Gregor von Rezzori:
Memoiren eines Antisemiten – ein Roman in fünf Erzählungen; Verlag Steinhausen
GmbH, München, 1979; ISBN 3-8205-3496-2; erhältlich bei Amazon zu Preisen
zwischen 4,48 € (gebraucht) und 19,90 €
Wie der Untertitel sagt, handelt es sich hier um einen Roman
in fünf Erzählungen. Das stimmt insofern, als jedes der fünf Kapitel auch
unabhängig für sich stehen kann. Schon das erste Kapitel wirft eine Frage auf,
die gleich im zweiten Satz eine Antwort bekommt. Gut für den geneigten Leser.
1. Skutschno
„Skutschno ist ein
russisches Wort, das sich ins Deutsche schwerlich übersetzen lässt. Es bedeutet
mehr als öde Langeweile: eine seelische Leere, deren Sog wie eine unbestimmte,
aber heftig drängende Sehnsucht wirkt.“ Das klingt auch nach einem öden,
eintönigen Raum, einer Landschaft, in der so gut wie nichts Aufregendes
passiert. Dem ist aber dann doch nicht so. Das lässt schon das Alter des
Ich-Erzählers nicht zu. Er ist dreizehn und verbringt die Sommerferien auf dem
Lande bei „Onkel Hubert und Tante Sophie“, ein Ort, in dem armenische
Katholiken leben, wo es eine Synagoge als „unscheinbaren Kuppelbau“ sowie ein orthodoxes
Kloster gibt, aber auch die Villa von Dr. Goldmann, „ein Bauwerk aus zierlich
aufgemauerten knallroten Backsteinen […]: überraschend und verrückt, betürmt,
bezinnt, beerkert, mit einem an den Rändern wie ein Tortenblatt geschnittenen
und in drachenköpfige Wasserspeier ausgeeckten Blechdach, allenthalben
reichbesteckt mit Wimpeln, Hellebarden und Wetterfähnchen.“ [Eingeklammerte
Weglassungen oder Hinzufügungen stammen vom Rezensenten.]
Wo sonst kann das schon sein als in der Bukowina? Die
Monarchie ist Geschichte und Großrumänien Realität. Alte und neue Welt
vermischen sich. Tante Sophie spricht noch in der dritten Person: „Aber erst
einmal steh’ Er auf und sag’ Er anständig guten Tag, dann können wir uns weiter
unterhalten.“ Bubi erlebt diese Welt in ziemlich zwiespältiger Weise.
Einerseits bleibt er als Fremder ausgegrenzt, andererseits kommt er zum ersten
Mal mit Homosexualität, Pädophilie und Ehebruch in Berührung; zwar nicht als
direkt Involvierter, aber immerhin als aufsaugender Junge in voller Pubertät.
Oh ja, da kann dann auch schon mal Skutschno aufkommen. Schon darum, weil ja
auch noch dieser Wolf Goldmann vor Ort ist, der Sohn von Dr.Wolf Bär Goldmann
und Spielkamerad von Bubi. Und mit diesem bahnen sich die ersten anerzogenen
antisemitischen Gefühle einen Weg ins Gedankenlabyrinth des heranwachsenden
Jungen, der sich darüber freut, dass ihm bei diesem Namen, also Wolf, „nicht
peinlich zu sein brauchte wie [bei] Moische oder Jossel“, es aber „doch nicht
recht angebracht [findet], dass er hieß wie ein Recke der deutschen Heldensagen“.
2. Jugend
Bubi wächst zum Jüngling heran und bricht aus der
bukowinischen Enge aus. Bukarest, 1933. Was macht hier ein auf sich allein
gestellter Jüngling, der „jede auch nur halbwegs ansehnliche Frau“, begehrte
und „sie sofort in [seiner] Vorstellung nackt vor [sich] und [sich] auf ihr“
sah? Er sammelt natürlich reichlich positive und negative sexuelle Erfahrungen
und der Leser darf ihn dabei schmunzelnd begleiten. Dabei kann er, der
Leser, sich eine Welt vorstellen, in der
es nur so wimmelt „von Herumlungerern, Passanten und ihnen an die Fersen
gehefteten fliegenden Händlern, Bettlern, Bummlern, Hammeln, Hühnern,
getretenen Hunden, peitschenknallenden Droschkenkutschern, Bauernknäueln auf
ratternden Karren, wild hupenden Autos“ und aus der Bubi, eigentlich heißt er
Arnulf, wie ein echter Deutscher eben, eine junge Zigeunerin entgegenkommt:
„glutäugig, zähneblitzend, silbermünzenblinkend, rabenflügelschwarz“. Klar, da
ist es geschehen um den teutonischen Arnulf.
Von der Liebe allein lässt es sich allerdings mehr schlecht
als recht leben. Eine Arbeit muss her. Der Weltenstürmer findet sie bei der
Firma Afrodite Soc. An. und dekoriert
Schaufenster, ohne allerdings auf die Suche nach amourösen Abenteuern zu verzichten.
Das Verhältnis mit einer „galanteriewarenkökernden Jüdin“ bildet den absoluten
Höhepunkt dieses Mannwerdens. Das Karussell der Gefühle beschert unserem Arnulf
alias Bubi aber auch immer wieder Skutschno-Augenblicke. Dann, wenn der Tag
schnell zur Neige geht, befällt ihn „eine Schwermut, als wäre [er] vollkommen
verwaist“. Klar: Heimweh! Nach einer Welt, die ein Rezensent nur zitieren kann:
„Wie einen jähen Schmerz empfand ich Heimweh nach Hause, nach der Bukowina, wo
ich besonders diese Stunde knapp vor Einfall der Dunkelheit so sehr geliebt
hatte, daß ich dazu immer wieder aus dem Haus und ins Land hinausgelaufen war,
in dies abstrakte fliederfarbene Licht, dessen fledermausdurchgaukelter Grund
schon rauchig war vom Staub der Dunkelheit, Nachtwind schon mit dem Duft des
Heus von fernen Wiesen im Gesicht und vor mir, wo gegen Galizien hin das flache
Land ausfächerte in kosmische Weite, um dort mit dem Himmel zu verschmelzen,
den ungeheuerlichen Ursprung der Nacht.“ Das ist/war Rezzori (1914 - 1998) wie er leibt und lebt: nicht nur
Gesellschaftssatire, bissig und sarkastisch, sondern auch Poesie in der
Sprache, voller Gefühl und mit spürbarer Aufrichtigkeit.
3. Pension
Löwinger
„Die Löwinger waren ungarische Juden aus der Gegend um
Temeschwar, wo die rumänische, die österreichische und die jüdische Küche mit
der ungarischen glücklich zusammentrafen.“ Und genau hier landet Arnulf, denn
neben Liebe und Brot tut auch eine Unterkunft gut. Dieser Lebensabschnitt ist
„ein Stück [seiner] Biographie, mit der [er sich] oft nachdenklich beschäftigt
hat“. Natürlich geht es auch in dieser Erzählung um Liebe. Es gesellen sich
aber auch gesellschaftspolitische Untertöne hinzu.
Der Leser begleitet Arnulf auf seinem Weg der keimenden
Begehrlichkeiten. Fräulein Alvaro ist das Subjekt seiner Begierde, aber auch
des zermürbenden Zögerns, des Glaubens, des Eiferns, des Scheiterns bis hin zur
Gottlosigkeit und letztendlich des schändlichen Verrats. „Oh, verstehen Sie das
recht, die Liebe meiner Tante war eine jüdische Liebe: selbstsüchtig,
eifersüchtig, eifernd, ungenügsam, vor nichts haltmachend, auch nicht vor dem
Bösen, nicht vor der Verleugnung, dem Betrug, der Lüge“, erzählt Fräulein
Alvaro dem staunenden und immer noch selbstzweifelnden Arnulf (der wohl doch
noch ein Bubi geblieben war), um nachher mit einem anderen ins Bett zu steigen.
Inzwischen ist es März 1938 und Zeit für Arnulf, nach beinahe vier Jahren
Balkan, in Richtung Wien aufzubrechen.
4. Treue
Wir sind mit Arnulf in Wien und erfahren spätestens jetzt,
was Antisemitismus bedeutet. Es ist aber nicht der Antisemitismus Arnulfs,
sondern der seines Umfeldes. Ihm geht es nicht anders als bisher: Er verliebt
sich in Minka Raubitschek, ein jüdisches Mädchen. Und schon bricht die
indoktrinierte Erziehung über ihn herein und stürzt ihn in Gewissenskonflikte:
„Die Möglichkeit, mich in den Armen einer kleinen Jüdin vorzustellen und dabei
alle Wonnen des Verliebten zu empfinden – und diese Vorstellung stellte sich
verschiedentlich und mit jeweils unverminderter Heftigkeit ein – wies
tatsächlich darauf hin, dass es mir an Charakter, an moralischem Rückgrat
gebrach.“
Bisher war alles klar, auch Rezzoris Erzählstil. Ab jetzt wird es zusehends vernebelter. Die
Sprache nimmt surreale Züge an, wie die Zeit, die sie festhalten will. Es ist
Anschlussstimmung in Österreich. Und Herr Malik wird in Szene gesetzt, „ein
Mann von hohen sittlichen Idealen“ und „von metaphorischer Herkunft“. Arnulfs
Tanten sind fest überzeugt, dass „so wie Johannes der Täufer ausersehen war,
den Heiland anzukündigen, war nämlich Herr Malik auf Erden gekommen, um einen
anderen Entmaterialisierer zu verheißen. Sein Name sei Adolf Hitler.“ Gregor von Rezzori in Hochform.
Köstlicher Spott. Und das seitenlang. Und dazwischen eine Liebe. Unglücklich.
Und todernst. Wie man das alles in Sprache packt, ohne selbst unglaubwürdig zu
erscheinen, demonstriert der Schriftsteller aus der Bukowina hier sehr
anschaulich. Obwohl es keinen Zusammenhang gibt, wurde ich beim
Fernsehdreiteiler Unsere Mütter, unsere
Väter (Regie: Phillip Kadelbach,
Drehbuch: Stefan Kolditz) an diese
Treue-Erzählung erinnert.
5. Prawda
Ende. Das Alter. Die Erinnerungen fordern ihr Recht. Auch
bei Arnulf. Obwohl das an Gräuel so reiche Jahrhundert noch 21 Jahre zu
durchschreiten hat. Ein Zeitrafferkapitel, könnte man über diese Erzählung
sagen, mit drei geehelichten Frauen und einem früh verstorbenen Sohn. Die erste
Gattin war ostpreußisch, die zweite jüdisch, die dritte italienisch. Diese
dritte und letzte Frau hat eine 94-jährige russische Tante und Arnulf will sie
besuchen. Er kommt zu spät. Sie ist gestorben. Ihr letztes Wort war laut der
Portiersfrau, die sie gepflegt hat, „Prawda“. Meinte sie die Zeitung oder nur
die Wahrheit?
Inwieweit hat Gregor
von Rezzori sie geschildert, die Wahrheit, Arnulfs Wahrheit, und wie viel
von seiner Wahrheit, seinem Leben hat er in diesen Roman eingebracht? Die
zeitlichen Eckdaten der Handlung stimmen auf jeden Fall mit den biographischen
Lebenssträngen des Romanciers überein.
Gregor von Rezzori
gehört nicht zu der Riege berühmter jüdischer Autoren aus der Bukowina wie Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred
Margul Sperber u. a. Er war ein deutscher Schriftsteller; einer, der, wenn
Arnulf sein Alter Ego ist, sich zu seinem Antisemitismus bekennt. Das
allerdings war eine Fremdenfeindlichkeit, die mit der verbrecherischen
Weltanschauung der Nazis nichts am Hut hatte, sonder eher als ein schalkhaft
ironischer Blick auf das Anderssein registriert werden kann. Und wenn der Spott
in Rezzoris stilistisch brillanten
Sprache mal beißend wird, dann geht es immer um die wirklich Verdummten.
[Ingolstadt, 2013]
Anton Potche
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