Man ist da schon ein bisschen sonderbar berührt, wenn man einen literarischen Text liest, der Orte beschreibt, die man eigentlich zu kennen glaubt. Rudolf Hollinger (1910 – 1997) hat im Mai 1961 den sehr anmutig – aus jedem Satz spricht hier auch der Lyriker – klingenden Text über Eine kleine Wanderung durch die „große Natur“ geschrieben. Da heißt es an einer Stelle: „Doch dann kam der Übergang über das Gleis, und wir hielten uns nun an jenes, das nach Radna führt, aber schwächer gebaut ist, denn hier fährt – was man früher mit einer leichten Färbung ins Idyllische nannte – eine Vizinalbahn. [...] An die Gleise, die nach Radna führen, bewahre ich aus der Kindheit noch unverwischbare Erinnerungen, auch schaukelt es sich so gut in den Waggons, weil die feinen Abweichungen diese auf dem Gleis tanzen machen. An der Westseite des Gleises ziehen sich die letzten Ausläufer jenes großen Waldes hin, der sich vor Hunderten von Jahren im Nordosten unserer Stadt ausgebreitet hatte, seitdem jedoch ziemlich gelichtet worden ist.“
Als Jahrmarkter bin ich diesen Weg viele Jahre lang auf der Vizinalbahn – ich habe diese Bezeichnung hier zum ersten mal gelesen – zur Arbeit gefahren, in die Stadt und auch wieder zurück, am Jagdwald, Jachtwald haben wir gesagt, nach Hause ins Handwerker- und Musikantendorf rings um den Großen Brunnen. Um wie viel ärmer war dabei aber mein hastiges Vorbeirauschen als Rudolf Hollingers tiefes Naturempfinden an gleicher Stelle? Wie trivial, ja, gefühlsarm muss mein Empfinden im Waggon gewesen sein, wenn ich jetzt lese, was man dort draußen, außerhalb der Vizinalbahn erleben konnte: „Und ein Kuckuck rief, sieghaft, unentwegt, hier selten zu hören und deshalb umso gewichtiger sein Ruf als Wort des Schicksals: zehnmal ein Kuckuck – zehn Jahre Treue – zehn Jahre Glück ... Aber dann schwieg er, und wir schritten auf den geteerten Schwellen der Vizinalbahn.“
Es ist wieder mal die rechte Zeit, Erinnerungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Winterszeit ist dazu bestens geeignet. Und mit etwas Glück stößt man beim Stöbern in alten Zeiten auf wahre Schätze, wie die zitierten Zeilen es nicht besser beweisen könnten.
Das Deutsche Jahrbuch für Rumänien 2010 ist so ein Schatz, der es verdient, geborgen zu werden. Ich habe es rein zufällig unter der Schneedecke entdeckt, sprich, ein Bekannter hat es mir zum Lesen überlassen. Und darin fand ich diesen Text von Rudolf Hollinger neben vielen, vielen interessanten Reportagen, Porträts, Biographien, Skizzen, Interviews, Gedichten, Erzählungen und was von Textgattungen noch alles in einen Kalender passt. Die vielen hervorragenden Bildreproduktionen sollen auf gar keinen Fall hier unerwähnt bleiben.
Es kann für Rumänien wohl kaum eine bessere Werbung als diesen Kalender der deutschen Minderheit in Rumänien geben. Wie einträchtig in dem Buch Vergangenheit und Gegenwart daherkommen, ist schlicht und einfach ergreifend. So wie ich von einer ganz persönlichen Regung bei der Lektüre eines Textes regelrecht heimgesucht wurde – wer würde sich auch schon dagegen wehren wollen? -, so kann es so manchem anderen Leser mit banatschwäbischen und siebenbürgischen Wurzeln auch ergehen. Und Reisefreunden aus deutschen Landen, die nicht nur Faulenzen in der Sonne bei All-Inclusive-Verköstigungen suchen, kann dieses Jahrbuch mehr als ein informatives und vergnügliches Lesebuch sein. Es kann nämlich auch zu sehr lehrreichen Bildungsreisen an die äußeren Ränder der Einflusszonen deutscher Sprache und Kultur anregen.
Anton Potche
Deutsches Jahrbuch für Rumänien 2010; Redaktion: Rohtraut Wittstock, Ralf Steinbrück, Christine Schwarz; (Dieses Jahrbuch erscheint mit der Unterstützung des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien. Das Buch wird kostenlos vertrieben.) Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 013701 Bukarest, Piaţa Presei Libere 1
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