Ich war wie so oft auf dem Weg durch die Nacht. Die Stadt schlief. Das Glacis um die Stadt strahlte eine ganz eigenartige Atmosphäre aus. Der Mond zauberte unzählige Schatten durch die Baumkronen. Es war Mai, der Wonnemonat. Mein alter Drahtesel wurde immer langsamer. Er kennt den Weg, wie früher die Pferde der Bauern. Die fanden auch allein nach Hause. Meine Gedanken waren längst abgebogen, in anderen Sphären unterwegs. Ich weiß bloß noch, dass ich um die Mitternachtsstunde, zu Hause angekommen, zum Bleistift griff und unter anderem schrieb: "wann ich jetz unrem mond / der pension zufahr / denk ich oft driwer noh / wie des selmols so war // bestimmt hot er mich gsiehn / aah in seller naacht / wie ich bis nuff / in die happgass sin gelaaf". Und das alles, ohne Dichter zu sein.
Es sind die Stunden der Geister, der Geheimnisse, die jeder Mensch in sich trägt. Sie gebären Verse, deren Sinn sich Außenstehenden oft nicht offenbart und die zu den wildesten, ja spannensten Spekulationen, sprich literarischen Interpretationen, führen. Das alles fiel mir heute ein, als ich einen elektronischen Brief in meinem Postfach öffnete - vielen, vielen Dank. Zum Welttag der Poesie - Eine lyrische Reise. Sie findet zu später Stunde statt, in der besten Geisterstundenzeit, genau dann, wenn ich so oft auf meinem alten Bizikl in eine Richtung und mit meinen Gedanken in eine ganz andere Richtung fahre, hinaus aus der Gegenwart und zurück in ... Nein, nicht schon wieder.
Am 21. März feiert die literarische Welt den "Welttag der Poesie". Poeten sind Sterbliche wie du und ich. Nur verfügen sie über die außergewöhnliche Eigenschaft, sich auszuklinken, weg aus unserem stressträchtigen Neben- und Miteinander. Dann drehen sich in ihren Köpfen Bilder, die nur sie sehen, und die in Wortgebilden einen Weg nach draußen suchen. Das Resultat sind jene Bücher, die nie die Bestsellerlisten erklimmen, die oft nur von ihren Schöpfern gelesen werden und doch das Ehrlichste an Menschengefühlen transportieren, was in die Literatur so allgemein Eingang findet. Der erste Frühlingstag ist ihr Tag, der Tag der Dichter und ihrer Verse.
Doch feiert sie wirklich, die literarische Welt? Oder sind es nur einzelne Botschafter unserer Innenwelt, die diesen Tag zelebrieren, ihm die gebührende Ehre erweisen. Das deutsche Feuilleton? Na ja, vielleicht habe ich ja was verschlafen. Das Fernsehen, Radio? Fehlanzeige. Ein Lichtblick kommt aus Worms und heißt Eva Jauch (Foto). Der lokale Fernsehsender Offener Kanal Worms macht es möglich. Vom 21. bis zum 25. März lädt Eva Jauch "die Zuschauer ein zu einem Rückblick auf die Entwicklung der deutschen Poesie und begibt sich auf eine lyrische Reise durch die verschiedenen Zeitepochen der letzten Jahrhunderte".
Es ist 23.38 Uhr und Eva Jauch hat gelesen. Zu später Stunde. Geisterstunde. Poesiestunde, lehrreich und voller wunderbarer Beispiele. Poesie lebt erst im gesprochenen Wort auf. Nicht nur seit Oskar Pastior. Nein, diese halbe Stunde gelesener Poesie ist der beste Beweis dafür. Und wenn sie dann noch so dezent und passend musikalisch untermalt ist, dann dürfen wir von erlesener Unterhaltung sprechen - von der Antike bis zur Gegenwart.
Ergreifend: Einst und jetzt von Nikolaus Lenau. "Möchte wieder in die Gegend, / Wo ich einst so selig war, / Wo ich lebte, wo ich träumte / Meiner Jugend schönstes Jahr." ... Nein, nicht schon wieder. DichterInnen können ihre Herkunft nicht verschweigen.
Auch Eva Jauch kann mit ihren Gefühlen nicht hinter'm Berg halten. Was weiß ich - es wird wohl diese gemütsschwere Scholle gewesen sein. "So lebe ich wohl in Schweigsamkeit", zweifelt sie an sich selbst. Dichterherz, was willst du mehr? Die von Selbstzweifel geschundene Seele findet ihren Niederschlag in eigenen Gedichten, die "mit wenigen Worten Gefühle beschreiben". Der Sinn aller Poesie.
Es ist bereits nach Mitternacht. Der Wormser TV-Sender strahlt diese Sendung heute (24. März 2011) noch dreimal aus: um 7.08, 15.08 und 23.08 Uhr, sowie am Freitag um 7.08 und 15.08 Uhr. Es wäre wirklich schade, sie zu verpassen.
Anton Potche
(Foto: OK Worms)
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