Montag, 13. August 2018

Ja, ich kenne jemand!


„Kennen Sie jemand, der ohne Bestechung ausgereist ist?“ Diese eher rhetorische und mit Sicherheit bewusst provozierende Frage stand kürzlich als Überschrift eines Artikels in der BANATER POST, München, 20. Mai 2018. Also lasse ich mich ebenso bewusst provozieren und antworte wahrheitsgetreu mit „Ja“. Und das Unglaubliche passierte so.

Wie ich es geschafft habe, ins gelobte Land zu kommen, habe ich in meinem Buch Kurzprosa aus der Hecke und dem Spind in einem Autobiographischen Rückblick mit dem Titel Das Geschäft erzählt. Mit mir waren meine Frau und der vierjährige Sohn ganz „legal“, also mit dem unvermeidlichen Schmiergeld, ausgewandert. Meine Eltern saßen auch auf gepackten Koffern und meine Schwester lebte schon länger mit ihrer Familie in Deutschland. In Jahrmarkt waren sechs erwachsene Menschen zurückgeblieben, und zwar die Eltern, der Bruder, zwei Großmütter und ein Großvater meiner Frau. … Das machte summa summarum, Stand 1985, nach Adam Riese sechs mal acht ist achtundvierzigtausend (48.000) DM. Für ein Deutschlandgreenhorn, der erst mit 16.000 DM Schulden in Nürnberg angekommen war, eine sportliche Herausforderung, könnte man sagen. 

Trotz aller gemachten Erfahrungen und zirkulierenden Gemeinplätze der Marke „Ohne Geld fährt niemand!“ wollte ich nicht glauben, dass es nicht auch ohne Geld geht. Aber wie, ohne sich den Kugeln der Grenzposten auszusetzen oder Gefahr zu laufen, in der unberechenbaren Donau zu ertrinken.

Geldgerüchte kursierten zuhauf. Auch über Zahlungsmöglichkeiten in Deutschland. In München solle ein Anwalt sitzen, der auch für gutes Geld einiges bewirken könne, hieß es. Aber wie an den guten Mann herankommen, um zumindest mal seine Preisvorstellung zu erfahren? Unten, also im Banat und natürlich auch in Jahrmarkt, war das Zahlen längst ein offenes Geheimnis. Das Problem war nur, an die Geldnehmer ranzukommen. Und ich bemerkte nach unserer Ausreise auch ziemlich bald, dass die Landsleute auch hier untereinander – sofern sie sich vertrauen konnten – recht offen über die Verkaufsmethoden sprachen. In diesem Geiste erzählte uns eines Sonntagnachmittags eine Jahrmarkter Landsmännin, dass ihre Verwandten „durch diesen geheimnisvollen Münchner Anwalt ausgewandert wären“, bei dem sie, meine Landsmännin, vorstellig geworden wären. Ich roch sofort Lunte und hackte nach. Dabei war mir gar nicht der Preis das Wichtigste, denn Geld hatte ich ja sowieso keins, sondern die Modalität, vor allem, was der gute Mann gemacht hat.

Und siehe da: Das roch gar nicht so stark nach Illegalität. (Nach meinem Gespür natürlich, denn ich hatte von deutscher Rechtsauffassung überhaupt keine Ahnung.) Der Anwalt hätte viele Briefe an verschiedene politische Persönlichkeiten in den USA und auch an internationale Organisationen geschrieben, darin die Situation der Ausreisewilligen aus Rumänien geschildert und um Unterstützung gebeten. Das diese Unterstützung nur als Intervention bei der rumänischen Regierung gedacht sein konnte, war mir völlig klar.

Und dann kam der Augenblick in unserem Gespräch, den ich noch heute vor meinem geistigen Auge habe, als wäre es gestern gewesen. Auf meine lapidare Bemerkung, es wäre bestimmt interessant gewesen, zu sehen, wie der Anwalt seine Schreiben aufgesetzt hatte, erzählte die Bekannte uns, meiner Frau und mir, die Briefe wären logischerweise so verfasst gewesen, als hätte sie sie als Bittgesuch geschrieben und waren natürlich auch von ihr unterschrieben. Sie hätte die Briefe zum Unterschreiben sogar zu Hause gehabt und dabei Kopien davon angefertigt.

Mir lief es heiß und kalt zugleich den Rücken herunter. Ich hatte sofort eine Idee und scheute mich nicht zu fragen, ob ich diese Schriftstücke zur Einsicht haben könnte. Und siehe da, als gute Landsmännin und ehemalige Nachbarin gab sie uns nach ein paar Tagen das ganze Packet – es war wirklich ein Packet und kein Päckchen.

Es beinhaltete Briefe an die amerikanischen Politiker Barry Goldwater jun., George E. Brown jr., Clair W. Burgener, Sala Burton, Phillip Burton, Alfonse M. D’amato, Benjamin A. Gilman, John Glenn, William L. Armstrong, Robert Dole, Fred J. Eckert, Bill Frenzel, Mack Francis Mattingly, James R. Jones, Slade Gorton, Bill Archer, Rudy Boschwitz und Alan J. Dixon – alle diese Damen und Herren waren damals, 1985, Mitglieder des Kongresses oder des Senats -, aber auch Schreiben an verschiedene internationale Organisationen. Der Hacken an der Geschichte war bloß, dass diese Briefe – ziemlich umfangreich, fast zwei DIN-A4-Seiten – alle in englischer oder französischer Sprache verfasst waren … und ich die eine Sprache so gut beherrschte wie die andere, also gar nicht.

Aber auch diese Hürde sollte sich als überwindbar herausstellen, denn in München studierte damals mein Freund Ignatz Maschinenbau und seine Frau Renate Englisch und Medizin. Die haben sich auch sofort bereit erklärt, alle diese Briefe in den jeweiligen Sprachen an unsere Familiensituation anzupassen. Da staunte dann nach einiger Zeit ein Postbeamte in Ingolstadt nicht schlecht, als plötzlich ein Kunde vor ihm stand und so viele Briefe mit Einschreiben und Rückschein an Kongressmänner und Senatoren in den USA schickte. Einige dieser Briefsendungen, alle DIN A4, kamen ungeöffnet zurück, andere blieben unbeantwortet und einige wurden beantwortet, immer höflich und mit der Zusage, im Rahmen der Möglichkeiten an entsprechender Stelle zu intervenieren.

Ich gab mich mit dieser Aktion aber keineswegs zufrieden und schrieb weiter … diesmal auf Deutsch. Und zwar an Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Dr. Hans Stercken (MdB), Dr. Walter Althammer, MdB, Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU  Bundestagsfraktion und Vorsitzender der deutsch-rumänischen Parlamentariergruppe sowie an Dr. Franz Josef Strauß, Bayerischer Ministerpräsident. Als mir auch das nicht ausreichend schien, schrieb ich weiter … auf Rumänisch. Und zwar an Nicolae Ceaușescu und an Elena Ceaușescu. Was in diesen Briefen stand, empfinde ich heute noch als die Spitze perverser Personenhuldigung. (Aber nicht mit Bedauern!) Nicht ganz so eckelhaft schleimig war mir ein Brief ans Passamt in Temeswar geraten. (Ich muss mich ja dafür nicht schämen, fungierte doch immer meine Frau als Verfasserin und Absenderin.)

Tja, und dann war da noch diese Geschichte mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dem Musikblatt aus einem Notenheft der Schierlinger Bierzeltkapelle des Joe Watzke. Daraus ist dann die Erzählung E Musikblat-Brief forr de Außenminister entstanden. In der Realität hat sich nach diesem Ereignis ein reger Schriftverkehr zwischen uns und dem Auswärtigen Amt, dem Deutschen Roten Kreuz und der Deutschen Botschaft in Bukarest entwickelt.

Am 20. Dezember 1987 sind dann die Eltern meiner Frau, ihr Bruder und ihre zwei Großmütter – der Großvater hat es nicht mehr geschafft, er ist im August jenes Jahres verstorben – als „illegale Aussiedler“, also ohne Schmiergeld gezahlt zu haben, in Nürnberg angekommen. Was ich allerdings bis heute nicht weiß, ist, wessen Intervention bei den rumänischen Behörden die ausschlaggebende war. Was bleibt, ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass es auch ohne Schmiergeldzahlung beim Bogdan, Blumenmann & Co. möglich war auszuwandern.

Anton Potche

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