Montag, 16. November 2015

Die Nachricht vom Tode Helmut Schmidts

Es passiert mir immer wieder, dass ich mich genau erinnere, in welcher Konstellation ich von großen geschichtlichen Umwälzungen oder vom Tode prominenter Menschen erfuhr. Wir hatten uns für einen Urlaub im Schwarzwald entschieden – eine Woche ohne Medien jedweder Art. Als wir nach sieben Tagen den einsamen Bauernhof verließen und einen Supermarkt in der Nähe von Freiburg betraten, fiel mir am Zeitungsstand zuerst die Nachricht in die Augen, dass Gorbatschow weg und Jelzin da war, also im Kreml. Ein anderes Mal fuhren wir auf einer Autobahn in der Nähe von Berlin, als meine Frau mich plötzlich bat, mit dem Erzählen inne zu halten, und das Radio lauter machte. Die Agenturen meldeten soeben, dass Diana in einem Autounfall ums Leben gekommen war.

Ein solcher Moment könnte auch die 16-Uhr-Nachricht von Bayern 4 Klassik vom 10. November 2015 gewesen sein: Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist tot. Ich saß im Auto auf dem Parkplatz einer Ingolstädter Schule und wartete, bis meine Enkelinnen ihre Turnstunde absolviert hatten. Auf die Nachricht folgte eine kleine Programmänderung in der folgenden Sendung, die unter dem Namen „Leporello“ werktags ab 16 Uhr ausgestrahlt wird. Es erklang das Adagio aus Mozarts Konzert für 3 Klaviere und Orchester, F-Dur, gespielt vom London Philharmonic Orchestra und den Solisten Christoph Eschenbach (auf dem Cover rechts), Justus Franz (links) und … Helmut Schmidt.

Genau die richtige Musik, um sich zu erinnern. Als ich meinen Militärdienst in Rumänien antrat, war in Deutschland Willy Brand (SPD) Regierungschef. In Rumänien war es der Kommunist Nicolae Ceaușescu. Als ich nach 16 Monaten Militärdienst nach Hause kam, war der Sozialdemokrat Helmut Schmidt in Deutschland Bundeskanzler. In Rumänien war noch immer Genosse Ceaușescu an der Macht.

Am 31. Januar 1967 hatte die Bundesrepublik Deutschland mit der Sozialistischen Republik Rumänien, als erstem Staat des sozialistischen Ostblocks, diplomatische Beziehungen aufgenommen. Tags zuvor gab es zu diesem Ereignis ein Staatsbankett, das Willy Brand die Gelegenheit gab, sich in seiner Tischrede mit folgenden Worten an den rumänischen Außenminister Corneliu Mănescu zu wenden: „Unsere Völker standen seit altersher als Gebende und Nehmende in einem fruchtbaren geistigen Austausch. In der Druckerei des Stadtrichters Lukas Hirracher in Siebenbürgen druckte vor 400 Jahren der Diakon Coresi die ersten rumänischen Texte. Der rumänische Staatsmann Kogălniceanu sprach die Erfahrungen vieler rumänischer Deutschlandreisender aus: >Die deutsche Universität … schenkte mir die Liebe zum Vaterland und den Geist der Freiheit.< Andrerseits ehrte Deutschland den greisen Tudor Arghezi stellvertretend für viele rumänische Dichter im Jahre 1964 mit dem Herderpreis und applaudiert fast in jedem Stadttheater heute den Werken Ihres großen Ionesco. […] Einst wirkten deutsche Handwerker am Aufbau einer eigenständigen rumänischen Wirtschaft mit. Damals sagten die Rumänen, die zum Handwerker gingen: >Ich gehe zum Deutschen.< […] Unsere Völker hatten und haben sich in der Tat viel zu geben.“ Wie die rumänischen Diplomaten – der Delegation gehörten auch Chivu Stoica und Ion Gheorghe Maurer an – auf diesen geschichtlich-kulturellen Farbtupfer in der Rede Willy Brandts reagierten, ist nicht überliefert. Sie gehörten auf jeden Fall noch zur alten Garde des 1965 verstorbenen Gheorghe Gheorghiu Dej, ein Beleg dafür, dass Nicolae Ceaușescu seine Macht noch nicht gefestigt hatte. Ich war damals Schüler in der Jahrmarkter Volksschule und hatte noch kein Gespür für Politik.

Die hatte allerdings Brandts Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Schmidt, vonnöten, als er am 6. und 7. Januar 1978 dem auf einen Diktatorstatus zusteuernden Ceaușescu in Bukarest gegenübersaß. Zwei Genossen: ein kommunistischer und ein sozialdemokratischer. Wobei Letzterer, also Schmidt, das Wort „Genosse“ überhaupt nicht mochte, wie Michael Naumann in einem Nachruf in der FAZ bemerkte. Aber „er wusste, wie Geschichte gemacht wird – und von wem.“

Helmut Schmidt & Nicolae Ceaușescu
Quelle: tagesspiegel.de
Zwei Jahre später verabschiedeten die Landsmannschaften der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen eine Resolution, in der es unter anderem hieß, dass sie „mit großer Dankbarkeit feststellen, dass die Familienzusammenführung aus Rumänien – gestützt auf die Absprachen zwischen Bundeskanzler Schmidt und Staatspräsident Ceaușescu vom Januar 1978 in den vergangenen zwei Jahren gute Fortschritte gemacht hat. In den Jahren 1978 und 1979 sind insgesamt 21.738 Deutsche aus Rumänien zu uns in die Bundesrepublik Deutschland gekommen.“ Heute weiß man, dass im Brandtschen Sinn sich auch während Helmut Schmidts Kanzlerschaft Rumänien und die Bundesrepublik Deutschland „in der Tat viel zu geben“ hatten: Menschen gegen Devisen.

Ich war damals noch in Jahrmarkt / Giarmata und spürte, wie sich Schritt für Schritt, langsam aber stetig alles nur um ein Thema zu drehen begann: Auswanderung. Die von Schmidt und Ceaușescu ausgehandelte Quote hatte sich schnell herumgesprochen und vermittelte das Gefühl, die Hoffnung „es geht weiter“.

Am 1. Oktober 1982 war Helmut Schmidt weg und Helmut Kohl da – im Kanzleramt. In Rumänien war noch immer Genosse Ceaușescu an der Macht. Und ich war mit Frau und Kind noch immer in Rumänien. Nicht dass es uns erbärmlich schlecht gegangen wäre – im Vergleich zu den Flüchtlingen aus Aleppo lebten wir in paradiesischen Verhältnissen -, aber das Fieber war nun mal da und der Artikel 116 im deutschen Grundgesetz mehr als verlockend. (Bettina Höfling schrieb 1993 in einem Essay für die Broschüre der Hans Seidel Stiftung Politische Studien: „Diejenigen beispielsweise, die als >Volksdeutsche< ein grundrechtlich geschütztes Recht auf Rückkehr bzw. Zutritt in die Bundesrepublik Deutschland haben, lassen jeweils nichtdeutsche Freunde, Nachbarn und Gemeinden zurück, deren Wanderungsmotivation genauso ausgeprägt und aus den selben Ursachen gespeist sein können, wie dies bei den durch Art. 116 GG rechtlich Privilegierten der Fall ist.") So versuchte auch ich, meinen Obolus bei den Menschenhändlern in Temeswar zu zahlen. 1984 haben sie ihn mir dankend abgenommen und ich gehörte zu den „durch Art. 116 GG rechtlich Privilegierten“.

Das Adagio war längst verklungen. Aus dem Radio kam ein anderes Stück. Oder war es vielleicht sogar schon das zweite oder dritte nach Helmut Schmidt & Co.? Ich warf einen Blick auf die Handuhr. Aber jetzt schnell, sonst geraten meine Kleinen in Panik. Wenn die Turnstunde vorbei ist, hat der Opa da zu sein. Auf dem Weg zur Turnhalle blitzte noch kurz der Gedanke auf: Du hattest nur Glück, unverschämt viel Glück. Dann vernahm ich schon die lärmenden Kinder im Treppenhaus. Das Leben geht weiter. Irgendwie. Hoffentlich auch für die vielen Kinder auf den Meeren und in den Schluchten des Balkan.

Anton Potche

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