Montag, 22. Februar 2016

Irgendwo in meinem Bücherregal

Im vergangenen Dezember (2015) veröffentlichte Pfarrer Uwe Seidner aus Wolkendorf / Vulcan (Siebenbürgen) in der KARPATENRUNDSCHAU einen dreiteiligen Reisebericht unter dem Titel Die versprengten Glaubensgeschwister im Kaukasus – Auf Entdeckungsreise am Rande Europas. Mit einer Gruppe von Jugendlichen reiste er auf den Spuren der evangelischen Kirche durch Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Bergkarabach - ein mutiges Unterfangen angesichts der instabilen politischen Lage in dieser Region. Aber es ging alles gut und das Resultat kann sich sehen lassen.

Lutheranische Kirche
 in Helenendorf
Quelle: https://de.wikivoyage.org
Ein Abschnitt aus dem dritten Teil (KR vom 10. Dezember 2015) brachte mich ein wenig ins Grübeln: „In Aserbaidschan besuchten wir noch die ehemaligen schwäbischen Dörfer Helenendorf (Gyögöl) und Annenfeld (Shemkir). Anders als in Georgien waren die Kirchen in einem sehr guten Zustand und sie sind zugänglich. Sie werden vom Rathaus verwaltet. In Helenendorf dient die Kirche als Ausstellungsraum. Rechter Hand ist ganz ausführlich auf Schautafeln dargestellt die deutsche Vergangenheit der Siedlung; und linker Hand stehen Gedenktafeln für die Söhne der Ortschaft, die im blutigen Bergkarabach-Konflikt ihr Leben gelassen haben. Erstaunt mussten wir feststellen, dass sich die Aseris [Azeris: Einwohner Aserbaidschans, A.d.V.] stolz auf die deutsche Vergangenheit ihrer Ortschaften berufen. Dementsprechend bemühen sie sich auch das schwäbische Dorfbild zu erhalten, doch bei so vielem Bemühen schleicht sich leider auch etwas Kitsch ein. Sehr gut gepflegt war auch der Friedhof für deutsche Kriegsgefangene in Helenendorf.“

Helenendorf ... Helenendorf. Wo bin ich diesem Namen schon mal begegnet? Er muss irgendwo in meinem Bücherregal schlummern. Helenendorf ... Es muss einen Zusammenhang zwischen Jahrmarkt im Banat und Helenendorf in Aserbaidschan geben, das schwebte mir schleierhaft vor. Tatsächlich: Der Jahrmarkter Tischlermeister Peter Oberle (1924 - 2001) war in Helenendorf lange vor Pfarrer Uwe Seidner und seinen Schützlingen. Und auch er, der Banater Schwabe, war angetan, von dem, was er vorfand. Zum Unterschied zu der Siebenbürger Reisegruppe war er aber nicht als freier Mensch vor Ort, sondern als russischer Kriegsgefangener.

Helenendorf
Foto: Haerdle
Quelle: http://www.eurasischesmagazin.de
Am 8. Mai 1945 geriet der zwanzigjährige Peter Oberle als Soldat der Waffen SS bei Breslau in russische Gefangenschaft, während deren sechsjährigen Dauer er mehr erlebte als unsereins ein ganzes Leben lang. Seine Erinnerungen an jene Zeit sind in einem Buch erhalten geblieben. Darin kann man auch folgende Zeilen lesen: „Wir glaubten, wir fahren jetzt nach Hause, es waren lauter Rumänendeutsche. Wir wurden mit den Autos abgeholt, so ca. 40 Personen, die wir uns ja inzwischen schon alle kannten. In der Hoffnung, vielleicht klappt es doch mit der Heimfahrt!! Es ging los, wir fuhren eine Stunde nur durch Steppen, alles kahl und trocken, bis wir auf eine schöne breite Straße kamen. Links und rechts der Straße waren Wassergräben, daneben große Nussbäume, deren Äste von beiden Seiten über die Straße hingen, es sah aus wie ein langer Tunnel; das ging so 12 km, bis wir an ein Dorf kamen. Aber vorher kamen große Weingärten. Überall gab es Schleusen zum Bewässern der Gärten. Gegen die Straße waren dicke, weiße Mauern, mit Steinen gemauert, und Tor und Türeingang versehen mit der deutschen Aufschrift „Willkommen“ bei Fam. so und so oder „Grüß Gott“. Wir trauten unseren Augen nicht, denn so etwas mitten in der Steppe, wo alles ausgetrocknet war. Wir kamen an den Ortsrand, die Einfahrt ins Dorf, da stand die Tafel mit dem Namen Hanlar auf Russisch [gemeint ist Xanlar, russisch Ханлар (Chanlar), A.d.V.]. Es war die Gemeinde Helenendorf auf Deutsch, eine Gemeinde so schön gebaut, wie ich sie weder im Banat noch in Deutschland gesehen hatte. [...] Die Häuser waren lang, mit Giebel und Balkon zur Straße. Alles war einmal gut gepflegt und gestrichen. [...] Es waren keine deutschen Bewohner mehr da. [...] Im Jahre 1938 [laut Geschichtsquellen: 1941, A.d.V.] wurde das Dorf umstellt und in sechs Stunden war es menschenleer, nur noch ein paar Alte, die man in der Wirtschaft brauchte, hatte man zurückgelassen. [...] Ein alter Russe, der mit einer deutschen Frau verheiratet war, hat uns erzählt, wie das alles ging mit der Verschleppung der Deutschen aus Helenendorf. Er sagte uns auch, dass ab diesem Tag kein einziger der Verschleppten oder seiner Familie sich noch mal gemeldet hatte.“

Während Peter Oberle zwangsläufig den Kaukasus kennenlernte, weilte seine zukünftige Frau Anna als Verschleppte des gleichen kommunistischen Sowjetregimes in einem Zwangsarbeitslager im Donbass. Dort wo auch heute Bürgerkriegszustände herrschen.

Pfarrer Uwe Seidner wandelte mit seinen Schützlingen nicht nur auf Kirchenspuren, sondern auch auf den Spuren der großen kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts und der daraus resultierenden Folgen, von denen auch das Ehepaar Oberle betroffen war. Weder Peter noch Anna Oberle haben nämlich ihre letzte Ruhestätte in dem Dorf ihrer Kindheit, Jahrmarkt, gefunden, sondern auf einem Friedhof in Südwestdeutschland. Was bleibt, sind Erinnerungen vom Rande Europas. Die noch brühwarmen des siebenbürgersächsischen Pfarrers wandern in diesen lauen Wintertagen des eben beginnenden Jahres 2016 sorgfältig zusammengefaltet in jene längst Geschichte gewordenen des banatschwäbischen Tischlermeisters – und so gemeinsam zurück in mein Bücherregal. Wer weiß, vielleicht wird in ferner Zukunft mal ein wissbegieriger oder einfach nur neugieriger Mensch danach greifen und sich ob der Zusammenhänge zwischen Zeitungs- und Buchinhalt wundern.
Anton Potche

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