Mittwoch, 18. Mai 2016

Normalität von der ersten bis zur letzten Seite

John Williams: Stoner – Roman; Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2013; ISBN – 10:3423280158, ISBN-13:978-3423280150; 352 Seiten; 9,90 € bis 15,99 € bei Amazon

Besonders umfangreich ist das literarische Œvre von John Williams nicht. Der 1922 in Clarksville (Texas) geborene und 1994 in Fayetteville (Arkansas) verstorbene US-amerikanische Autor, Herausgeber und Hochschullehrer (University of Denver) hat vier Romane und zwei Gedichtbände hinterlassen.

Stoner ist ein sehr distanziert geschriebenes Buch. Als ob John Williams aus weiter Ferne auf das dahinplätschernde Leben des William Stoner geschaut hätte, so kommt diese Prosa daher. Absolut schnörkellos ist die Sprache des Amerikaners.Vielleicht liegt gerade darin der Schlüssel zu Stoners Geist, der nach der Meinung von Angela Schader  in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 10. September 2013 „zumindest in der Erinnerung des Lesers so rasch nicht zur Ruhe kommen wird“.

Auf mich trifft das voll und ganz zu. Diese Sachlichkeit in John Williams Erzählstil ist umso erstaunlicher, je konträrer sie wirkt. Wo man erwartet, dass sich anbahnende Konflikte und aufkommende Gefühlswallungen den Autor zu tiefgründigen Charakterisierungen verleiten könnten, bleibt er auf Distanz zu allen Figuren, ja, scheint sich von ihnen noch mehr zu entfernen. So eröffnen sich dem Leser größere Annäherungsspielräume. Er darf selbst Partei ergreifen, darf urteilen und sich wie ein Personalchef für ein Für oder Wider entscheiden, ist der ganze Roman doch tatsächlich wie ein Bewerbungsschreiben aufgebaut, aber nicht in Stichworten, sondern in Taten und noch mehr in Geschehnissen, denn William Stoner war zeit seines Lebens mehr ein Reagierender als ein Agierender.

Schon in den ersten Zeilen ist sein Leben klar abgesteckt: „Er wurde 1891 auf einer kleinen Farm im tiefsten Missouri unweit des Dorfes Booneville geboren, etwa sechzig Kilometer außerhalb der Universitätsstadt Columbia“ und er „begann 1910, im Alter von neunzehn Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte.“

Geht es noch geradliniger? Nach den ersten zwei Seiten kennt man den Lebenslauf des William Stoner. Also kann man das Buch weglegen ... und verpasst dabei so viel: das Miterleben eines dahinplätschernden Alltags, der nur sehr, sehr wenige Glücksmomente für den Hauptprotagonisten bereithält. Und der ist ein Mensch der Scholle, tief verwurzelt im Gründergeist seines Landes. John Williams bringt immer – wie einen roten Faden – die Jahreszeiten mit ins Geschehen ein.

Stoner fuhr „im Herbst nach Columbia und schrieb sich am Kolleg für Agrarwirtschaft ein“, in der „leichten Kühle des späten Herbsttages“ wurde ihm bewusst, dass ihm „Philosophie und Frühgeschichte“ sowie „englische Literatur“ mehr lagen, und nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, „wurde in Sarajewo Erzherzog Franz Ferdinand von einem serbischen Nationalisten erschossen, und noch vor dem Herbst herrschte überall in Europa Krieg“. So reihen sich die Jahreszeiten für Stoner – nicht nur der Herbst - immer wiederkehrend aneinander und bringen eine Ehe, die man nur bedingt so bezeichnen kann, einen schwelenden und nicht enden wollenden Arbeitskonflikt, einen Seitensprung, der mehr als das war, ein Kind aus der Ehe und das Alter mit sich.

„In der Stille des Sommernachmittags“ ließ der Mann, der den Weg von der Scholle zu den Büchern ging, sein Leben ein letztes Mal vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Und dieses Auge ruhte auf dem Bücherstapel auf dem Nachtschränkchen. Mit letzter Lebenskraft kramte er nach einem Buch in dem Durcheinander. „Es war sein eigenes Buch, das er suchte, und als er es in den Händen hielt, lächelte er angesichts des vertrauten roten Einbandes, der seit so vielen Jahren schon verblasst und abgegriffen war. [...] Das Sonnenlicht wanderte übers Fenster und fiel auf die Seiten, aber er konnte nicht lesen, was da geschrieben stand.“ Als das Buch, Stoners Buch, „langsam und dann immer rascher über den reglosen Leib“ glitt und „in die Stille des Zimmers“ fiel, war Stoner nicht mehr. Wie wir vom Anfang des Romans wissen, schrieb man das Jahr 1956.

Und mir wurde bewusst, wie viel ich versäumt hätte, wenn ich diesen Roman nicht bis zum letzten Atemzug Stoners gelesen hätte: ein Leben ohne Helden, ohne Sieger, nur Verlierer, Normalität von der ersten bis zur letzten Seite.

Bernhard Robben, freier Journalist und Übersetzer, Träger des Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW und des Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preises, hat diesen lebensnahen Roman aus dem Amerikanischen für die deutschen Leser übersetzt. Viele von ihnen werden es ihm dankend als eine verdienstvolle Leistung anerkennen.

Anton Potche

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