Mittwoch, 12. April 2023

„50 Luft“

Harald Hartung (Auswahl): Luftfracht – Internationale Poesie 1940 bis 1990; Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 1991; ISBN 3-821-4423-X; 453 Seiten, Hardcover; (noch erhältlich bei Onlin-Händlern).

Faltet man einen Papierflieger und wirft ihn in die Luft, dann fliegt er meistens dorthin, wo er und nicht der Papierbastler will. Also haben wir es mit einem echten Spielverderber zu tun.

Das Buch vor mir auf dem Tisch heißt Luftfracht und ist auf dem Einband mit einem Papierflieger illustriert. Darunter kann man folgenden Text lesen: „ Poesie scheint die luftigste Sache der Welt, ein Produkt, das die geringsten Transportkapazitäten benötigt: keine Großraumflugzeuge, sondern Briefe, Bücher, Zeitschriften, Anthologien. Doch Vorsicht: sie hat zugleich ein beträchtliches spezifisches Gewicht, das sich den üblichen Messungen entzieht.“ Daher kommen dann auch die unvorhersehbaren Flugrichtungen. Und der Leser weiß, schon bevor er diese Gedichtsammlung aufschlägt, dass der Vater des vorliegenden Kanons ihn nicht auf eine starre Auswahllinie festlegen will, sondern ihm alle Interpretationsfreiräume zugesteht.

Harald Hartung (*1932), Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, hat diese Luftfracht zusammengestellt. Wie damit umzugehen ist, bleibt wie weiland bei jeder Anthologie dem Leser überlassen. Der wird aber keineswegs ins kalte Wasser gestoßen, sondern bekommt in einem aufschlussreichen Einführungsmaterial unter dem Titel Poesie im Prozeß – Notizen zur modernen Lyrik 1940 – 1990 eine wertvolle Hilfestellung. Diese sachkundige Einführung ist wie auch die vorangehende Einleitung Die Luftfracht der Poesie – Ein Prospekt nicht signiert. Ob beide Texte von Harald Hartung oder einer vielleicht von Hans Magnus Enzensberger (1929 - 2022), der die ANDERE BIBLIOTHEK im Eichborn Verlag herausgebracht hat, verfasst wurden, bleibt verschlüsselt. Sicher ist, dass die hier transportierte Luftfracht der 80. Band dieser deutsche Literaturgeschichte schreibenden Veröffentlichungsreihe ist. 

50 Jahre Poesie aus vielen Ländern der Welt wird in Packungen zu je einem Jahrzehnt in sogenannten Magazinen transportiert. Also von leichter Fracht kann bei mehr als 350 Gedichten, bei denen eine „Tendenz zur reinen, absoluten und hermetischen Lyrik“ vom Autor des Einführungstextes angemahnt wird, keine Rede sein. Frank Schirmacher meinte in der FAZ, dass „Hartungs Anthologie der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich macht, daß die relevante Poesie seit 1945 Gedichte als Kritik von Gedichten schrieb“. Uff, das schreckt Liebhaber von schönen, leicht verständlichen und gefühlsbetonten Gedichten (wie mich) eher ab, als dass es sie zum Zugreifen ermuntert.

Ich habe trotzdem hingelangt. Und gelesen. Mit und ohne Vergnügen. Mit und ohne Gewinn. Aber auch mit der einen und anderen Überraschung. Da werden zum einen auch Gedichte in ihrer Originalsprache vorgestellt, gefolgt von der deutschen Übersetzung. Und es gibt, muss man erwähnen, auch kleingedruckte Kurzessays von einigen Autoren.

So schreibt Giuseppe Ungaretti (1888 – 1970) unter sein italienisches Gedicht Per sempre: „Die Dichtung besteht einerseits aus Wörtern mit genau festgelegter Bedeutung, jenseits dieser genau festgelegten Bedeutung wird in der Psyche dessen, der sie liest oder hört, eine Bedeutung erzeugt, die intellektuell nicht vollkommen erfaßbar ist.“ Und zu dieser Theorie wird das praktische Beispiel aufs Exempel geliefert. Und zwar in Form von drei Übersetzungen dieses Gedichts. Ingeborg Bachmann (1926 – 1973): Für immer; Paul Celan (1920 – 1970): Für allezeit; Hilde Domin (1909 – 2006): Auf immer. Also das zu lesen, kann wirklich Genussgefühle auslösen. Hier konnte der Literaturwissenschaftler Hartung seinem Wissenschaftsdrang anscheinend nicht widerstehen. Und das ist wirklich gut so.

Und dann komme ich auch in den Genuss von Reimen, wirklichen Reimen, guten Reimen. Andrej Wosnessenskij (1933 – 2010) – Striptease: „Revue. Die Tänzerin zupft und albert sich nackt. / Heul ich, oder hat mir der Scheinwerfer die Augen ausgehackt?“ Und damit ich mit meinem altmodischen Geschmack nicht verzweifle, greift der Autor mir unter die Arme und richtet mich auf: „>Kleiner<, sagt sie, >kenn ich den Akzent? / Nehmen wir Martini und Absinth!<“ Danke. Es geht doch. Aber die Übersetzer dieser Lyrik sollten hier unbedingt erwähnt werden : Eckhart Schmidt & Alexander Kaempfe.

Wenn ich gut gezählt habe, wurden von Harald Hartung 129 Autoren in diese Anthologie aufgenommen und alle mit einer Vita bedacht. Natürlich habe ich meinem Abstammungspatriotismus gemäß ein Augenmerk besonders auf die Gruppe der Südosteuropäer gerichtet. Und da spürte ich dann schon eine gewisse Genugtuung: Paul Celan (1920 – 1970, als Autor & Übersetzer), Mircea Dinescu (*1950, Autor), Werner Söllner (1951 – 2019, Übersetzer), Oskar Pastior (1927 – 2006, Autor & Übersetzer), Vasko Popa (1922 – 1991, Autor) Marin Sorescu (1936 – 1996, Autor) und Immanuel Weißglas (1920 – 1979, Autor).

Was Mircea Dinescu im Sommer 1988, also noch zur Zeit der Ceaușescu-Diktatur, zum Status des Autors in Ost- und Südosteuropa festgehalten hat, verdient es in Gänze wiedergegeben zu werden: „Die Schriftsteller aus dem Osten leiden mitunter an unbewußten und eleganten beruflichen Deformierungen, denn in einem totalitären System kann, wer nicht humpelt, anormal scheinen; von der Tatsache mal abgesehen, daß zwischen Schein und Sein nur mit polizeilichem Visum verkehrt werden darf. Die Zensur und, noch widerwärtiger, ihr uneheliches Balg, die Selbstzensur, drängen einen dazu, aus freien Stücken und ohne äußeren Zwang die zugelassenen orthopädischen Schuhe anzuziehen, die Anormalität zu mimen; und so schreibt man denn, um das Übel wenigstens notdürftig zu benennen, versteckte Botschaften zwischen die Zeilen, schreibt untergründig, chiffriert, gewunden und gequält, die Wahrheit in tausend Zettelchen einwickelnd – und bringt solcherart dem spanischen Stiefel als natürlicher Fußbekleidung des Häretikers eine merkwürdige Huldigung dar.“

Ich habe dieses Buch bei einer Ausmusterungsaktion gekauft: 1 kg Bücher / 1 €. Die Bibliothek-Erkennungs- oder Findungsnummer des Bandes lautet: „50 Luft“. Daran fehlt es in dieser Anthologie wahrlich nicht. Aber welche Blumenlese kann schon luftfrei existieren? Keine! Denn ohne Luft auch keine Blumen. Daher lohnt es sich, auch in diesem Buch zu schmökern. Nach Gusto, Vorlieben, Interessen oder purer Neugierde. Aber sich Gedicht für Gedicht von René Chars (1907 – 1988) Le loriotDer Pirol bis zu Joseph Brodskys (1940 – 1996) Fragment aus Verse von der Winterkampagne des Jahres 1980 durchzuarbeiten, ist bestimmt nicht immer vergnügungssteuerpflichtig.
Anton Potche

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