Montag, 4. April 2016

Klassikpotpourri als Modell für symphonisches Hörerlebnis

„Ein Potpourri ist in der Musik eine Komposition, die aus bereits bestehenden Kompositionen zusammengesetzt wird und nachträglich eine neue, mehr oder weniger harmonische musikalische Einheit bildet.“ Diese Definition bietet Wikipedia an. Und sie ist so jedem Volksmusikhörer bekannt. Ob sie auch in der Klassik Geltung findet, dürfte umstritten sein. Fakt ist, dass es Komponisten gibt, die dieses Metier des Zusammensetzens bestehender Musikfragmente zu einem neuen Werk für sich entdeckt haben. Friedmann Dreßler ist einer dieser Erneuerer in der klassischen Musik. Der in Dresden geborene Musiker spielt seit 1987 als stellvertretender Solocellist bei den Duisburger Philharmonikern und gastiert seit 1994 regelmäßig im Festspielorchester von Bayreuth – auch 2015.

Dieses Wirken in Bayreuth muss man als biographische Wegmarke im musikalischen Werdegang des komponierenden und arrangierenden Orchestermusikers Friedmann Dreßler hervorheben, scheint sie doch einen erheblichen Einfluss auf seine Komponisten- und Arrangeurtätigkeit zu haben. Eines seiner umfangreichsten Werke ist Der symphonische Ring, eine Bearbeitung – laut obiger Wikipedia-Definition kann man auch von einer Komposition sprechen – von Richard Wagners (1813 – 1883) Der Ring des Nibelungen.


Der symphonische Ring wurde im Juni 2011vom Nationaltheater-Orchester Mannheim an zwei Abenden aufgeführt und kann als Livemitschnitt auf einer Doppel-CD angehört werden. Was Dan Ettinger, ein weitgereister und sehr vielseitig agierender Dirigent, mit seinem Orchester dargeboten hat, kann nicht nur für Wagner-Fans eine interessante musikalische Erfahrung sein. Die Partitur dieses Symphonischen Rings trägt die Werkpräzisierung Ein orchestrales Drama in zwei Teilen. Das heißt, dass man Teile des Rings des Nibelungen ganz ohne Gesang erleben kann. Was man von Ouvertüren und diversen Vorspielen der Gattung Oper kennt, erfährt hier eine neue Dimension, die, wie im Titel angekündigt, wahrlich symphonische Ausmaße annimmt.

Ein vielversprechendes Experiment, und wer sich darauf einlässt, wird wahrlich nicht enttäuscht. Man darf sich dieses zweiteilige Werk aber nicht als Melodienfolge instrumental vorgetragener bekannter Arien vorstellen, wie man es von Konzerten großer Bläserphilharmonien kennt. Friedmann Dreßler hat die Begleitmusik des Bühnengeschehens im Ring des Nibelungen zu einem neuen symphonischen Gebilde verschmolzen. Entstanden ist eine Symphonie des Rings, ein Werk das zwar nicht von Ohrwürmern strotzt, aber dafür mit etwas mehr thematischen Höhepunkten als eine Symphonie in genrespezifischer Form aufwartet.

Das Gefühl, einer neuen Komposition zu lauschen, kommt schon nach den ersten Übergängen im Rheingold auf, um sich dann vom Vorspiel zum Gesang der Rheintöchter und weiter zu Alberichs Liebesfluch, der Götterburg Walhall, über Das Schmieden bis zu Donners Ruf zu verfestigen. Unterliegt man als Zuhörer mit dem Booklet in der Hand bei diesem orchestralen Anfang des Symphonischen Rings noch dem Gewohnheitsimpetus, jeden Einzeltitel als selbstständige Komposition wahrzunehmen, so ändert sich das spätestens bei den Orchesterteilen der Walküre. Ich hatte das Inhaltsverzeichnis längst beiseitegelegt und mich dem Lauschen hingegeben. Es spielte auch keine Rolle mehr, ob ich die Übergänge von Siegmund und Sieglinde zu Die Winterstürme oder Wotans Abschied zu Feuerzauber und andere bewusst erlebte. Ich lauschte längst einem neuen Werk, das für mich überhaupt nichts Epigonales ausstrahlte.

Der Symphonische Ring war in Mannheim auf zwei Abende angelegt. Man könnte auch von zwei Symphonien sprechen. In der ersten wurde Wagners Orchestermusik in neuer Bearbeitung (oder als neue Komposition) aus Rheingold und Walküre gespielt und in der zweiten erklangen Themen aus Siegfried und Götterdämmerung. In dieser Einteilung sind die zwei Konzerte auch auf CD 1 und CD 2 aufgenommen. 

Die Musik auf der zweiten CD – also Der Symphonische Ring Teil 2 – entwickelt sich im Vorspiel zum 2. Aufzug des Siegfried regelrecht aus der Lautlosigkeit. In einem Opernführer aus dem Jahre 1948 kann man zu dieser Ring-Oper lesen: „In dem von Tragik umwitterten Ablauf des Ringes bildet der Siegfried ein Idyll. Dieses Werk ist wohl die schönste künstlerische Gestaltung deutschen Naturempfindens.“ Leider, leider auch schändlich missbraucht! Über die Grundstimmung dieser Ring-Oper (Uraufführung am 16. August 1876 in Bayreuth) besteht aber Konsens über die geschichtlichen Epochen hinaus. Im Booklet dieser Doppel-CD kann man nämlich lesen: „Die hier zu Klang gewordene Naturpoesie gehört wohl zum Schönsten, was die abendländische Musik hervorgebracht hat.“

Natur kommt ohne feine Nuancierungen nicht aus. Das weiß jeder, der ein Auge für sie hat. Das trifft auch auf die Musik zu. Und sie können auch düster sein, die Natur wie die Musik Richard Wagners und hier jene Friedmann Dreßlers. In den Tiefen der über tremolierenden Bratschen und Celli erklingenden Tuba (hier gespielt von Siegfried Jung) schlummert das Dunkel der Neidhöhle. Aber in ihrem langsam anschwellenden Ton bis hin zum Fortissimo deutet sich schon Siegfrieds Kampf mit dem Drachen an. Viel Pathos und viel Tragik liegen in der Luft. Das spürt man auch ohne Gesang und Bühnenhandlung.

Aber auch wie viel Schönheit! (Und sie kommt dankenswerterweise vor dem Kampfgetöse, für das Wagner sogar vierfache Bläserbesetzung vorgeschrieben hat.) Waldweben. Diese Klarinette. Zart deutet sie das Wälsungenwehmotiv an. Und diese Flöte. Ist das nicht ein Vöglein? Und das alles über einem leisen Raunen der Streicher. Morgensonne eben, die ihre ersten Strahlen durch das Dickicht wirft. Und so geht es mit gespaltenen Gefühlen – Liebhaber von Bläsermusik können sich wohl kaum satt hören - weiter durch den Siegfried auf die Götterdämmerung zu.

Das ist Schicksalsmusik schlechthin. Alles bisher Gehörte verdichtet sich noch einmal und steuert im Duett Siegfried-Brünnhilde auf einen hellen Hornruf Siegfrieds hin, der nahtlos in Siegfrieds Rheinfahrt übergeht. In diesem Orchesterzwischenspiel klingen mehrere Hauptmotive des Rings an.

Die Hornrufe im Vorspiel zum 3. Aufzug gehören zu den schönsten Momenten dieser Doppel-CD obwohl sie auf die Ermordung Siegfrieds durch Hagens Speer zusteuern. Siegfried stirbt, doch nicht ohne seine letzten Gedanken Brünnhilde zu widmen. Wie sehen die letzten Gedanken an einen geliebten Menschen aus? Das weiß wohl niemand. Aber so könnten sie sich anhören: wie bereits aus dem Jenseits stammende Harfenklänge und eine weinende Geige. (Siegfrieds Erinnerung an Brünnhilde).Was bleibt, ist irdisch: Siegfrieds Tod und Trauermarsch. Und die Musik dazu ist eine Andeutung aller musikalischen Motive, die den toten Helden durch den Ring begleitet haben.

Nun mag man Wagners Musik anderen Sphären zuschreiben, auch die oder besonders die des Rings, letztendlich bleibt sie aber doch geerdet. Auch wenn alle entschwinden, bleibt der Mensch zurück. Das Schmerz tragende und aushaltende Individuum. Brünnhildes Schlussgesang ist von vielen hohen, ja schrillen Tönen durchzogen. Aber auch von herrlichen Motiven, die wir kennen und die uns Mut zum Weiterleben geben – nach der Götterdämmerung.

Die letzten Akkorde sind der reinste Sonnenschein. Das ist wirklich eine hörenswerte Symphonie in zwei Teilen, die Friedmann Dreßler hier geschaffen hat, eine Richard-Wagner-Symphonie. Dieser unbestimmte Artikel ist mit Absicht gewählt, denn der große Opernkomponist Richard Wagner war sich der symphonischen Qualitäten seiner Kompositionen anscheinend voll bewusst. Nicht umsonst hat er seiner Frau Cosima das Siegfried-Idyll, ein symphonischer Satz für kleines Orchester, in dem Motive aus der Nibelungen –Trilogie zu einem neuen Werk verarbeitet wurden, gewidmet.

Der Symphonische Ring kann bei Amazon als MP3-Version zum Preis von 16,39 € erworben werden. Als Audio-CD ist er zurzeit im Handel leider nicht auffindbar.
Anton Potche

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