Ich hatte mir wieder mal Zeit gelassen. (In meinem
Arbeitsleben hieß es oft: Der Toni ist da, also kommt keiner mehr.) Und das
wäre fast ins Auge gegangen. Aber dann fand ich doch noch einen Platz in der
Mitte des Großen Hauses im Stadttheater Ingolstadt. Bei nur vereinzelt leer
gebliebenen Sitzplätzen spricht man von ausverkauft. Nach dem Saalplan sind das
immerhin 639 Theatersessel. Über den Daumen gepeilt kann man also von rund 600 Menschen
sprechen, die gekommen waren, um Herta
Müller bei der Präsentation eines Auszugs ihrer schriftstellerischen Arbeit
zuzuschauen.
Herta Müller & Ernest Wichner
Foto: Anton Potche
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Also deutete alles auf eine gewisse Dramaturgie dieser
Lesung hin, in der auch der Dialog eine Rolle spielen sollte. Daraus wurde dann
aber eine ziemlich eindeutige Nebenrolle. Und das lag vor allem an Herta Müller, die sich sehr gesprächig
zeigte und ihrem Partner kaum mehr als kurze Stichworteinlagen zugestand. Als
Erstes stand das Gesprächsbuch Mein Vaterland
war ein Apfelkern (und nicht mein
Vater, wie auf der Eintrittskarte vermerkt) zur Debatte. Als Herta Müller in Fahrt kam, hätte man im
Saal ein Mäuschen laufen hören können. Und das obwohl man die
Nobelpreisträgerin seit Jahren immer wieder mit dem gleichen Thema erlebt. Auch
diesmal fielen Sätze wie: „Ich habe diese Landschaft nie gemocht.“ Oder: „Der
Weizen ernährt dich solange, bis die Erde dich frisst.“ Die Auseinandersetzung
mit dem Tod aus Sicht eines Kindes, die Gegensätze Stadt – Land, die Dorftrauer
– „man kann ihr nicht entkommen“ – fesselten die Zuhörer; unter ihnen sehr
viele Jugendliche. Sie erfuhren und staunten vielleicht dabei nicht schlecht,
dass „Thomas Bernhard das pure Banat war“ und dass der „Aberglaube Poesie ist“.
Auf eine Frage Wichners erzählt die
Schriftstellerin von ihrem Weg zum Schreiben. Und der war alles andere als
vorgegeben: „Ich hatte ja überhaupt mit Literatur nichts zu tun, auch in der
Kindheit nicht. Wir hatten keine Bücher im Haus. Mir hat man auch keine Märchen
erzählt.“ Ihr Schreibprozess hatte dann von Beginn an therapeutische Züge, die
sich heute noch in freien Gesprächsätzen Luft verschaffen: „Der Staat hat immer
die zu Feinden gemacht, die ich liebte.“ „Die Sprache kann alles“, nicht nur
therapieren, sie ist auch „unerträglich und feindselig“. Das war dann auch aus
dem kurzen Abschnitt herauszuhören, den die Autorin aus dem Buch las. Da war
die Hälfte der Lesung – 90 Minuten waren anberaumt – tatsächlich schon vorbei.
Es blieb aber nicht bei dem im Programm angekündigten Buch. Atemschaukel ist seit dem erhaltenen Nobelpreis
Herta Müllers wichtigster Roman
geblieben. Und bei der Vorstellung dieses Buches legte der Redeschwall der
Schriftstellerin noch mal um eine Nuance zu. Bei der Entstehung des Buches hat
neben dem verstorbenen Dichter Oskar
Pastior auch Ernest Wichner eine
begleitende Rolle gespielt. Er war dabei, als Herta Müller und Oskar
Pastior das Internierungslager in der Ukraine, im Donbass, besuchten. Oskar Pastior war dort wie viele
Rumäniendeutsche ab 1945 als Zwangsarbeiter interniert. Seine Geschichte diente
Herta Müller als Grundlage für den
Roman Atemschaukel. Das Auditorium im
Ingolstädter Stadttheater schien von der Entstehungsgeschichte dieses
literarischen Werkes fasziniert zu sein, denn es kam trotz der detaillierten
Ausführungen Herta Müllers nicht die
kleinste Ungeduldsbewegung im Saal auf. Die Entstehung der Fiktion aus der
Realität, deren Vermischung und letztendlich das literarische Fabulieren als
letzte Instanz, da der immer wieder interviewte Oskar Pastior, als das Alter Ego des Romanhaupthelden, einige Momente
seines Lebens um nichts in der Welt preisgeben wollte, stellte sich dem
lauschende Publikum wie eine wahre literarische Werkführung dar. Die
Zurückhaltung Pastiors führte dann
auch dazu, dass Atemschaukel ein rein
fiktionales Ende hat. Über seine Heimkehr aus dem Lager hat der Dichter zum
Beispiel nie gesprochen. Herta Müller hat zum Schluss ihrer Ausführung den Entstehungsprozess dieses Romans sehr treffend in einem Satz zusammengefasst: „Ich musste ins Lager hinein
und er musste heraus.“
Dann hat sie eine Passage - auch die viel kürzer als ihr Plaudern, das manchmal trotz der Tragik
der Geschichte auch mit einem ziselierten Humor gespickt war, der sehr gut ankam – aus Atemschaukel
gelesen. Die Geschichte mit den Mäusen. Welch ein makabrer Humor. Man
schüttelt sich und lacht mit der Menge.
Foto: Anton Potche |
Die Dramaturgie des Abends hatte auch einen
Abschluss der Lesung vorgesehen. Das Ende war bunt. Einige von den
Zeitungsschnipselgedichten der Nobelpreisträgerin erschienen auf der großen
Leinwand. Man war halt im Theater. Und man konnte mit der Autorin dieser
Collage-Gedichte mitlesen. Also gedanklich der Stimme Herta Müllers folgen. Und ihrer manchmal ziemlich verschrobenen
Poesie.
Foto: Anton Potche |
Dann meinte der Kammerdiener, Pardon, der Stichwortgeber, es
wäre Zeit zum Aufbrechen. (Er hatte die Uhr.) Die 90 Minuten waren nur knapp
überschritten. Beide erhoben sich. Der Applaus von ca. 1200 Händen brandete
auf. Die Protagonisten des Abends mit ihren sehr ungleichmäßig verteilten
Rollen – ich musste während der Lesung, die gar keine war, einmal sogar an die
oft ungleichmäßige Aufgabenverteilung in einem normalen Familienhaushalt denken
– verließen die Bühne und ... kamen nicht wieder.
Im Foyer des Stadttheaters stand ein Verkaufstisch mit
Büchern. Die Schlange ähnelte den Lebensmittelschlangen in Rumänien zur Zeit
der kommunistischen Diktatur. Ich habe Leute gesehen, die gleich zwei und sogar
drei Bücher von dieser Lesung mit nach Hause nahmen. Von einer ihre Bücher
signierenden Nobelpreisträgerin habe ich allerdings nichts gesehen. Vielleicht
zeigte sie sich ja noch im Foyer, nachdem ich schon auf dem Heimweg war. Auf
meinem alten Drahtesel, versteht sich. Immerhin, in Herta Müllers und Thomas
Bernhards Banat besaß ich nicht einmal das, ich meine ein altes Fahrrad.
Anton Potche
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