Freitag, 18. Januar 2013

Seppi und Peppi unterhalten sich über Stückzahlen


Seppi und Peppi sitzen im Bahnhofscafé des nicht mehr ganz so bedauernswerten Bahnhofs einer deutschen Großstadt. Herrliches Winterwetter. Alles ist weiß.

- Fast wäre ich nicht mehr da. Wo warst du denn so lange?
- In der Firma.
- In der Firma? Du bist doch schon seit einem Jahr zu Hause.
- Stimmt. Genau heute vor einem Jahr war mein letzter Arbeitstag.
- Und was hast du heute dort gesucht?
- Nichts. Nur so. Irgendein innerer Drang.
- So wie bei den Spitzbuben? Die zieht es ja angeblich auch immer mal an ihren Tatort zurück.
- Oh. Ich bin kein Psychologe. Aber da könnte was dran sein. Täter ist man allemal da drin. Man tut ja was. Jahrelang. Ich hab mir das sogar aufgeschrieben.
- Was hast du dir aufgeschrieben?
- Die Stückzahlen meiner Kostenstelle bei Feierabend.
- Jeden Tag?
- Ja. In ein kleines Notizheft.
- Seit du in der Firma bist?
- Nicht ganz. Ich bin erst am 26. Februar 1988 auf die Idee gekommen. Seither, ja, ja, an jedem Tag, es fehlt keiner.
- Verrückt! Das sind ja knapp 24 Jahre. Du weißt also genau, was du an welchem Tag gemacht hast und was dabei herausgekommen ist.
- So ist es.
- Und dieses Heft hattest du heute auch in der Hand.
- Ja, heute Morgen, bevor ich in die Firma fuhr. Mit dem Fahrrad – wie immer.
- Und das soll ich dir alles so abnehmen?
- Damit habe ich gerechnet. Da ist das Heft. Auf der letzten Seite habe ich meine Stückzahlen zusammengezählt - mit einem Rechner. Das ist meine, also unsere Bilanz. Wie gesagt, es fehlen einige Jahre.
- Zeig mal her.

Das Gespräch ruht. Die Zahlen lassen zwei Welten erstehen: eine Phantasiewelt und eine Erinnerungswelt. Die gebündelte Bilanz lässt den Kaffee kalt werden: Ölpumpengehäuse – 12.920 Stück, Saugrohr-Einspritzer – 96.900, Saugrohr-Vergaser – 31.027, Ölfilterhalter – 1.210.123, Zylinderkurbelgehäuse (Motorblock) – 1.170.515, Lagerdeckel – 24.300, Pleuel – 392.735, Dichtflansch – 163.276. Und all diese Zahlen sind verbunden mit Namen, Namen von Maschinen, die klingen wie Familiennamen von Kollegen: Bammesberger, Haaf, Loch, Diedesheim, Fröhlich, Hüller, Becker, Herkommer, Witzig & Frank, Krause, Gehring, Hoffmann, Honsberger, Mauser, Hommel oder Grob.

- Tja. Und was bringt dir das?
- Ich schau rein.
- Und?
- Ich sehe Gesichter, gute und böse, freundliche und vergrämte. Ja, und ich finde es lustig, festzustellen, dass meine Zuordnungen wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit schon nach einem Jahr nicht mehr stimmen.
- Zuordnungen?
- Ja, wer wo und mit wem oder mit mir gearbeitet hat. Das ist bereits jetzt, nach nur einem Jahr, wie das Erwachen aus einem Traum. Da war doch was. Aber es ist nichts Greifbares übriggeblieben. Nur diese Namen und Zahlen.
- Wie lange willst du dieses Heft aufheben.
- So lange es den letzten Schleier vor einem Augenblick Erinnerung noch heben kann.
- Sag mal, bist du gerne zur Arbeit gegangen?
- Nein, nein! Ich hatte überhaupt keine emotionale Bindung zu dem, was ich dort gemacht habe.
- Aber...
- Ja, ja, ich weiß schon. Dieses Heft scheint eine andere Sprache zu sprechen. Aber das täuscht. Es war für mich eine tägliche Schweinehundüberwindung.
- Aber warum...
- Um zu überleben, meine Familie über die Runden zu bringen und nicht aus einem persönlichen Erfüllungstrieb. Nein, nein, ich bin nie in meinem Beruf aufgegangen, wie das manchmal so schön heißt. Aber was blieb mir auch übrig, ein Mensch ohne jedwelche außergewöhnliche Talente, nur da zum...
- Also hör mal, man sollte sein Licht nie unter den Schemel stellen.
- Das will ich auch nicht. Ich will damit nur sagen, dass ich so und nicht anders ein winziges Zahnrad war, das zum Ticken dieser riesigen Uhr beigetragen hat.
- Oder auch nicht. Denn ich erinnere mich ganz genau. Mein Großvater hat mal einen alten Wecker wieder zum Ticken gebracht, obwohl zum Schluss ein kleines Rädchen übriggeblieben war. Aber nichts für ungut. Komm, ich gib’ einen aus.

Der Schnee liegt wie ein Keuschheitsschleier über der Stadt. Darunter gärt das Leben in seiner Unkeuschheit.

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