George Călinescu:
Rätsel um Ottilie, Roman; Buchverlag Der Morgen, Berlin 1963; 622 Seiten (mit
Nachwort & Anmerkungen); 12,- DM (DDR).
Enigma Otiliei. So
heißt der Roman in seiner Originalsprache Rumänisch. Wenn ich mich gut
erinnere, war das Werk in Rumänien sogar Schullektüre. Das war in den
Anfangssiebzigern des 20. Jahrhunderts. Also ein dem sozialistische Realismus
geschuldetes Werk, könnte man sagen. Wenn man die Umstände kennt. Beim Lesen
kommt man aber kaum auf diese Idee. Erst das Nachwort von Dr. Romul Munteanu gibt diesbezüglich
Aufschluss. Da heißt es nämlich abschließend: „Als Chefredakteur verschiedener
Zeitungen und Zeitschriften, als zutiefst begeisterter Berichterstatter der Errungenschaften
des Sozialismus, als Journalist voller Schwung und ständig neuer Gedanken, als Politiker
mit einem hohen gesellschaftlichen Bewußtsein hält George Călinescu, der
Gelehrte und Schriftsteller – jugendlich, nie müde werdend und von einem Werk
zum anderen immer erneuert -, Schritt mit dem stürmischen Rhythmus der Epoche,
in der ein immer schöneres und blühenderes Rumänien aufgebaut wird.“ Da lohnt
sich natürlich ein Blick auf den Verlag, der Rätsel um Ottilie in deutscher Sprache veröffentlicht hat, zu
werfen: Buchverlag Der Morgen, Berlin, 1963. Mit Berlin ist die Hauptstadt
gemeint. Also die DDR. Dazu passt dann auch die Logik des Schlusswortes.
Mit all dem hat der Roman aber nichts zu tun. Er wurde 1938
vom damals 39-jährigen George Călinescu fertiggestellt und hat mit dem Ansinnen einer
sozialistischen Kulturpolitik, als deren Verfechter der Autor hier geadelt
wird, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Sein Engagement als kommunistischer
Abgeordneter ab 1946 bis zu seinem Tode im Jahre 1965 war nach 1990 ein viel
diskutiertes Thema im rumänischen Feuilleton.
Rätsel um Ottilie ist
ein Sitten- und Gesellschaftsgemälde höchster literarischer Güte. Man kann nur
staunen, wie es dem Autor gelingt, die Spannung über 613 klein bedruckte Seiten
aufrechtzuerhalten, wo doch in dem Roman nichts Sensationelles passiert.
Bukarest im Jahre 1910 ist auch wahrlich nicht der Nabel der Welt. Und seine
Menschen sind auch nicht anders gepolt als ihresgleichen woanders. Diese
kleinbürgerliche Gesellschaft an der Nahtstelle zwischen Orient und Okzident
hat ihre spießbürgerlichen Sonderheiten, die sowohl zum unglaublichen
Kopfschütteln als auch zum Schmunzeln anregen.
Die Menschen in diesem Roman, etwa ein Dutzend, machen
eigentlich nichts anderes, als sich gegenseitig zu belauern. Felix’ Liebe zu
Ottilie ist ein einziges, vielköpfiges und an den Nerven zehrendes Misstrauen. Die
gesamte Verwandtschaft des geldsüchtigen Kostake Giurgiuveanu, Ottilies
Stiefvater, belauert den Alten rund um die Uhr mit der Hoffnung, an sein
Vermögen zu kommen. Der Bojar Paskalopol, mit einem Gut im Bărăgan, wo „sich die Linien des Panoramas
abrundeten und die Proportionen zwischen den Dingen mangels eines einheitlichen
Maßstabes ins Phantastische verschoben“, traut Felix nie so richtig über den
Weg, liebt er die viel jüngere Ottilie doch in einem Gemisch von väterlicher Zuneigung
und männlichem Verlangen. Selbst Nebenfiguren wie Weißmann, ein Kommilitone des
Medizin studierenden Felix, werden belauert – besonders von der dem Status
einer alternden Jungfrau entgegenschlitternden Aurika. Dieses den ganzen Roman
durchziehende Beäugen führt oft zu komischen Szenen. George Călinecu verfällt aber nicht der Versuchung, sie in billige
Witzsequenzen ausarten zu lassen. Sein Humor ist fein; und sein Spott, der
selbst vor dem Pope Tzuika, der sein Menschsein auch im Chorstuhl nicht vergisst und die stolabedeckte Aurika tröstet, nicht haltmacht: „Bist du eine Jungfrau,
zum Kuckuck, sag mir folgendes: Du hast doch nicht etwa ... häßliches Wort ...
gesündigt als heiratsfähiges Mädchen oder als du verlobt warst ... Und wenn du
schon gesündigt hast, [...], was ist schon dabei? Gott verzeiht, denn der Mann ist
ein Schwein.“
George Călinescu
gilt ja vor allem als einer der großen rumänischen Literaturkritiker. Umso
bereichernder kann daher seine Epik sein. Wir sprechen von einem Romancier, der
alle Facetten einer hochkarätigen Prosa beherrscht.
Im vorliegenden Werk haben wir es mit einem Figuren-Roman zu
tun. Und einige dieser Figuren sind unterwegs, sogar bis Paris. Aber auch im
heimatlichen Umfeld. Und sie spüren die Natur im unmittelbaren Zuhause wie
dazumal gestalten bei Klopstock oder
Goethe. „Otillie wartete gar nicht erst
die Antwort ab, führte Felix an der Hand in das Klavierzimmer, hob den Deckel,
blies einmal über die Klaviatur und begann, Chant
sans paroles von Tschaikowski zu spielen und dazu zu pfeifen. Danach sprang
sie ans Fenster und blickte in den Hof. Es schneite große Wollflöckchen, deren
Niederfallen ein Gefühl der Langsamkeit und Lautlosigkeit mit sich brachte. Die
Bäume bogen sich unter der Schneelast, und die Baumaterialien des alten Kostake
hatten mit ihrem weißen Pelzüberzug das Aussehen polarer Architektur.“ Ein
Bukarester Stimmungsbild anno 1910, literarisch gemalt von George Călinescu (1899 – 1965).
Für einen mit der rumänischen Schrift vertrauten Leser muten
die von der Übersetzerin Dr. Ingeborg
Seidel gewählte Namensschreibweise etwas gekünstelt an. Mit Kostake ist
natürlich Costache gemeint, Ratziu ist Raţiu so wie Aurika Aurica ist. Und der
Pope (orthodoxer Priester) Tzuika spricht sogar gerne der Ţuica (dem Schnaps)
zu. Ansonsten ist es bestimmt keine Zeitverschwendung auf diesen Roman zurückzugreifen,
falls er noch irgendwo auffindbar ist. Ich habe mein Exemplar vor einigen
Jahren in einem Bayreuther Antiquariat gefunden.
Bei Amazon war das Buch gestern (12.April 2015) bei sechs
Anbietern zu erwerben. Die Preise lagen zwischen 1,99 und 18,93 Euro plus
jeweils 3 Euro Versandkosten. Dabei handelt es sich um verschiedene Ausgaben,
was heißen will, dass der Roman auch in deutscher Übersetzung mehrere Auflagen
erfahren hat.
Anton Potche
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