Mittwoch, 11. Mai 2016

Die Nobelpreisträgerin und ihr Stichwortgeber

Ich hatte mir wieder mal Zeit gelassen. (In meinem Arbeitsleben hieß es oft: Der Toni ist da, also kommt keiner mehr.) Und das wäre fast ins Auge gegangen. Aber dann fand ich doch noch einen Platz in der Mitte des Großen Hauses im Stadttheater Ingolstadt. Bei nur vereinzelt leer gebliebenen Sitzplätzen spricht man von ausverkauft. Nach dem Saalplan sind das immerhin 639 Theatersessel. Über den Daumen gepeilt kann man also von rund 600 Menschen sprechen, die gekommen waren, um Herta Müller bei der Präsentation eines Auszugs ihrer schriftstellerischen Arbeit zuzuschauen.

Diese Lesung war sowohl als Abschlussveranstaltung als auch als Höhepunkt der 23. Ingolstädter Literaturtage gedacht. Dieser Plan ist aufgegangen. Schon darum, weil Herta Müller mit einigen Überraschungen aufwartete. Da standen auf der großen Theaterbühne zwei Tische und zwei Stühle. Und die wurden auch von zwei Personen in Anspruch genommen. Die Nobelpreisträgerin war in Begleitung ihres Stichwortgebers Ernest Wichner, seines Zeichens Leiter des Literaturhauses Berlin, Schriftsteller, Freund und Landsmann von Herta Müller, gekommen. (Horst Samson nennt Wichner einen „Kammerdiener“ Herta Müllers.)

Herta Müller & Ernest Wichner
Foto: Anton Potche
Also deutete alles auf eine gewisse Dramaturgie dieser Lesung hin, in der auch der Dialog eine Rolle spielen sollte. Daraus wurde dann aber eine ziemlich eindeutige Nebenrolle. Und das lag vor allem an Herta Müller, die sich sehr gesprächig zeigte und ihrem Partner kaum mehr als kurze Stichworteinlagen zugestand. Als Erstes stand das Gesprächsbuch Mein Vaterland war ein Apfelkern (und nicht mein Vater, wie auf der Eintrittskarte vermerkt) zur Debatte. Als Herta Müller in Fahrt kam, hätte man im Saal ein Mäuschen laufen hören können. Und das obwohl man die Nobelpreisträgerin seit Jahren immer wieder mit dem gleichen Thema erlebt. Auch diesmal fielen Sätze wie: „Ich habe diese Landschaft nie gemocht.“ Oder: „Der Weizen ernährt dich solange, bis die Erde dich frisst.“ Die Auseinandersetzung mit dem Tod aus Sicht eines Kindes, die Gegensätze Stadt – Land, die Dorftrauer – „man kann ihr nicht entkommen“ – fesselten die Zuhörer; unter ihnen sehr viele Jugendliche. Sie erfuhren und staunten vielleicht dabei nicht schlecht, dass „Thomas Bernhard das pure Banat war“ und dass der „Aberglaube Poesie ist“. Auf eine Frage Wichners erzählt die Schriftstellerin von ihrem Weg zum Schreiben. Und der war alles andere als vorgegeben: „Ich hatte ja überhaupt mit Literatur nichts zu tun, auch in der Kindheit nicht. Wir hatten keine Bücher im Haus. Mir hat man auch keine Märchen erzählt.“ Ihr Schreibprozess hatte dann von Beginn an therapeutische Züge, die sich heute noch in freien Gesprächsätzen Luft verschaffen: „Der Staat hat immer die zu Feinden gemacht, die ich liebte.“ „Die Sprache kann alles“, nicht nur therapieren, sie ist auch „unerträglich und feindselig“. Das war dann auch aus dem kurzen Abschnitt herauszuhören, den die Autorin aus dem Buch las. Da war die Hälfte der Lesung – 90 Minuten waren anberaumt – tatsächlich schon vorbei.

Es blieb aber nicht bei dem im Programm angekündigten Buch. Atemschaukel ist seit dem erhaltenen Nobelpreis Herta Müllers wichtigster Roman geblieben. Und bei der Vorstellung dieses Buches legte der Redeschwall der Schriftstellerin noch mal um eine Nuance zu. Bei der Entstehung des Buches hat neben dem verstorbenen Dichter Oskar Pastior auch Ernest Wichner eine begleitende Rolle gespielt. Er war dabei, als Herta Müller und Oskar Pastior das Internierungslager in der Ukraine, im Donbass, besuchten. Oskar Pastior war dort wie viele Rumäniendeutsche ab 1945 als Zwangsarbeiter interniert. Seine Geschichte diente Herta Müller als Grundlage für den Roman Atemschaukel. Das Auditorium im Ingolstädter Stadttheater schien von der Entstehungsgeschichte dieses literarischen Werkes fasziniert zu sein, denn es kam trotz der detaillierten Ausführungen Herta Müllers nicht die kleinste Ungeduldsbewegung im Saal auf. Die Entstehung der Fiktion aus der Realität, deren Vermischung und letztendlich das literarische Fabulieren als letzte Instanz, da der immer wieder interviewte Oskar Pastior, als das Alter Ego des Romanhaupthelden, einige Momente seines Lebens um nichts in der Welt preisgeben wollte, stellte sich dem lauschende Publikum wie eine wahre literarische Werkführung dar. Die Zurückhaltung Pastiors führte dann auch dazu, dass Atemschaukel ein rein fiktionales Ende hat. Über seine Heimkehr aus dem Lager hat der Dichter zum Beispiel nie gesprochen. Herta Müller hat zum Schluss ihrer Ausführung den Entstehungsprozess dieses Romans sehr treffend in einem Satz zusammengefasst: „Ich musste ins Lager hinein und er musste heraus.“

Dann hat sie eine Passage - auch die viel kürzer als ihr Plaudern, das manchmal trotz der Tragik der Geschichte auch mit einem ziselierten Humor gespickt war, der sehr gut ankam – aus  Atemschaukel gelesen. Die Geschichte mit den Mäusen. Welch ein makabrer Humor. Man schüttelt sich und lacht mit der Menge.

Foto: Anton Potche
Die Dramaturgie des Abends hatte auch einen Abschluss der Lesung vorgesehen. Das Ende war bunt. Einige von den Zeitungsschnipselgedichten der Nobelpreisträgerin erschienen auf der großen Leinwand. Man war halt im Theater. Und man konnte mit der Autorin dieser Collage-Gedichte mitlesen. Also gedanklich der Stimme Herta Müllers folgen. Und ihrer manchmal ziemlich verschrobenen Poesie.

Foto: Anton Potche
Dann meinte der Kammerdiener, Pardon, der Stichwortgeber, es wäre Zeit zum Aufbrechen. (Er hatte die Uhr.) Die 90 Minuten waren nur knapp überschritten. Beide erhoben sich. Der Applaus von ca. 1200 Händen brandete auf. Die Protagonisten des Abends mit ihren sehr ungleichmäßig verteilten Rollen – ich musste während der Lesung, die gar keine war, einmal sogar an die oft ungleichmäßige Aufgabenverteilung in einem normalen Familienhaushalt denken – verließen die Bühne und ... kamen nicht wieder.

Im Foyer des Stadttheaters stand ein Verkaufstisch mit Büchern. Die Schlange ähnelte den Lebensmittelschlangen in Rumänien zur Zeit der kommunistischen Diktatur. Ich habe Leute gesehen, die gleich zwei und sogar drei Bücher von dieser Lesung mit nach Hause nahmen. Von einer ihre Bücher signierenden Nobelpreisträgerin habe ich allerdings nichts gesehen. Vielleicht zeigte sie sich ja noch im Foyer, nachdem ich schon auf dem Heimweg war. Auf meinem alten Drahtesel, versteht sich. Immerhin, in Herta Müllers und Thomas Bernhards Banat besaß ich nicht einmal das, ich meine ein altes Fahrrad.
Anton Potche

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