Montag, 11. September 2023

Autobiographie bis zum 30. Lebensjahr

Ingmar Brantsch: Ich war kein Dissident – Autobiographie; POP Verlag, Ludwigsburg, 2009; 254 Seiten, [D] 13,80 €, [AT] 17,-- €, [CH] 22,-- Sfr.

Wer ist dieser Ingmar Brantsch? Laut Kurzvita am Buchanfang wurde er „am 30. Oktober 1940 in Kronstadt / Brașov in Siebenbürgen geboren. Und er war kein Dissident, wie wir schon aus dem Titel seiner Autobiographie, die eigentlich nur eine halbe ist, erfahren. Sie enthält nur die ersten 30 Jahre seines Lebens, die bis zu seiner Ausreise nach Deutschland. Seine deutschen Jahre mussten ohne niedergeschriebenes autobiographisches Reflektieren oder Erzählungen aus dem Erfahrungsschatz des bundesdeutschen Alltags auskommen, weil er am 31. Oktober 2013 als „oft unbequemer, aber immer menschenfreundlicher […], belesener Literat, als Dichter, als Streitpartner, als Mensch“, wie Konrad Wellmann es in der HERMANNSTÄDTER ZEITUNG am 29. November 2013 formulierte, leider verstorben ist.

Die vorliegende Autobiographie macht auf jeden Fall Lust auf Mehr, was jetzt leider nicht mehr möglich ist. Das hat vor allem auch mit dem Ton und dem Stil des Autors zu tun. Der Ton ist spitzbübisch, nicht durchgehend, aber oft sogar in Situationen, die eher eine missmutige Formulierung erwarten ließen. Ingmar Brantsch hat mit leichter Feder geschrieben. Sein Humor ist fein, oft tiefgründig und nie derb. Gut, als der sich erinnernde Autor seine bewusst erlebte „Kindheit im Karpatenbogen“ Revue passieren ließ, kamen Bilder in ihm auf, die noch aus der späten Kriegs- und frühen Nachkriegszeit stammten: „Auf dem Pfarrhof – mein Onkel war der Gemeindepfarrer – spielten wir überall herum. So kamen wir auch zu dem Platz, wo man die Nachttöpfe ausleerte. Urdemokratisch grenzten wir auch diesen Platz nicht aus, was eine Typhuserkrankung für mich zur Folge hatte.“ Immerhin überlebt, wie wir heute wissen.


Dass es immer wieder solche Vorfälle im Leben des Autobiographen Ingmar Brantsch gab und wie er mit diesen oft chaotischen Situationen fertig wurde, ist ein guter Grund, zu diesem Buch zu greifen. Man gewinnt Eindrücke vom sozialen und vor allem vom multiethnischen Leben der Menschen in Siebenbürgen. Ingmar Brantsch besuchte ein rumänisches Gymnasium und konnte als siebenbürgisch sächsischer Exot so manche Erfahrung fürs spätere Leben sammeln. Etwa so: „Als die Reihe an mich gekommen war, betonte ich das Wort „balegă” - Mist – statt auf der ersten Silbe auf der zweiten, und die dörfliche Milieuschilderung endete in einem unerwarteten Heiterkeitsausbruch der Klasse.“ (Szene aus der siebenten Klasse.)

Man spürt in dem lockeren Erzählstil des Autors, ohne ermüdende Beschreibungen, dass er als Jugendlicher Sympathien für die rumänische Kultur im Allgemeinen und für die Literatur im Besonderen entwickelte. Obwohl er viele Persönlichkeiten des damaligen Kulturlebens nur namentlich streift, spürt man, dass dieses multikulturelle Klima ihm gefiel. Die Folgen waren nicht überraschend: das Studium der Germanistik in Bukarest. Und für heutige Leser hält Brantsch fest: „Im Fach Deutsch, im Germanistikstudium, gab es in Rumänien eine weltweit einmalige erfreuliche Sondersituation. Nirgendwo sonst im Ostblock – aber auch im Westblock nicht – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg einer deutschen Minderheit von 400.000 Menschen ein Recht auf eine eigene Ausbildung mit Deutsch als muttersprachlichem Unterrichtsfach für die selbständigen Schulen gewährt.“ 

Köstlich dieses Kapitel Meine Universitäten Ost mit Untertiteln, die nach seelischer Entblößung klingen: Meine im wahrsten Sinne öffentliche männliche Entjungferung, siebzehnjährig im ersten Studienjahr. Wir sind im Jahre 1957 und lernen die rumänische Hauptstadt mit einem Schwerpunkt auf dem universitären Leben kennen. Hier bekommt das Buch eine zeitgeschichtliche Wertigkeit. In den Vordergrund rückt eine deutsche Literaturszene in Bukarest. Ja, die hat es gegeben. Und wir begegnen Namen, von denen Jahrzehnte später einige im bundesdeutschen Literaturbetrieb wieder auftauchen sollten. Ingmar Brantsch hat viele von ihnen - auch aus der schreibenden Zunft in Kronstadt – gekannt, war mit ihnen befreundet oder auch nicht: Dieter Schlesak, Oskar Pastior, Eduard Eisenburger, Hans Schuller, Richard Adleff, Franz Johannes Bulhardt, Paul Schuster, Alfred Margul Sperber u. a. Es geht auch nicht ohne die Aktionsgruppe Banat. Deren Mitglieder konnte er aber persönlich gar nicht kennengelernt haben, wo sie doch einer ganz anderen Generation angehörten und weder in Bukarest noch in Kronstadt aktiv waren, sondern in Temeswar, und das zu einer Zeit, als er schon längst in der Bundesrepublik lebte. Wie auch immer, diese „Aktionsgrüppler“, wie er sie despektierlich nannte, hatten es ihm angetan. Er findet immer wieder eine Lücke für sie in seiner erinnerten Vita. 

Die Chronologie der Ereignisse findet Ingmar Brantsch nach seinem 5-jährigen Studium als „mit 21 Jahren fertiger Studienprofessor“ noch eine Weile in Bukarest, wo er eine Planstelle im Haus der Presse zugeteilt bekam, aber „viel zu früh, viel zu jung, viel zu unerfahren, und vor allem nicht stark genug“, wie er seine Leser wissen lässt. Dieses Abenteuer sollte zwei Jahre lang dauern.


Dann kehrte er ans Andrei-Șaguna-Gymnasium, seine „alte Penne“ in Kronstadt, zurück. Dazu lesen wir: „Mit 23 Jahren war ich als Studienprofessor an meinem alten Gymnasium, ein neuer Kollege meiner alten Lehrer und Gesprächsstoff im Kreise meiner alten Schulkollegen.“ Und das in einer Zeit, als sich der Geist der Achtundsechziger auch in Kronstadt bemerkbar machte. Ingmar Brantsch spürte den Hauch (Vollbart, lange Haare, Aufmüpfigkeit etc.) aus dem Westen, der ihm einige Unannehmlichkeiten bescheren sollte.

Inzwischen verstand Brantsch sich auch als Literat. Und damit kamen neue Komplikationen. Plagiat, Eitelkeit und andere einem normalen Literaturbetrieb eigene Merkmale standen auf der Tagesordnung. Auch die KARPATENRUNDSCHAU mit ihren damaligen Akteuren kommt beim Autobiographen Ingmar Brantsch schlecht weg.

Mit dieser Presse-Episode ist ein dreißigjähriges Leben eines rumäniendeutschen Intellektuellen auf seiner heimatlichen Scholle, die er mit literarischer Feder beackerte (manchmal auch im Duktus des real existierenden Sozialismus) beendet. Es ging in Köln, wie schon erwähnt, weiter. Leider ohne Autobiographie.

Anton Potche

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