Dienstag, 23. Juli 2013

Unerwartete Bezugspunkte

Franziska Graf (Hg.): Notre-Dame im Banat – Beiträge zur Geschichte der Klosterschule der Armen Schulschwestern von unserer Lieben Frau (1858 – 1948); Hrsg. Landesverband Bayern der LM der Banater Schwaben, München, 2009; ISBN 3-922979-62-9; erhältlich bei Franziska Graf, 85053 Ingolstadt, Maisthuber-Str. 19, Tel.: 0841/940624

Im März des Jahres 1834 gründete Mutter Theresia von Jesu Gerhardinger (1797 – 1879) in Regensburg den Orden der Armen Schulschwestern von unserer Lieben Frau, auch bekannt als Arme Schulschwestern de Notre Dame. Der Orden breitete sich schnell in Europa aus und hatte auch in Amerika Wirkungsstätten eingerichtet. Noch zu Lebzeiten der Gründerin wirkten über 3000 Arme Schulschwestern auf dem alten Kontinent und in Übersee. 1858 kamen die ersten sechs Schulschwestern auch ins damals österreich-ungarische Banat. Die Madjarisierungswelle sollte erst neun Jahre später über diese Region hereinbrechen.

Das Banat schien diese Lehrerinnen – denn nichts anderes wahren sie im wahrsten Sinne des Wortes – bitter nötig gehabt zu haben. Anders kann man die schnelle Ausbreitung ihrer Tätigkeit außerhalb Temeswars wohl kaum erklären. Zur Jahrhundertwende (1900) gab es im Banat schon 34 Schuleinheiten, an denen 628 Arme Schulschwestern unterrichteten. Eine segensreiche Entwicklung für eine segensreiche Tätigkeit, kann man da wohl sagen. Nur, was zwei Weltkriege nicht schafften, erledigten dann die Kommunisten. 1948 zerschlugen sie den Orden. „So wurden gleichzeitig 436 Schulschwestern brotlos“, heißt es in dem Geschichtsessay von Schwester Margit Donhauser. Das waren natürlich ebenso viele Einzelschicksale – einige von haarsträubender Unmenschlichkeit geprägt.

Zurzeit hat der Orden der Armen Schulschwestern zwar wieder ein Daseinsrecht, und sicherlich auch eine Daseinsberechtigung, seine ehemalige identitätsstiftende Wirkung wird er aber wahrscheinlich so schnell nicht mehr erlangen. Schwester Maria Alvera Lutz leitet heute die kleine Gemeinschaft der Armen Schulschwestern, einige von ihnen in fortgeschrittenem Alter. 

Dieses Buch enthält Beiträge von 23 Autorinnen, viele von ihnen Schülerinnen des Römisch-Katholischen Mädchengymnasiums Notre-Dame Temeswar. Diese Schuleinheit der Armen Schulschwestern bildet eigentlich den Kern der Sammlung. Dass es dabei nicht nur um sachliche Berichte geht, sondern oft auch um emotional aufgeladene Erinnerungen, ist leicht nachvollziehbar. (Auch Wiederholungen müssen nicht gleich zum Ärgernis werden; man kann ja beim Lesen überfliegen.)

Gerade Erlebnisberichte können ein anschauliches Bild dieser Schule und der Zeit ihrer Existenz wiedergeben. Was nicht alles passieren kann! Man lese und staune: „Zenzi lief gerade an uns vorbei, als eine Klassentüre mit großer Wucht geöffnet wurde und dabei unsere Zenzi voll an der Schläfe traf. Plötzlich lag das immer freundliche, eher stille Mädchen mit den großen blauen Augen, leblos vor uns auf dem Boden.“ So Hildegard Kremper-Fackner in einem Auszug aus ihrem leider nicht beendeten Buch 50 Jahre Schweigen. Aber es ging ja noch mal gut, denn wer eins und eins zusammenzählt, könnte auch zur Schlussfolgerung kommen, dass es dieses Buch hier gar nicht gäbe, wäre Zenzi damals nicht mehr aus dem Koma aufgewacht.

Ende gut, alles gut. Franziska Graf (*1933) hat ihre Liebeserklärung an „ihre Schule“ in Form dieses informativen und vor allem menschlich warmen Buches der Welt kundgetan. Und es ist auch hier wie bei vielen Büchern: Wenn man sich ihm mit Verständnis nähert und nicht lustvoll (oder lustlos) nach der Kritikerkeule greift, wird man belohnt. Als gebürtiger Jahrmarkter liest man Sätze wie die folgenden gerne gleich zweimal: „Schwester Chantal wurde im Jahre 1882 in Jahrmarkt geboren. Auch ihre Schwester Maria Cölestine Mayer war Schulschwester, sie leitete als Oberin das Kloster in Lippa. Schwester Chantal war Direktorin des Gymnasiums in der Josefstadt und unsere Klassenlehrerin. [...] Sie war in einer rein deutschen Gemeinde geboren und beherrschte die rumänische Sprache kaum.“ Franziska Graf scheint ihre Lehrerin verehrt zu haben. Das spürt man beim Weiterlesen. Und die Jahrmarkter und das Rumänisch? Na ja, dieses Verhältnis war 50 Jahre später auch nicht viel besser. Weil aber besonders in der Nachkriegszeit die Namen Jahrmarkt und Musik kaum zu trennen waren, sei noch ein Satz aus dem Beitrag Auch wir begleiteten unseren Bischof auf seinem letzten Weg, zum Tode von Msgr. Konrad Kernweiss, zitiert: „Es sang der Lugoscher Kirchenchor, und es spielte die Jahrmarkter Loris-Kapelle.“ Das war 1981.

So findet man Bezugspunkte, die man nicht erwartet hat. Das sind Beziehungen zu Welten, die in einem schlummern und durch wenige Sätze, wenn auch nur für begrenzte Zeit, im Geist Gestalt annehmen. Verklärtheit ist dabei sogar eine willkommene Begleiterscheinung, die bis in die Gegenwart wirken kann. Wie anders soll ein ehemaliger Jahrmarkter und jetziger Wahlingolstädter fühlen, wenn er dann auch noch erfährt, dass „Schwester Hadwigis als Maria Theresia Ludowika Haberl am 5. November 1893 in Ingolstadt geboren wurde.“ Auch sie lehrte von 1927 bis 1948 an der Notre-Dame in Temeswar.

Wer dieses Buch liest und die vielen und guten Schwarzweißfotos betrachtet, spürt etwas vom Wandel der Zeiten, vom Guten und leider auch vom vielen, viel zu vielen Bösen, das in den Lebensläufen der einzelnen Schulschwestern seine Spuren hinterlassen hat. Franziska Graf hat schon viele Bücher und Broschüren mit interessantem Informationsmaterial veröffentlicht. Dieses hier verströmt zusätzlich einen Hauch von Ergriffenheit. Es geht halt auch um die eigene Kindheit.

Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen