Montag, 13. Oktober 2025

Poesiewurzelgrund

Harald Grill: Hinter drei Sonnenaufgängen – Balkan-Streifzüge durch Rumänien und Bulgarien bis Odessa; lichtung verlag GmbH, Viechtach, 2018; ISBN 978-3-941306-81-3; 463 Seiten, 22,00 EURO [D]. 

Harald Grill (*1951) ist ein bayerischer Dichter, Romancier, Dramaturg (Theater, Hörspiel, Radio-Futures, Hörbücher) und nicht zuletzt Reiseschriftsteller - und noch dazu ein guter, denn er kann vor allem spannend schreiben, was man zum Beispiel bei Reiseberichten ja nicht immer erlebt.

Harald Grill verheddert sich nicht im Beschreiben. Er drängt vorwärts. Und trifft immer auf Menschen. Nicht unbedingt zufällig, denn diese Reise über mehrere Monate war minuziös vorbereitet – trotz aller Wegabschweifungen.

Diese Fahrt Richtung Südost findet im Jahr 2015 statt, also zu einer Zeit, als Putin längst mit seinen verbrecherischen Schandtaten begonnen hatte. Und das in einem Auto, das „immerhin 200.000 Kilometer auf dem Buckel“ hat. In fünf großen, fettgedruckten und unzähligen kursiv geschriebenen Titeln hat Harald Grill das auf dieser Reise ins Unbekannte Festgehaltene und danach Erinnerte skizziert und so dem Erlebten vorweggenommen – aber nicht unbedingt zu dessen Nachteil. Schon die Haupttitel (Etappen) geben aneinandergereiht eine Vorahnung auf das vom Autor Erlebte: Von der ungarischen Grenze durchs rumänische Banat zur Donau“, „Mit der Fähre von Rumänien nach Bulgarien, am Iskar entlang ins Balkan-Gebirge, auf Umwegen nach Veliko Tarnovo und an der Jantra zurück zur Donau“, „Wieder in Rumänien: Am Olt entlang durch die Kleine Walachei nach Siebenbürgen und durch die Große Walachei zurück zur Donau“, „Von Russe durch die Dobrudscha nach Odessa – eine Hängepaertie“ und „Rückfahrt zur Donau, weiter entlang der Küste des Schwarzen Meeres, an der türkischen, griechischen, serbischen Grenze und durchs Struma-Tal zurück zur Donau und zum Eisernen Tor“

Die Kapitelüberschriften kann man in Farbe auf den Innenseiten der jeweils doppelten Buchdeckel auf zwei Landkarten nachvollziehen. Rot die Hinfahrt und grün die Rückfahrt.


Auf beiden Routen gibt es viel zu sehen und besonders viele Erkenntnisse zu sammeln, die man dann auch lange nach dieser Reise ins Unbekannte noch verarbeiten kann. Wie, das zeigt uns Harald Grill in diesem Reportagenbuch. Auch lyrisch. Immer wieder streut der Autor ein Gedicht ein, das seinen gesammelten Impressionen entspringt. Ein Beispiel gefällig? „unser raster // hier in unserer nähe wächst nichts / als fels und dorniges gestrüpp / zwischen den standpunkten // nur aus größerer entfernung / gewinnen wir gestalt voreinander / nehmen wir im gesicht des anderen / sogar ein lächeln wahr“. Wo solche Gedichte entstehen könnten? Der Dichter wird es wissen. Das Unterkapitel, in dem es in diesem Buch platziert ist, trägt den Titel „Donau, unnahbare Mutter“ und das folgende „Durchs verrufene Oltenien“.

Harald Grill spart in seinem Reisebuch nicht mit Anekdoten, die ihm die Menschen erzählen, sofern sie sich sprachlich verständigen können. Mit Eginald Schlattner funktioniert das natürlich vortrefflich. In Roșia / Rotberg, ca. 20 km südöstlich von Hermannstadt, wundert der Bayer Grill sich über eine geteerte Dorfstraße, die zur Kirche führt. Und der Siebenbürger Sachse Schlattner weiß, warum die so ist: „Als Otto Schily hier war, der damalige deutsche Innenminister, wollte er eine Kirche sehen, die älter ist als Berlin. […] Über Nacht hat die Gemeinde noch die Straße geteert bis hierher zu meiner Kirche. Wir rollten also über den frisch gegossenen Asphalt. Mir vis-à-vis, so wie Sie jetzt, saß der Otto Schily, daneben eine wunderschöne, blonde, schlanke, gut riechende Staatssekretärin, Aufgabengebiet Mitteleuropa, neben mir der rumänische Innenminister und auf dem Bock, in rumänischer Tracht, ein verkleideter Obrist vom Sicherheitsdienst mit dick ausgebeulter Jackentasche – da war natürlich seine Pistole drin.“

Solche Dialoge gibt es mehrere in diesem Buch. Beim dritten Versuch gelingt es Harald Grill, auch Mircea Dinescu zu interviewen. Lockere, unterhaltsame Gespräche. Leider ist das nicht immer so. Aber Grill schafft es tatsächlich auch bis „Odessa – die schönste Stadt der Welt“, so ein Untertitel. Hier wird die Stimmung bedrückt. Der Krieg ist nahe. Und man hat bei manchen Geschichten, die Grill von seinen Gesprächspartnern erfährt, das Gefühl, dass er, der Krieg, schon immer in dieser Gegend irgendwie präsent war. So etwa in der Erzählung über die „banduristi“, Musikanten, die auf der Bandura, ein Saiteninstrument, vorwiegend kosakische Lieder spielen. 1935 haben die Sowjets in Charkiv eine Veranstaltung für „banduristi“ organisiert und alle Gekommenen hingerichtet. Das erinnert doch an den walachischen Fürsten Vlad Țepeș, der Pfähler, dem der Autor auch einige Zeilen widmet.

Man liest und liest und hat irgendwie das Gefühl, dass die Poesie den Reiseschriftsteller auf seiner Südosteuropa-Reise nie loslässt. Sie reist mit dem Dichter Harald Grill. Ja, der Poet auf Reisen gerät sogar kurz vor dem Schluss seiner Reiseniederschrift - ich sagte schon – das ist mehr als ein trockener Bericht – ins Schwärmen, wenn er schreibt: „Die mitteleuropäische Kultur gründet mit ihren tiefsten Wurzeln in Südosteuropa. […] In jüngerer Zeit verweisen nicht zuletzt deutschsprachige Literaturnobelpreisträger wie Elias Canetti und Herta Müller darauf, dass der Balkan ein hervorragender Wurzelgrund für Poesie ist.“

Anton Potche

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