Mittwoch, 3. April 2019

Lagererinnerungsliteratur

Johann Probst: Meine Geschichte über die Verschleppung der Rumäniendeutschen nach Russland im 2. Weltkrieg – Als Siebzehnjähriger nach Russland verschleppt – Erinnerungen; Eigenverlag, Crailsheim, 2009; Broschüre DIN A4, 57 Seiten.

Bei Manfred Brauneck, dem Herausgeber eines Autorenlexikons, habe ich mal gelesen, dass sich „verallgemeinerbare Kriterien“ für die Aufnahme in ein Lexikon „nicht aufstellen lassen, dass sich auch ein einheitlicher Maßstab in der ästhetischen Bewertung nicht durchhalten lässt, zu sehr sind die einzelnen Literaturbereiche (große epische Formen, Reportageliteratur, experimentelle Genres, populäre Unterhaltungsliteratur etc.) einer Eigengesetzlichkeit unterworfen.“

Zu welchem Genre könnte man die Erinnerungen des aus dem einst banatschwäbischen Dorf Jahrmarkt stammenden Johann Probst (*1927) zählen? Erinnerungsliteratur vielleicht oder noch präziser Lagerliteratur oder beides gemeinsam: Lagererinnerungsliteratur. Es gibt mittlerweile eine ansehnliche Anzahl von Niederschriften, die sich diesem Kapitel der europäischen Geschichte widmen; einige von so namhaften Autoren wie Warlam Schalamow, Hannah Arendt, Imre Kertész, Herta Müller u.v.a. Das hat die Lagerliteratur längst zu einem etablierten (aber auch umstrittenen) Begriff in der Literaturwissenschaft gemacht. Doch sind diese Namen nur die qualitative Spitze eines enormen Eisbergs, dessen Basis von den niedergeschriebenen Erinnerungen unzähliger Betroffener gebildet wird. Man denke nur an die von Stefan Teppert bisher herausgebrachten vier Bände der Anthologie Die Erinnerung bleibt. Ein großer Teil der darin veröffentlichten Texte von donauschwäbischen Autoren kann der Lagerliteratur zugeordnet werden.

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gibt es in Ost- und Südosteuropa auch viele Historiker, die dieses Thema der Deportation und Straflager im sowjetischen Einflussbereich aufgegriffen haben. Aber es gibt auch die Kategorie der handschriftlich verfassten, in Schubladen schlummernden und in den letzten Jahren dank neuer Techniken in gedruckte Broschüren fließenden  Erinnerungen. Hier kann man auch die DIN-A4-Fassung des in Crailsheim lebenden Johann Probst einordnen. Was dem Leser darin zugemutet wird, entspringt einem nie überwundenen Trauma: Deportation, Lagerleben, Flucht und Heimkehr als Menschenwrack. Die Broschüre ist eine Aneinanderreihung von sich immer wieder verlierenden und wiederfindenden Erzählfäden. Als hätte eine unsichtbare Schere die Erinnerungen des Autors in kleine Stücke zerschnitten, die lose herumfliegen und immer wieder in der Sprache einen Halt suchen. Diese Sprache ist so einfach, wie man sie sich nur vorstellen kann. Man hat den Eindruck, Gefühlskonvulsionen zu erleben, die einen zügigen Erzählfluss im Keim ersticken. Rumänische Nachrichtensprecher warnen oft in ihren Sendungen vor „fapte care vă pot afecta emotional“, also vor affektbetonten Handlungen. Genau solche Bilder transportiert diese inkohärente Sprache.

Dabei enthalten die Texte von Johann Probst auch eine interessante Insiderkomponente. Landsleute, oft Freunde oder auch Feinde aus der Freiheit, sind von heute auf morgen Leidensgenossen. Das führt zu Opfertaten, aber auch zu Schandtaten. Solche leben auch in den Erinnerungen des Autors weiter. Sie sind unauslöschlich, drängen immer wieder an die Oberfläche. Und sie sind mit Namen verbunden. Johann Probst nennt sie, die guten, die hilfsbereiten, die altruistischen, aber auch die bösen, „die mächtigen Männer“. Diese Landsleute hatten „alle Rechte und konnten machen, was sie wollten und was ihnen gefallen hat – alles Mögliche und Unmögliche“.

Den Weg vom per Handschrift verfassten Manuskript zur gedruckten Broschüre hat Pastoralreferent Raimund Probst, ein Enkel des Autors, freigelegt. Es ist zweifellos sein Verdienst, so wenig wie möglich in die Satzgestaltung der Urfassung eingegriffen  und sich wahrscheinlich auf grammatikalische Korrekturen beschränkt zu haben. Dadurch ist die emotionale Komponente dieser Erinnerungsschrift erhalten geblieben.

Anton Potche

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