Seppi und Peppi sitzen im Bahnhofscafé des nicht
mehr ganz so bedauernswerten Bahnhofs einer deutschen Großstadt. Herrliches
Winterwetter. Alles ist weiß.
- Fast wäre ich nicht mehr
da. Wo warst du denn so lange?
- In der Firma.
- In der Firma? Du bist
doch schon seit einem Jahr zu Hause.
- Stimmt. Genau heute vor
einem Jahr war mein letzter Arbeitstag.
- Und was hast du heute
dort gesucht?
- Nichts. Nur so.
Irgendein innerer Drang.
- So wie bei den Spitzbuben?
Die zieht es ja angeblich auch immer mal an ihren Tatort zurück.
- Oh. Ich bin kein
Psychologe. Aber da könnte was dran sein. Täter ist man allemal da drin. Man
tut ja was. Jahrelang. Ich hab mir das sogar aufgeschrieben.
- Was hast du dir aufgeschrieben?
- Die Stückzahlen meiner Kostenstelle bei
Feierabend.
- Jeden Tag?
- Ja. In ein kleines
Notizheft.
- Seit du in der Firma
bist?
- Nicht ganz. Ich bin erst
am 26. Februar 1988 auf die Idee gekommen. Seither, ja, ja, an jedem Tag, es
fehlt keiner.
- Verrückt! Das sind ja
knapp 24 Jahre. Du weißt also genau, was du an welchem Tag gemacht hast und was
dabei herausgekommen ist.
- So ist es.
- Und dieses Heft hattest
du heute auch in der Hand.
- Ja, heute Morgen, bevor
ich in die Firma fuhr. Mit dem Fahrrad – wie immer.
- Und das soll ich dir
alles so abnehmen?
- Damit habe ich
gerechnet. Da ist das Heft. Auf der letzten Seite habe ich meine Stückzahlen
zusammengezählt - mit einem Rechner. Das ist meine, also unsere Bilanz. Wie gesagt, es
fehlen einige Jahre.
- Zeig mal her.
Das Gespräch ruht. Die Zahlen lassen zwei Welten
erstehen: eine Phantasiewelt und eine Erinnerungswelt. Die gebündelte Bilanz
lässt den Kaffee kalt werden: Ölpumpengehäuse – 12.920 Stück,
Saugrohr-Einspritzer – 96.900, Saugrohr-Vergaser – 31.027, Ölfilterhalter – 1.210.123,
Zylinderkurbelgehäuse (Motorblock) – 1.170.515, Lagerdeckel – 24.300, Pleuel –
392.735, Dichtflansch – 163.276. Und all diese Zahlen sind verbunden mit Namen,
Namen von Maschinen, die klingen wie Familiennamen von Kollegen: Bammesberger,
Haaf, Loch, Diedesheim, Fröhlich, Hüller, Becker, Herkommer, Witzig &
Frank, Krause, Gehring, Hoffmann, Honsberger, Mauser, Hommel oder Grob.
- Tja. Und was bringt dir
das?
- Ich schau rein.
- Und?
- Ich sehe Gesichter, gute
und böse, freundliche und vergrämte. Ja, und ich finde es lustig,
festzustellen, dass meine Zuordnungen wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit
schon nach einem Jahr nicht mehr stimmen.
- Zuordnungen?
- Ja, wer wo und mit wem
oder mit mir gearbeitet hat. Das ist bereits jetzt, nach nur einem Jahr, wie
das Erwachen aus einem Traum. Da war doch was. Aber es ist nichts Greifbares
übriggeblieben. Nur diese Namen und Zahlen.
- Wie lange willst du
dieses Heft aufheben.
- So lange es den letzten
Schleier vor einem Augenblick Erinnerung noch heben kann.
- Sag mal, bist du gerne
zur Arbeit gegangen?
- Nein, nein! Ich hatte
überhaupt keine emotionale Bindung zu dem, was ich dort gemacht habe.
- Aber...
- Ja, ja, ich weiß schon.
Dieses Heft scheint eine andere Sprache zu sprechen. Aber das täuscht. Es war für
mich eine tägliche Schweinehundüberwindung.
- Aber warum...
- Um zu überleben, meine
Familie über die Runden zu bringen und nicht aus einem persönlichen
Erfüllungstrieb. Nein, nein, ich bin nie in meinem Beruf aufgegangen, wie das
manchmal so schön heißt. Aber was blieb mir auch übrig, ein Mensch ohne jedwelche außergewöhnliche Talente, nur da zum...
- Also hör mal, man sollte
sein Licht nie unter den Schemel stellen.
- Das will ich auch nicht.
Ich will damit nur sagen, dass ich so und nicht anders ein winziges Zahnrad
war, das zum Ticken dieser riesigen Uhr beigetragen hat.
- Oder auch nicht. Denn
ich erinnere mich ganz genau. Mein Großvater hat mal einen alten Wecker wieder
zum Ticken gebracht, obwohl zum Schluss ein kleines Rädchen übriggeblieben war.
Aber nichts für ungut. Komm, ich gib’ einen aus.
Der Schnee liegt wie ein Keuschheitsschleier über
der Stadt. Darunter gärt das Leben in seiner Unkeuschheit.
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