Nicolae Jorga:
Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 1-5 – Unveränderte Neuausgabe der
Ausgabe Gotha, Pertes, 1908 – 1913; Primus Verlag, Darmstadt 1997; Lizenz von
Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag, KG, Frankfurt am Main 1990; ISBN
3-89678-051-4; noch erhältlich über Amazon
Mit Nicolae Jorga
ist natürlich Nicolae Iorga (1871 –
1940), der wohl größte rumänische Gelehrte aller Zeiten, gemeint. Die Deutschen
machten noch vor dem 1. Weltkrieg aus dem I ein J. Vielleicht auch darum, weil Iorga diese Geschichte des Osmanischen Reiches in deutscher Sprache verfasst
hat. Das Werk ist für Fachleute auch heute noch „zumindest im deutschen
Sprachraum das konkurrenzlose Standardwerk“ (Albert Sellner) einer osmanischen „Gesamtschau“. In fünf Bänden ist
diese „Darstellung nach den Quellen“ untergebracht. Eine immense Daten- und
Quellensammlung, die jeden noch so interessierten Leser herausfordert, wenn
nicht sogar überfordert, liegt ihr zugrunde. Nicolae Iorga hat es aber verstanden, mit seinem Erzählstil jeder
vorzeitigen Erschlaffung der Neugierde erfolgreich entgegenzuwirken.
Im ersten Band begibt der akribische Quellenforscher sich
nach eigenem Bekunden weit zurück in „die Zeit vor dem Eintritt des osmanischen
Zweiges der großen türkischen Rasse in die Weltgeschichte“. Das ist insofern
nicht einfach, als die Türken eigentlich „keine ältere Geschichtsschreibung“
vorzuweisen haben. Die älteste Inschrift in ihrer Sprache stammt aus dem Jahre
732. Um in die Vorgeschichte der Osmanen zu spähen, muss man iranische,
chinesische und oströmische Geschichtsquellen durchstöbern. Hier sollte der
Leser dieser Geschichte des Osmanischen
Reiches aber schon berücksichtigen, dass sie zwischen 1908 und 1913
niedergeschrieben wurde. Der Herauskristallisierung eines türkischen Volkes
gingen unzählige Stammeskriege voraus, die sich nicht nur zeitlich, sondern
auch geographisch auf riesige Einheiten erstrecken. Immer wieder ist vom
„Auftauchen neuer Schwärme echter Türken, die dem Westen noch nicht bekannt
waren“, die Rede. Aus dieser Gemengelage formte sich unter den Nachkommen Seldschuks (ein Nomadenräuberhäuptling)
so etwas wie ein Staatsverständnis. Zu diesem Verständnis gehörte auch, dass
„das Streben nach Beute wie das Verlangen nach kriegerischer Ehre als
sittengemäß betrachtet wurde; einen friedlichen Nachbarn zu stören und ihm zu
schaden, wurde niemals ein Staatsverbrechen für die Türken, auch nach
jahrhundertelangem Verweilen auf europäischem Boden nicht“. Bedingt durch die
seldschukische Kleinstaaterei bezog diese Philosophie sich nicht nur auf
benachbarte Völker und trug wesentlich dazu bei, dass die Herrschaft der
Seldschuken im 13. Jahrhundert zur Neige ging.
Die Zeit der Osmanen konnte beginnen. Und damit ergibt sich
für einen Rezensenten die Gelegenheit, anhand eines längeren Zitats zu zeigen,
wie unter anderem auch die Sprache Iorgas
dieses Werk so lesenswert macht. Zur „Bildung des osmanischen Staates“ heißt
es: „Die Vorfahren Osmans, des Sohnes Ertoghruls, hatten nicht nur unter
seldschukischen Fahnen gedient. Es waren Turkomanen, wilde nomadische Türken
aus dem fernen Osten, Glieder des ogusischen Stammes, der nichts von iranischer
Sprache noch von griechischen Gebräuchen wußte. Den alten Soliman, einen
Hauptmann über etliche hundert Zeltbewohner, hatte der mongolische Einfall aus
seinem turkestanischen Boden in der Nähe der Wüste entwurzelt und ihn am oberen
Euphrates zurückgelassen. Viele solcher verlorenen Anpflanzungen verdorrten
wieder, diese aber gedieh, und aus ihr erhob sich eine üppige und hartnäckige
Vegetation von Räubern, Kriegern und Hirten, aber auch Gesetzgebern und Staatsgründern.“
Die Namen dieser Herrscher sind uns schon darum geläufiger, weil sie bereits
Teil der europäischen und nicht wie die ihrer Vorfahren eher Teil der
asiatischen Geschichte sind: Osman, Urkhan, Murad I., II., III., Bajesid I., II., Mohammed I., II., III., Selim I., II., Soliman I., II., Ahmed u.a.. Noch waren diese osmanischen Herrscher, deren Horden längst
zu riesigen Heeren angewachsen waren, weit weg von Wien und bis zum
„Türken-Reichstag“ zu Regensburg sollten noch über 200 Jahre verstreichen, aber
die Griechen, Bulgaren, die rumänischen Fürstentümer, Ungarn und die
Balkanstaaten waren längst mit der Eroberungspolitik der Osmanen konfrontiert.
Band 2 beginnt mit der als Meilenstein der türkischen
Geschichte bekannten Eroberung Konstantinopels. Auch hier schillert in der
detaillierten Beschreibung des Ringens um die Festung das literarische Talent Iorgas – er hat auch Reiseerzählungen,
Theaterstücke und Gedichte geschrieben – durch: „Mohammed II. wollte seine
kaiserliche Würde – nun war er tatsächlich ein Kaiser! – nicht durch sein
Erscheinen im wilden Kampfe der hässlichsten Leidenschaft entweihen. Er wartete
an der nun weit geöffneten Pforte, vor der sein Zelt zwei Monate lang gestanden
hatte, während deren er sich in den Besitz Konstantinopels geträumt hatte.“ Im
15. Jahrhundert war die Präsenz der Türken an der Donau bereits ein
Dauerzustand. Die Fürstentümer Moldau und Walachei wurden Vasallenstaaten des
Osmanischen Reiches. Man darf sich zu Recht fragen, wie objektiv Nicolae Iorga in seinen Darstellungen
der rumänisch-türkischen Auseinandersetzungen überhaupt sein konnte, war er
doch als ein überzeugter Nationalliberale, ja als ein wahrer Patriot bekannt.
Zum Glück (oder Unglück) können wir hier rumänische Geschichtsbücher aus der
kommunistischen Zeit Rumäniens zum Vergleich heranziehen. Da bleibt dann nichts
anderes übrig, als vor Iorga den Hut
zu ziehen, auch wenn es seinerzeit in Deutschland nicht nur Zustimmung für
dieses Werk gab. Die in Fußzeilenform angegebenen Quellen sprechen schon in
ihrer Qualität für sich. In der Methodik bleibt der rumänische Historiker sich
treu: Er behält seinen fließenden, allgemein verständlichen, schöngeistig
angehauchten Erzählstil bei.
Man erfährt so aus dem dritten Band viel aus dem Innenleben
des osmanischen Machtzentrums. Und das ist wahrlich nicht immer erbaulich. So
schildert Iorga zum Beispiel das
Ende eines Sultans und den Beginn einer neuen Herrschaft: „Am 8. August, einem
Sonnabend, drangen die Aufrührer ins Serail ein und traten mit dem Bostandschi-Baschi
und der Walideh in Verhandlungen ein. Ibrahim sah sich von allen verlassen. Der
Bostandschi-Baschi ließ ihn gefangen nehmen. Prinz Mohammed, der fliehen
wollte, wurde auf den kaiserlichen Stuhl erhoben, so sehr sich der
siebenjährige Knabe auch dagegen sträubte; noch in der Nacht nahm man die
Beschneidung des neuen Sultans vor und schleppte das ohnmächtige Kind zur
Ejubsmoschee und dem Grabe Mohammeds des Eroberers, um ihm durch diesen Akt der
Pietät eine glorreiche Regierung zu sichern. Gleich darauf befahl der neue
Großwesir Mohammed die Hinrichtung des abgesetzten Herrn, die ‚mit dem Strick,
ohne jeden Lärm’ vollzogen ward.“ Man schrieb das Jahr 1648 und Iorga zitiert dazu einen rumänischen
Chronisten: „Căci că din firea lui era nebun, şi, dacă luă şi Împărăţia, stătu
şi mai nebun. – Er war von Natur toll, und als er die Herrschaft angetreten
hatte, wurde er immer toller“. (Übersetzung: Iorga). Genau 30 Jahre später regierte dieser Sultan, Mohammed IV., noch immer im Osmanischen
Reich. Und zwar so: „Alle Entschlüsse aber hingen allein von Kara-Mustafa ab;
er hatte die eigentliche Macht in Händen, da der Sultan es auch jetzt vorzog,
als reichbegüterter Privatmann zu leben und seine Zeit zwischen großen Jagden,
bei denen bis zu 40.000 Mann in Tätigkeit traten, um ein paar Hasen zu erlegen,
Lustreisen, Zwiegesprächen mit dem zigeunerischen Musaip, Liebesabenteuern mit
Sklavinnen und zufriedenen Familienleben teilte, wie er es mit der Chasseki,
dem aufgeweckten Thronfolger Mustafa, dem zweiten Sohne und den an Kara-Mustafa
und den Musaip Mustafa verlobten Prinzessinnen Aideh und Atidscheh führte.“ Und
wie erging es Kara-Mustafa? Ganz normal, könnte man sagen: „Als Mohammed IV.
das Todesurteil über seinen unglücklichen Großwesir fällte, hatte er nicht etwa
die Absicht, von nun an das Reich selbständig und aus eigener Initiative zu
leiten. […] Das Vermögen Kara-Mustafas wurde also konfisziert – man fand 3000
Beutel baren Geldes zu je 500 Reali -, sein Kechaja, seine zwei Sekretäre
(Nischandschis), sein griechischer Oberdolmetscher Alexander Maurokordatos und
weitere 14 Offiziere wurden verhaftet.“ Und der Sultan selber? „Mohammed IV.
bezog als ‚freiwillig’ zurückgetretener Effendi mit seinen zwei Söhnen ruhig
den Kerker, den Soliman eben verlassen hatte; man sah ihn traurig, aber ohne
Zeichen der Verzweiflung oder Furcht sich in sein Schicksal ergeben.“ Nach fünf
Jahren Haft soll er am 17. Dezember 1692 eines natürlichen Todes gestorben sein
– nicht gerade typisch für osmanische Gepflogenheiten.
Im vierten Band wird die Fanariotenherrschaft in den
rumänischen Fürstentümern analysiert. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte der einst
bei Mohammed IV. in Ungnade
gefallene Grieche Alexander Maurokordatos
einen bedeutenden Einfluss auf die Politik der Pforte gewonnen. „Er eröffnete
durch seine Begabung und Geschicklichkeit, und durch die klare Konsequenz, mit
der er den Begriff eines osmanischen Reiches, das griechische Klugheit in
griechischem Interesse zu leiten hatte, festhielt, die Ära der von Griechen
gelenkten Türkei, des immer siegreichen und überall herrschenden fanariotischen
Geistes, obgleich am Fanari, dem Leuchtturm von Konstantinopel, noch nicht jene
Gesellschaft reicher, ehrgeiziger und rücksichtsloser Familien ansässig
geworden war, die den Namen ‚Fanarioten’ zu eben solcher Berühmtheit gebracht
hat, wie sie ihm Verachtung und Abscheu zu erwerben wusste.“ Hier bewegt Iorga sich in einem Bereich der
Geschichte, die er sein Leben lang unermüdlich beackert hat. Zu den zahlreichen
Büchern, die der rumänische Gelehrte veröffentlicht hat – neben mehreren
tausend Artikeln – zählen auch eine Geschichte
der Rumänen in Deutsch, eine in Italienisch, eine zweibändige in
Französisch und nicht zuletzt eine zehnbändige in seiner Muttersprache. Dazu
hat er eine viel beachtete Geschichte des
rumänischen Volkes im Rahmen seiner Staatenbildungen (1905) verfasst.
Insgesamt sind von ihm 36 Bände zur rumänischen Geschichte bekannt, und darin
kommen die Fanarioten oft vor.
Im fünften Band der Geschichte
des Osmanischen Reiches widmet Nicolae
Iorga sich ausführlich der Staatenbildung des modernen Rumänien im 19.
Jahrhundert. „Die Benennung ‚Vereinigte Fürstentümer der Moldau und Walachei’,
die Einsetzung einer Zentralkommission für Gesetzgebung, gebildet aus
Delegierten beider Versammlungen und aus Mitgliedern derselben, die die
Hospodare allein zu ernennen hatten, ohne einen Staatsrat zu errichten, die
Gleichstellung beider Länder in allen Punkten der Verwaltung und der
Verteidigung, wurden allgemein angenommen; bis ins einzelne wurde die
Konstitution des neuen Staates ausgearbeitet und ein Wahlgesetz hinzugefügt. Am
19. August wurde dann diese Konvention unterzeichnet.“ Man schrieb das Jahr
1858. Dass ein Mann wie Nicolae Iorga
diese Sätze 55 Jahre später mit berechtigtem Stolz in eine Geschichte des
Osmanischen Reiches einbrachte, dürfte auf allgemeines Verständnis stoßen. Man
würde dem großen Mann der rumänischen Geisteswissenschaft sogar mehr Pathos
zugestehen. Aber „im letzten Band – in den die Zeit der rumänischen
Unabhängigkeitsbewegung fällt – sucht er hingegen bewusst den Ton des reinen,
nur gesicherte Fakten referierenden Berichts, um von vornherein allen Vorwürfen
der Voreingenommenheit zu begegnen“, wie Albert
Sellner im Nachwort dieses bemerkenswerten Werkes feststellt.
1912 endet Nicolae
Iorgas Geschichte des Osmanischen
Reiches. Nur zwölf Jahre später, aber um einen verheerenden Krieg reicher,
endet mit der Abschaffung des Kalifats die Geschichte des Osmanischen Reiches
überhaupt. Es lohnt sich, sie in ihrer ganzen Bandbreite zu lesen. Osmanische
Geschichte ist europäische Geschichte und Millionen Biographien wären ohne
diese Wucht vom Bosporus anders verlaufen.
Nicolae Iorga
macht auch dem an geschichtlichen Einzelaspekten interessierten Leser das
Suchen in diesem umfangreichen Werk (2561 Seiten) leicht. Das
Inhaltsverzeichnis an jedem Bandanfang ist nach Büchern, Kapiteln und sehr detaillierten
Themenstichworten (eine Seltenheit in solchen Geschichtswerken) gegliedert. Ein
Beispiel aus dem letzten Band: „Drittes Buch. Loslösung der militärischen
Nationalitäten vom osmanischen Staatskörper, S. 403. Erstes Kapitel: Russische
Umtriebe von der Schließung des Meerengenvertrags bis zum Krimkriege (1841 –
1853), S. 405. Absetzung des walachischen Fürsten Alexander Ghica, S. 405.
Türkische Bedenken bei der Anerkennung Michael Obrenowitsch’ als ‚Basch-Beg’ in
Serbien; Erhebung der Woiwoden gegen denselben und Haltung des russischen
Konsuls, S. 406." etc, etc.
Anton Potche
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