Es passiert mir immer wieder, dass ich mich genau erinnere,
in welcher Konstellation ich von großen geschichtlichen Umwälzungen oder vom
Tode prominenter Menschen erfuhr. Wir hatten uns für einen Urlaub im Schwarzwald
entschieden – eine Woche ohne Medien jedweder Art. Als wir nach sieben Tagen
den einsamen Bauernhof verließen und einen Supermarkt in der Nähe von Freiburg
betraten, fiel mir am Zeitungsstand zuerst die Nachricht in die Augen, dass Gorbatschow weg und Jelzin da war, also im Kreml. Ein
anderes Mal fuhren wir auf einer Autobahn in der Nähe von Berlin, als meine
Frau mich plötzlich bat, mit dem Erzählen inne zu halten, und das Radio lauter
machte. Die Agenturen meldeten soeben, dass Diana in einem Autounfall ums Leben
gekommen war.
Ein solcher Moment könnte auch die 16-Uhr-Nachricht von
Bayern 4 Klassik vom 10. November 2015 gewesen sein: Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist tot. Ich saß im Auto
auf dem Parkplatz einer Ingolstädter Schule und wartete, bis meine Enkelinnen
ihre Turnstunde absolviert hatten. Auf die Nachricht folgte eine kleine
Programmänderung in der folgenden Sendung, die unter dem Namen „Leporello“
werktags ab 16 Uhr ausgestrahlt wird. Es erklang das Adagio aus Mozarts Konzert für 3 Klaviere und Orchester, F-Dur, gespielt vom London
Philharmonic Orchestra und den Solisten Christoph Eschenbach (auf dem Cover rechts), Justus Franz (links) und … Helmut
Schmidt.
Genau die richtige Musik, um sich zu erinnern. Als ich
meinen Militärdienst in Rumänien antrat, war in Deutschland Willy Brand (SPD) Regierungschef. In
Rumänien war es der Kommunist Nicolae
Ceaușescu. Als ich nach 16 Monaten Militärdienst nach Hause kam, war der
Sozialdemokrat Helmut Schmidt in
Deutschland Bundeskanzler. In Rumänien war noch immer Genosse Ceaușescu an der Macht.
Am 31. Januar 1967 hatte die Bundesrepublik Deutschland mit
der Sozialistischen Republik Rumänien, als erstem Staat des sozialistischen
Ostblocks, diplomatische Beziehungen aufgenommen. Tags zuvor gab es zu diesem
Ereignis ein Staatsbankett, das Willy
Brand die Gelegenheit gab, sich in seiner Tischrede mit folgenden Worten an
den rumänischen Außenminister Corneliu Mănescu zu wenden: „Unsere Völker standen seit altersher als Gebende und Nehmende in einem fruchtbaren
geistigen Austausch. In der Druckerei des Stadtrichters Lukas Hirracher in
Siebenbürgen druckte vor 400 Jahren der Diakon Coresi die ersten rumänischen Texte.
Der rumänische Staatsmann Kogălniceanu sprach die Erfahrungen vieler
rumänischer Deutschlandreisender aus: >Die deutsche Universität … schenkte
mir die Liebe zum Vaterland und den Geist der Freiheit.< Andrerseits ehrte
Deutschland den greisen Tudor Arghezi stellvertretend für viele rumänische
Dichter im Jahre 1964 mit dem Herderpreis und applaudiert fast in jedem
Stadttheater heute den Werken Ihres großen Ionesco. […] Einst wirkten deutsche
Handwerker am Aufbau einer eigenständigen rumänischen Wirtschaft mit. Damals
sagten die Rumänen, die zum Handwerker gingen: >Ich gehe zum Deutschen.<
[…] Unsere Völker hatten und haben sich in der Tat viel zu geben.“ Wie die
rumänischen Diplomaten – der Delegation gehörten auch Chivu Stoica und Ion
Gheorghe Maurer an – auf diesen geschichtlich-kulturellen Farbtupfer in der
Rede Willy Brandts reagierten, ist
nicht überliefert. Sie gehörten auf jeden Fall noch zur alten Garde des 1965
verstorbenen Gheorghe Gheorghiu Dej,
ein Beleg dafür, dass Nicolae Ceaușescu
seine Macht noch nicht gefestigt hatte. Ich war damals Schüler in der
Jahrmarkter Volksschule und hatte noch kein Gespür für Politik.
Die hatte allerdings Brandts Nachfolger
im Amt des Bundeskanzlers, Helmut
Schmidt, vonnöten, als er am 6. und 7. Januar 1978 dem auf einen
Diktatorstatus zusteuernden Ceaușescu
in Bukarest gegenübersaß. Zwei Genossen: ein kommunistischer und ein
sozialdemokratischer. Wobei Letzterer, also Schmidt, das Wort „Genosse“ überhaupt nicht mochte, wie Michael Naumann in einem Nachruf in der
FAZ bemerkte. Aber „er wusste, wie Geschichte gemacht wird – und von wem.“
Helmut Schmidt & Nicolae Ceaușescu
Quelle: tagesspiegel.de
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Zwei Jahre später verabschiedeten die Landsmannschaften der
Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen eine Resolution, in der es unter
anderem hieß, dass sie „mit großer Dankbarkeit feststellen, dass die
Familienzusammenführung aus Rumänien – gestützt auf die Absprachen zwischen
Bundeskanzler Schmidt und Staatspräsident Ceaușescu vom Januar 1978 in den vergangenen zwei Jahren gute Fortschritte
gemacht hat. In den Jahren 1978 und 1979 sind insgesamt 21.738 Deutsche aus
Rumänien zu uns in die Bundesrepublik Deutschland gekommen.“ Heute weiß man,
dass im Brandtschen Sinn sich auch während Helmut
Schmidts Kanzlerschaft Rumänien und
die Bundesrepublik Deutschland „in der Tat viel zu geben“ hatten:
Menschen gegen Devisen.
Ich war damals noch in Jahrmarkt / Giarmata und spürte, wie
sich Schritt für Schritt, langsam aber stetig alles nur um ein Thema zu drehen
begann: Auswanderung. Die von Schmidt
und Ceaușescu ausgehandelte Quote
hatte sich schnell herumgesprochen und vermittelte das Gefühl, die Hoffnung „es
geht weiter“.
Am 1. Oktober 1982 war Helmut
Schmidt weg und Helmut Kohl da –
im Kanzleramt. In Rumänien war noch immer Genosse Ceaușescu an der Macht. Und ich war mit Frau und Kind noch immer in
Rumänien. Nicht dass es uns erbärmlich schlecht gegangen wäre – im Vergleich zu
den Flüchtlingen aus Aleppo lebten wir in paradiesischen Verhältnissen -, aber
das Fieber war nun mal da und der Artikel 116 im deutschen Grundgesetz mehr als
verlockend. (Bettina Höfling schrieb
1993 in einem Essay für die Broschüre der Hans Seidel Stiftung Politische Studien: „Diejenigen
beispielsweise, die als >Volksdeutsche< ein grundrechtlich geschütztes
Recht auf Rückkehr bzw. Zutritt in die Bundesrepublik Deutschland haben, lassen
jeweils nichtdeutsche Freunde, Nachbarn und Gemeinden zurück, deren
Wanderungsmotivation genauso ausgeprägt und aus den selben Ursachen gespeist
sein können, wie dies bei den durch Art. 116 GG rechtlich Privilegierten der
Fall ist.") So versuchte auch ich, meinen Obolus bei den Menschenhändlern in
Temeswar zu zahlen. 1984 haben sie ihn mir dankend abgenommen und ich gehörte
zu den „durch Art. 116 GG rechtlich Privilegierten“.
Das Adagio war längst verklungen. Aus dem Radio kam ein
anderes Stück. Oder war es vielleicht sogar schon das zweite oder dritte nach Helmut Schmidt & Co.? Ich warf einen Blick auf die
Handuhr. Aber jetzt schnell, sonst geraten meine Kleinen in Panik. Wenn die
Turnstunde vorbei ist, hat der Opa da zu sein. Auf dem Weg zur Turnhalle blitzte
noch kurz der Gedanke auf: Du hattest nur Glück, unverschämt viel Glück. Dann
vernahm ich schon die lärmenden Kinder im Treppenhaus. Das Leben geht weiter.
Irgendwie. Hoffentlich auch für die vielen Kinder auf den Meeren und in den
Schluchten des Balkan.
Anton Potche
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