller. Und wenn die Banater Schwäbin den Oberösterreicher nicht persönlich kennt, dann kennt ihn ein anderer namhafter Literat mit donauschwäbischen Wurzeln. Vom Fotografen und Medienwissenschaftler Kurt Kaindl (*1954) erfährt man in einem RAMPE-Beitrag: „Karl-Markus Gauß hat mich als – zwar studierten, aber nichtsdestotrotz ziemlich unbelesenen – Germanisten auf Hans Eichhorn aufmerksam gemacht.“

Im Jahre 2005 gingen die 35. Rauriser Literaturtage „der Frage nach, welche Orte den eingeladenen Autorinnen und Autoren für ihr Leben und Schreiben bedeutend sind: als konkrete, geographische Orte oder als ideelle, symbolische“. Damals haben gleich drei Literaten mit südosteuropäischen Wurzeln aus ihren Werken gelesen: der „mit den sterbenden Völkern und Sprachinseln Europas“ verbundene Karl-Markus Gauß (*1954), Herta Müller, „die ihre Orte in neuesten Wort- und Bild-Collagen zum Schillern bringt“ sowie Milo Dor (1923 - 2005), „Mitteleuropäer von Geburt und Leidenschaft, der uns die Kraft der Völkerverständigung greifbar macht“. Man könnte auch sagen: der Sohn eines Palankaers (Batschka), eine Nitzkydorferin und ein Banater Serbe.

1985 war mein erstes Jahr in Deutschland. Ich erinnere mich heute noch an meine Orientierungslosigkeit. Im März jenes Jahres „scharte sich bis zwei, drei Uhr früh im Rauriserhof ein kleiner Kreis um die rumänische Autorin und konnte nicht fassen, was sie zu berichten wusste“. (DAS MAGAZIN). Herta Müller kehrte danach ins Banat zurück, zu den Menschen, die „geduckt, ängstlich, abergläubisch, prüde, bigott und mehr der vom Verlust bedrohten Tradition zugewandt als der Gegenwart“ daherkamen. (DAS MAGAZIN) Ich blieb – nicht zuletzt, um jetzt vor dem Rauriserhof zu stehen und Assoziationen zu spinnen; wahrscheinlich aus dem gleichen unbändigen Trieb, der sie alle, Milo Dor, Karl-Markus Gauß, Herta Müller, auch Hans Eichhorn und viele andere, zum Schreiben gedrängt hat und noch immer drängt: die selbst erlebte oder von unseren Vorderen in irgendeiner Weise bewusst oder unbewusst weitervermittelte Vergangenheit. (Das waren noch Zeiten, als „de Schwob in mer“ die Nudeln im Schwäbischen Bad  verteidigt hat.)

Sie, die nicht zu verdrängende Erinnerung, ist es auch, die mich dazu veranlasst hat, noch andere in meiner Urlaubslektüre unverhofft gefundene Namen zu unterstreichen: Caius Dobrescu hat in Rauris gelesen, Oskar Zemme hat den Oberösterreichischen Landeskulturpreis 1995 bekommen, im Literaturhaus Salzburg kann man am 17. September 2012 um 20 Uhr den „Polyphonen Erzählungen – Ich wachse rückwärts“ von Aglaja Veteranyi lauschen, im gleichen Haus liest Iris Wolf am 28. September 2012, ebenfalls um 20 Uhr“ und schließlich organisiert das Literaturhaus eine Literaturfahrt nach Bad Ischl und Bad Goisern. Nikolaus Lenau genoss „in den 1840er Jahren in Ischl glückliche Stunden mit seiner unerreichbaren Liebe Sophie von Löwenthal und die Schönheiten der Natur“, wirbt das Programmfaltblatt des Salzburger Literaturhauses für diese Veranstaltung.

Es ist wirklich so: Wohin man schaut, Erinnerungsgeneratoren. Man muss nur mit offenen Augen die Gegenwart durchschreiten und darf sich seinem Gestern und Vorgestern nicht verweigern.

Rauris, 07.09.2012
Anton Potche

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