Harald Hartung (Auswahl):
Luftfracht – Internationale Poesie 1940 bis 1990; Eichborn Verlag,
Frankfurt am Main, 1991; ISBN 3-821-4423-X; 453 Seiten, Hardcover;
(noch erhältlich bei Onlin-Händlern).
Faltet man einen Papierflieger und
wirft ihn in die Luft, dann fliegt er meistens dorthin, wo er und
nicht der Papierbastler will. Also haben wir es mit einem echten
Spielverderber zu tun.
Das Buch vor mir auf dem Tisch heißt
Luftfracht und ist auf dem Einband mit einem
Papierflieger illustriert. Darunter kann man folgenden Text lesen: „
Poesie scheint die luftigste Sache der Welt, ein Produkt, das die
geringsten Transportkapazitäten benötigt: keine Großraumflugzeuge,
sondern Briefe, Bücher, Zeitschriften, Anthologien. Doch Vorsicht:
sie hat zugleich ein beträchtliches spezifisches Gewicht, das sich
den üblichen Messungen entzieht.“ Daher kommen dann auch die
unvorhersehbaren Flugrichtungen. Und der Leser weiß, schon bevor er
diese Gedichtsammlung aufschlägt, dass der Vater des vorliegenden
Kanons ihn nicht auf eine starre Auswahllinie festlegen will, sondern
ihm alle Interpretationsfreiräume zugesteht.
Harald Hartung (*1932),
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, hat diese Luftfracht
zusammengestellt. Wie damit umzugehen ist, bleibt wie weiland bei
jeder Anthologie dem Leser überlassen. Der wird aber keineswegs ins
kalte Wasser gestoßen, sondern bekommt in einem aufschlussreichen
Einführungsmaterial unter dem Titel Poesie im Prozeß – Notizen
zur modernen Lyrik 1940 – 1990 eine wertvolle Hilfestellung.
Diese sachkundige Einführung ist wie auch die vorangehende
Einleitung Die Luftfracht der Poesie – Ein Prospekt nicht
signiert. Ob beide Texte von Harald Hartung oder einer
vielleicht von Hans Magnus Enzensberger (1929 - 2022), der die
ANDERE BIBLIOTHEK im Eichborn Verlag herausgebracht hat, verfasst
wurden, bleibt verschlüsselt. Sicher ist, dass die hier
transportierte Luftfracht der 80. Band dieser deutsche
Literaturgeschichte schreibenden Veröffentlichungsreihe ist.
50 Jahre
Poesie aus vielen Ländern der Welt wird in Packungen zu je einem
Jahrzehnt in sogenannten Magazinen transportiert. Also von
leichter Fracht kann bei mehr als 350 Gedichten, bei denen eine
„Tendenz zur reinen, absoluten und hermetischen Lyrik“ vom Autor
des Einführungstextes angemahnt wird, keine Rede sein. Frank
Schirmacher meinte in der FAZ, dass „Hartungs Anthologie der
zweiten Jahrhunderthälfte deutlich macht, daß die relevante Poesie
seit 1945 Gedichte als Kritik von Gedichten schrieb“. Uff, das
schreckt Liebhaber von schönen, leicht verständlichen und
gefühlsbetonten Gedichten (wie mich) eher ab, als dass es sie zum
Zugreifen ermuntert.
Ich habe
trotzdem hingelangt. Und gelesen. Mit und ohne Vergnügen. Mit und
ohne Gewinn. Aber auch mit der einen und anderen Überraschung. Da
werden zum einen auch Gedichte in ihrer Originalsprache vorgestellt,
gefolgt von der deutschen Übersetzung. Und es gibt, muss man
erwähnen, auch kleingedruckte Kurzessays von einigen Autoren.
So schreibt
Giuseppe Ungaretti (1888 – 1970) unter sein italienisches
Gedicht Per sempre: „Die Dichtung besteht einerseits aus
Wörtern mit genau festgelegter Bedeutung, jenseits dieser genau
festgelegten Bedeutung wird in der Psyche dessen, der sie liest oder
hört, eine Bedeutung erzeugt, die intellektuell nicht vollkommen
erfaßbar ist.“ Und zu dieser Theorie wird das praktische Beispiel
aufs Exempel geliefert. Und zwar in Form von drei Übersetzungen
dieses Gedichts. Ingeborg Bachmann (1926 – 1973): Für
immer; Paul Celan (1920 – 1970): Für allezeit;
Hilde Domin (1909 – 2006): Auf immer. Also das zu
lesen, kann wirklich Genussgefühle auslösen. Hier konnte der
Literaturwissenschaftler Hartung seinem Wissenschaftsdrang
anscheinend nicht widerstehen. Und das ist wirklich gut so.
Und dann komme
ich auch in den Genuss von Reimen, wirklichen Reimen, guten Reimen.
Andrej Wosnessenskij (1933 – 2010) – Striptease:
„Revue. Die Tänzerin zupft und albert sich nackt. / Heul ich,
oder hat mir der Scheinwerfer die Augen ausgehackt?“ Und damit ich
mit meinem altmodischen Geschmack nicht verzweifle, greift der Autor
mir unter die Arme und richtet mich auf: „>Kleiner<, sagt
sie, >kenn ich den Akzent? / Nehmen wir Martini und Absinth!<“
Danke. Es geht doch. Aber die Übersetzer dieser Lyrik sollten hier
unbedingt erwähnt werden : Eckhart Schmidt & Alexander
Kaempfe.
Wenn ich gut
gezählt habe, wurden von Harald Hartung 129 Autoren in diese
Anthologie aufgenommen und alle mit einer Vita bedacht. Natürlich
habe ich meinem Abstammungspatriotismus gemäß ein Augenmerk
besonders auf die Gruppe der Südosteuropäer gerichtet. Und da
spürte ich dann schon eine gewisse Genugtuung: Paul Celan
(1920 – 1970, als Autor & Übersetzer), Mircea Dinescu
(*1950, Autor), Werner Söllner (1951 – 2019, Übersetzer),
Oskar Pastior (1927 – 2006, Autor & Übersetzer), Vasko
Popa (1922 – 1991, Autor) Marin Sorescu (1936 – 1996,
Autor) und Immanuel Weißglas (1920 – 1979, Autor).
Was Mircea Dinescu im Sommer
1988, also noch zur Zeit der Ceaușescu-Diktatur,
zum Status des Autors in Ost- und Südosteuropa festgehalten hat,
verdient es in Gänze wiedergegeben zu werden: „Die Schriftsteller
aus dem Osten leiden mitunter an unbewußten und eleganten
beruflichen Deformierungen, denn in einem totalitären System kann,
wer nicht humpelt, anormal scheinen; von der Tatsache mal abgesehen,
daß zwischen Schein und Sein nur mit polizeilichem Visum verkehrt
werden darf. Die Zensur und, noch widerwärtiger, ihr uneheliches
Balg, die Selbstzensur, drängen einen dazu, aus freien Stücken und
ohne äußeren Zwang die zugelassenen orthopädischen Schuhe
anzuziehen, die Anormalität zu mimen; und so schreibt man denn, um
das Übel wenigstens notdürftig zu benennen, versteckte Botschaften
zwischen die Zeilen, schreibt untergründig, chiffriert, gewunden und
gequält, die Wahrheit in tausend Zettelchen einwickelnd – und
bringt solcherart dem spanischen Stiefel als natürlicher
Fußbekleidung des Häretikers eine merkwürdige Huldigung dar.“
Ich habe dieses Buch bei einer
Ausmusterungsaktion gekauft: 1 kg Bücher / 1 €. Die
Bibliothek-Erkennungs- oder Findungsnummer des Bandes lautet: „50
Luft“. Daran fehlt es in dieser Anthologie wahrlich nicht. Aber
welche Blumenlese kann schon luftfrei existieren? Keine! Denn ohne
Luft auch keine Blumen. Daher lohnt es sich, auch in diesem Buch zu
schmökern. Nach Gusto, Vorlieben, Interessen oder purer Neugierde.
Aber sich Gedicht für Gedicht von René Chars (1907 – 1988)
Le loriot – Der Pirol bis zu Joseph Brodskys
(1940 – 1996) Fragment aus Verse von der Winterkampagne des
Jahres 1980 durchzuarbeiten, ist bestimmt nicht immer
vergnügungssteuerpflichtig.
Anton Potche
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