Montag, 19. November 2018

Ein Konzert voller Überraschungen

Johanna und Siegfried Jung als Gastsolisten beim 
Ingolstädter Kammerorchester

Und das soll ein Amateurorchester sein? Chapeau, Chapeau! Ich meine das Ingolstädter Kammerorchester. Ein Klangkörper der auch höheren klassischen und modernen Ansprüchen gerecht wird. Rein musikalisch natürlich. Die 35 bis 40 Streicher werden nach Bedarf von Bläsern und Perkussionisten unterstützt, so dass schnell aus dem Kammerorchester ein kleines Symphonieorchester entsteht, das sich dadurch aus einer umfangreicheren Musikliteratur bedienen kann.

All das war an diesem Konzertabend, 17. November 2018, auf der Bühne des für Ingolstädter Verhältnisse mit seinem großen Angebot an Musikveranstaltungen aller Genres gut besuchten Festsaales im Stadttheater zu beobachten. Zwei Konzertteile bedeuten oft zwei musikalische Welten. So auch hier. Im ersten Teil dirigierte Kathrin Schiele-Kiehn die Symphonie Nr. 1 in g-Moll von Ètienne Nicolas Méhul (1763 -1817). Der Franzose hat 40 Opern und sechs Symphonien komponiert. Seine erste hat den klassischen Aufbau. Die vier Sätze sind dreimal mit den entsprechenden Tempi und einmal mit dem Typ des Satzes überschrieben: Allegro, Andante, Menuetto, Finale: Allegro agitato. Ein ansprechendes und gleichsam anspruchsvolles Werk. Das Ingolstädter Kammerorchester klang in allen vier Sätzen sehr ausgewogen, mit gut geschliffenen schwierigen Passagen und mit sehr sicheren Übergängen. Man spürte regelrecht die viele Probenarbeit, die in dieses Stück investiert wurde. Die Dirigentin Kathrin Schiele-Kiehn strahlte auch bei kniffligen Stellen absolute Ruhe aus, was sich spürbar auf das Orchester übertrug. Es hat sich auch diesmal als positiver Höreffekt ausgezahlt, den Kopfsatz nicht so schnell anzugehen, um den Themen überhaupt eine Wirkungschance zu geben. Im Andante spürte man, dass die Musiker das Aufeinenderhören verinnerlicht haben. Das körperlich ruhige Dirigat wirkte auch hier. Wunderschön das Aufsteigen des Themas aus dem Nichts. Der mit Menuetto gekennzeichnete dritte Satz beginnt mit einem flimmernden Fingerzupfen, dem die Bläser mit schnellen Läufen Paroli bieten. Da schien das ganze Auditorium den Atem anzuhalten. Nein, das war kein Streicher gegen Bläser sondern ein herrlicher Dialog im ¾ Takt. Beim letzten Satz wird in Kritiken oft Rossini ins Spiel gebracht. Von Epigonentum kann aber schon wegen des Altersunterschieds der zwei Komponisten nicht die Rede sein. Da war der Franzose Méhul halt etwas seiner Zeit voraus. Wie dieser Zeitvorsprung musikalisch umsetzbar ist, hat Kathrin Schiele-Kiehn an diesem Abend mit dem Ingolstädter Kammerorchester in überzeugender Manier vorgemacht. Insofern war das alles ein angenehmer erster Konzertteil, aber noch keine Überraschung.

Die sollte sich im zweiten Teil schön langsam andeuten, um schlussendlich zur Wirkung zu kommen. Suite for Strings stand auf dem Programm. John Rutter (*1945) hat sie geschrieben und vier Titelthemen behandelt: A-Roving, I have a bonnet trimmed with blue, O waly waly und Dashing away. Keine Frage. Das ist Ohrwurmmusik. Die Melodien entfalten sich mit dem ersten Ton und du hast immer den Eindruck, das habe ich doch schon einmal gehört. Nur das „wo“ bleibt meistens nebulös. Ist das Klassik oder Moderne? Wurscht, völlig Wurscht. Nur Musik, die man sich unendlich wünscht. Welch tiefgehende Entspannung, wenn bei O waly waly die erste Geige zu schweben beginnt, hoch über dem aufschauenden Orchester – aber ohne jedwede Überheblichkeit. Ein ganz junger Mann, der hier bei den Ingolstädtern am ersten Pult sitzt.


Johanna (Harfe) und Siegfried Jung (Tuba) mit dem
Ingolstädter Kammerorchester

Collage: Anton Potche

Den folgenden Konzertpunkt könnte man mit „Rückkehr in die Heimat“ bezeichnen. Auf dem Programm stand das von Willi März (*1967) komponierte Divertimento für Harfe, Tuba und Orchester. Ingolstadts Konzertbühnen haben in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte quer durch alle Genres schon viel gesehen und gehört – aber das noch nicht: Harfe und Tuba gemeinsam als Soloinstrumente. An der Harfe spielte Johanna Jung, eine geborene Ingolstädterin, die in der Donaustadt auch ihre ersten musikalischen Gehversuche wagte, um danach, wie in diesem Geschäft fast schon üblich, in die Fremde gelockt oder getrieben – aus welcher Sicht man es eben sehen will – zu werden. Ihr Weg führte sie zu bekannten Professoren und namhaften Musikwettbewerben, in große Orchester und zum Schluss ans Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck, um dort die Stelle der Solo-Harfenistin zu übernehmen. Dass es sich bei diesem Konzert um eine „Heimkehr“ handelte, zeigten schon die Umarmungen, die man vor dem Konzert im Foyer des Festsaales beobachten konnte. Johanna war aber nicht allein gekommen. Sie hatte ihren Ehemann dabei, den ebenso umtriebigen wie virtuosen Tubisten Siegfried Jung vom Orchester des Nationaltheaters Mannheim. Gekommen war von München auch der Komponist Willi März, handelte es sich bei seinem Divertimento doch um eine Uraufführung. Es gibt zwar schon eine CD-Einspielung, aber bis dato keine Liveaufführung. Dass es gar nicht so einfach war, zwei Instrumente mit so unterschiedlichen Timbres auf Solistenebene zusammenzubringen, und das auch noch mit einem Ehepaar, wo man doch wisse, „wie schwierig es manchmal schon sein kann, wenn Mann & Frau in einem Auto unterwegs sind“, erzählte der Komponist dem amüsierten Publikum. Mit dem Spaß war es allerdings vorbei, als Kathrin Schiele-Kiehn den Dirigentenstab hob und das Orchester dem Aufruf der Tuba zum Mitmachen folgte. Was Willi März hier für Johanna & Siegfried Jung sowie großes Orchester, also mit Blasinstrumenten und Schlagzeug, geschrieben hat, ist alles andere als leichte Kost, vor allem für die Protagonisten. Die Zuhörer dürfen sich dabei ruhig zurücklehnen und schöne Musik, mit ansprechenden Harmonien und reicher Themenvielfalt, genießen. Toccatina giocosa, Paesaggio und Zwiefacher bilden den Inhalt dieses Musikwerkes. Wie wunderschön diese Musik ist, wie melodiös und vor allem leise die Tuba klingen kann und wie sie von der Harfe regelrecht umsponnen wird – wie in einem märchenhaften Liebesgarn -, das war in diesem Konzert allerdings nicht immer klar zu erkennen. Zumindest dort wo ich saß, kam die Harfe nicht zu der ihr zugeschriebenen Entfaltung, wie das in der CD-Einspielung mit dem Orchester des Nationaltheaters Mannheim vortrefflich gelungen ist. (Paesaggio – Works for Tuba and Orchestra kann über Amazon, eBay und andere Anbieter online bestellt werden.) Eine Überraschung war dieser Auftritt in Ingolstadt aber allemal. Das zeigte der anhaltende Applaus nach dieser Aufführung.

Johanna Jung in der Heimat
Foto: Ewald Streitmatter
Und es sollte der Überraschungen noch nicht genug sein. Das folgende Stück ermöglichte es der Harfensolistin, die bezaubernden Saitenklänge ihres Instrumentes besser zur Geltung kommen zu lassen. Marcel Georges Lucien Grandjany (1891 – 1975), auch er Franzose, hat Aria in Classic Style komponiert. Er war selbst Harfenist, Musiklehrer und Dichter. Harfenmusik hat ja immer etwas Weihnachtliches an sich. Sie passt hervorragend in die Adventszeit. Einen Vorgeschmack auf die kommenden Wochen konnte auch diese Interpretation vermitteln. Wie die Harfentöne die sachte dahinziehenden Streicherwolken umperlten! Ja, das war ergreifend. So ergreifend, dass der Dirigentin sogar der Taktstock entglitt, was aber bestimmt so manchem Zuschauer entgangen sein dürfte, denn sie dirigierte mit gleicher Hingabe, mit präzisem, aber nicht übertriebenem Gestus weiter.

Als letztes Konzertstück stand dann an diesem Abend, dem die größte Überraschung noch bevorstehen sollte, Ionel Dumitrus (1915 – 1997) Rumänischer Tanz Nr. 2 für Tuba und Orchester in einer Bearbeitung von Willi März auf dem Programm. Das von dem virtuosen Tubazungenkünstler Siegfried Jung vorgelegte Tempo war dann doch für den einen oder anderen Musiker im Orchester etwas zu schnell. Ein Trompeter verpasste dabei sogar den Schlussakkord und genehmigte sich einen Soloabschluss, was aber dem gelungenen Gesamteindruck dieses Abends keinen Abbruch tun sollte. Im Gegenteil, live ist live und kein Selbsterlebnisgefühl kann von einer noch so perfekten Konserveneinspielung überboten werden. Von diesem Konzert wird man noch länger in Ingolstadt reden. Dessen bin ich mir sicher.

Genauso wie über die letzte Überraschung dieses Abends. Und die ist wahrlich keine unbedingt erfreuliche. Eine Sprecherin des Orchesters gab bekannt, dass Kathrin Schiele-Kiehn zum letzten Mal am Dirigentenpult stand. Sie war seit dem Gründungsjahr 1964 die erste Dirigentin, die dem Orchester vorstand. Vorher hatten vier Dirigenten den Taktstock weitergereicht. Diese Ankündigung wirkte lähmend aufs Publikum. Das Bedauern war greifbar. Angegebene Gründe sind wie in solchen Fällen immer persönlicher Natur. Als Außenstehender kann man nur die Tatsachen in Kauf nehmen und sowohl Orchester als auch Dirigentin für die Zukunft alles Gute wünschen.

Kathrin Schiele-Kiehn, Johanna
und Siegfried Jung (v.r.)

Foto: Ewald Streitmatter
Um sich aber dann doch noch zumindest beschwingt, wenn auch nicht unbedingt heiter auf den Heimweg machen zu können, spielten Siegfried Jung und das Ingolstädter Kammerorchester noch einmal für das dankbare Publikum den rasanten Schluss des Rumänischen Tanzes Nr. 2. Und diesmal ganz ohne Trompetensoloschluss.

Anton Potche


1 Kommentar:

  1. Lieber Toni,
    schön das Ihr beim Konzert wart! Herzlichen Dank für die detaillierte Kritik. Deine Worte sind immer sehr treffend und lassen den Leser richtig teilhaben, als wäre er selbst dabei gewesen!
    Herzliche Grüsse von Johanna und Siegfried

    AntwortenLöschen