Wem sagen heute Namen von Ortschaften wie Hermenau, Royen, Sportlehnen, Liebstadt oder von Landstrichen wie Samland und Sassau sowie Flüssen wie Sziesze noch etwas? Sie heißen jetzt Niebrzydowo, Roje, Milakowo und tragen andere für die deutsche Zunge schwer zu formende Namen. Die in diesem Band veröffentlichten Erzählungen spiegeln alle eine sowohl zeitlich als auch geografisch weit entfernte und vor einem guten Vierteljahrhundert noch schwer erreichbare Welt im Osten Europas wider. Diese Welt mit ihren deutschen Prägungen ging schon 1945 für immer unter. Sie existiert heute nur noch in Bildern und Schriften.
Der Band Erzählungen
aus Ostpreußen mit dem Untertitel Heiteres
und Besinnliches enthält 34 Texte von 33 Autoren. Sie sind von einem Vor-
und Nachwort eingerahmt. Hans Helmut
Kirst (1914 – 1989) überschreibt sein Vorwort mit dem Titel Erbarmung – sie dichten schon wieder! Das
ist ein klarer Hinweis auf ein reges literarisches Schaffen in der Zeit, als
Ostpreußen noch von Deutschen bewohnt war. Dieser Menschenschlag war eher
wortkarg als wortgewaltig. „Aber nicht wenige dieser Schweigenden schrieben
auf, was sie bewegte.“ Also haben wir es hier nicht mit einer Auslese nach
strengen literarischen Maßstäben, die natürlich auch nur subjektiv sein
könnten, zu tun, sondern mit einer breitgefächerten Blumenlese ostpreußischen
Schrifttums vor der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Und er war auch
nicht unbedingt literaturbegeistert, dieser deutsche Menschenschlag im fernen
Osten Europas. Das war schon in den Zeiten von H. H. Kirsts Großvater so: „Am 75. Geburtstag meines geliebten
Großvaters verlas er ein Gedicht von fünfundsiebzig Versen – zum Entsetzen
seiner trinkfrohen und dabei zu verdursten drohenden Brüder.“
Aber das waren ja längst nicht alle Ostpreußen. Die waren
verschieden wie die Menschen überall auf der Welt. „Patrullas“ Lachen zum
Beispiel blieb für Grete Fischer (1922
– 2013) unvergesslich und floss durch ihre Feder in eine kurze Erzählung.
Weil dieses Lesebuch nicht als rein literarische Anthologie
konzipiert ist, kommen auch andere Schöngeister zu Wort. Der große Maler Lovis Corinth (1858 – 1925) erzählt
augenzwinkernd von seiner Geburt an Toon
Koornaust, also am Tag der Roggenernte.
Wie gefährlich Männer
im Moor leben, schildert Ottfried Graf
Finckenstein (1901 – 1987). Dass man dabei schon mal eins über die eigene
Rübe bekommen kann, erzählt der Prof. für Germanistik mit leicht spöttischem –
natürlich nicht bös gemeintem -
Unterton.
Pferde wurden auch in Ostpreußen gestohlen. Wie Onkel
Fischer auf dem Pferdemarkt zu Wehlau
wieder zu seinem Braunen kam, erfahren wir von Katharina
Botsky (1879 – 1945). Die Schriftstellerin war Mitarbeiterin der berühmten
Zeitschrift SIMPLICISSIMUS und ist auf der Flucht vor der Roten Armee
gestorben.
Dass man mit seinem feinen Spott am besten in Schilderungen
von Dorfverhältnissen auftrumpfen kann, beweist Hans Helmut Kirst in der Erzählung Das Leben – ein Fest. Einer seiner Protagonisten, Pokorny, wirkte
„wie eingebettet in füllige Fleischlichkeit, mit blanken Augen und gern
gefalteten Händen. Seine nicht minder stattliche Frau stand in dem
erstaunlichen Verdacht, Klavier spielen zu können.“
Der Gang nach Ragnit
hat sich für Hanneken und ihre Mutter ausgezahlt. Der verlorene Vater ist
wieder da. Man freut sich auch als Leser, wenn eine solche Geschichte gut
ausgeht – dank Johanna Wolf (1851 –
1943).
Frida Jungs (1865
– 1929) Dickkoppsche Nadeln erinnert
mich doch sehr an mein kindliches Warten auf die Oma, die immer etwas vom „Fratscheln“
aus Temeswar mitbrachte. Wenn Friedels Mutter einmal im Vierteljahr nach
Gumbinnen fuhr, sah man das dem Mädchen in der Schule an. Und es gestand gerne:
„Na, sull eck nich lache – ons’ Mutterke es enne Stadt gefoahre!“
Fremde gab es auch in Ostpreußen. Paul Brock (1900 – 1986) zeichnet in der Erzählung Das Fest des Fremden das Porträt eines
Ruhelosen. Der verschwand nach dem Fest genauso unauffällig, wie er eines Tages
im Dorf aufgetaucht war. Und als er nach langer Zeit ein Bild schickte, sah
Lena, bei der er wohnte, „einen Mann in buntem Schellengewand, der sich vor
einem unsichtbaren Publikum verneigte. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu
deuten; er wirkte traurig und lustig zugleich.“
Auch von Begegnungen mit Schlangen wird berichtet. Damals – früh im Sommer war’s, als Curt Elwenspoek (1884 – 1959) sich auf
Schlangenjagd begab. Dieses Abenteuer hat in einer autobiografischen Skizze die
Zeit überlebt.
Eine für heutige Verhältnisse wundersam anmutende Gesellschaft
müssen Die Bauern von Boskollen
gewesen sein. Ihre Geschichte trug sich „im Jahre des Heils 1692“ zu und ist
meisterhaft erzählt von Gertrud
Papendick (1890 – 1982).
Michael Rehs (*1927),
ehemaliger Generalsekretär des Instituts
für Auslandsbeziehungen Stuttgart, hat Ein
Weihnachtsmärchen für Erwachsene geschrieben. Eine traurige Geschichte vom
Tod des „kleinen Rostin“.
Was Dünensand
bewirken kann, beschreibt Hansgeorg
Buchholz (1899 – 1979). So enden sich in Künstlerkreisen, hier bei
Dreharbeiten für einen Film, anbahnende Liebschaften wahrscheinlich öfter:
„Eine Romanze – flüchtig wie der Sand? Ein Gedicht vielleicht! Eine
Drehbuchidee?“
Schneeweiße Straßen im Sommer? Und das im ostpreußischen
Eichenort? Das geht. Wie, erzählt Kl.
Klootboom-Klootweitschen (1890 – 1963) in Die Schlittenfahrt im Juli.
Ebenso abenteuerlich liest sich eine Phantastische Mondscheinfahrt. Charlotte
Keyser (1890 – 1966) hat sie niedergeschrieben. Wie sagte man doch bei uns
in Jahrmarkt, wenn die Pferde nicht mehr weiterwollten? Ach ja, „sie stutze“.
Der Schmandschmecker,
eigentlich der Milchprüfer, wurde von Onkel Ferdinand schlecht gelitten. Umso
größere Stücke hielt Tante Luise von ihm. Immerhin hat er Onkel Ferdinand dazu
gebracht, von seiner Kunst des Orchesterdirigierens während einem
feuchtfröhlichen Aufenthalt in einem Königsberger Café zu erzählen. Dabei lässt
Heinz Panka (*1915) seine Helden
auch philosophieren. Köstlich!
Erinnerungen halten sich oft an Gegenständen fest. Der Stock des Figus ist so ein Gegenstand,
der den Großvater zum Erzählen bringt: „Siehst ja bald jeden Tag im Fernsehen,
wie Menschen vertrieben werden. Und immer werden welche die silbernen Löffel
vergessen und den alten Hut mitnehmen oder ein altes Spiel Karten".“ Hedy Gross (*1916) erzählt einfühlsam,
warum ein Stock ein alter Hut sein kann.
Unter Hirten begab
sich Eva Schwimmer (1901 – 1986), um
diesen Essay zu schreiben. Ein Loblied auf die Abgeschiedenheit, die Ferne von
der „Wirrnis der Großstadt“. Und wie wahr: „Die Rufe der Hirten sind wichtig in
der Welt.“
Da sind schon sehr bekannte Namen in dieser Anthologie zu
finden: Johannes Bobrowski (1917 –
1965) zum Beispiel, Preisträger der Gruppe 47. Der Posthalter, eine hervorragend karikierte Figur des
ostpreußischen Staatsdieners, ist Kurzprosa vom Feinsten, inhaltlich wie
sprachlich.
Die Fahrt zur
Jugendliebe kann schon mal in einer großen Enttäuschung enden. Vielleicht
macht man es besser wie Marie Martha
Lacombe-Brückner (*1913) – oder ihre Ich-Erzählerin: „Ich nahm mir vor,
immer nur ein bisschen liebzuhaben, damit ich mir eine Rose hinter das Ohr
stecken und davonfahren konnte, während dem anderen das Herz blutete und er
sich die Tränen verbiß.“ Ganz schön fies, würde ich sagen.
Siegfried Lenz
(1926 – 2014), der große Erzähler der deutschen Literatur, auch er war ein
Ostpreuße. Und auch er hat Eine
Liebesgeschichte geschrieben. „O Wunder der Liebe, insbesondere der
masurischen; das Mädchen, das träumende, rosige, hob seinen Kopf, zeigte der
alten Gusche den Taufschein und sprach: >Es ist<, sprach es,
>besiegelt und beschlossen. Was für ein schöner Taufschein. Ich werde
heiraten.< Die alte Guschke, sie war zuerst wie vor den Kopf getreten, aber
dann lachte sie und sprach: >Nein, nein<, sprach sie, >was die Wäsch’
alles mit sich bringt. Beim Einweichen haben wir noch nichts gewusst. Und beim
Plätten ist es schon soweit.<“ Urwüchsig. Volksnah. Voller liebenswerten
Humors. Weltliteratur – köstlich diese
Anapher „sprach“ - aus dem Band So
zärtlich war Suleyken.
Michael Rehs ist
mit einer zweiten Erzählung, Die drei
Brüder, in diesem Sammelband vertreten. Das ist keine schöne Geschichte.
Hass und Gier: Hassgier.
Gut, dass schon die folgende Erzählung aus dem Universum des
Jägerlateins stammt. War Rubbeljack ein
Versager? Er war auf jeden Fall ein „stämmiger, frecher Rauhhaardackel“,
lässt uns Heinke Frevert (1916 –
1997), Gattin von Walter Frevert
(1897 – 1962), letzter deutscher Oberforstmeister der Rominer Heide und
erfolgreicher Jagdschriftsteller, wissen.
Marthas Heimkehr im
Herbst legt in Herbert alte, eigentlich nie geäußerte Gefühle frei. Und das
obwohl Martha nicht allein gekommen war. Sie hatte ein Kind dabei, „das sie auf
dem Arm trug“. Die freie Schriftstellerin und Journalistin Ruth Geede (*1916) tut uns aber nicht den Gefallen, diese Erzählung
mit einem endgültigen Schluss, traurig oder erfreulich, ausklingen zu lassen.
Hermann Sudermann
(1857 – 1928) schreibt in der autobiografischen Skizze Das singende Eis in einem poetischen Duktus über die Wahrnehmung
der Natur in seiner „armen litauischen Heimat“. So schön kann Schlittschuhlaufen
sein: „Das Eis erklang, die Risse donnerten, und so flog man hinein in die
Lichtwelt. Bis sie anfing, sich purpurn zu färben, bis das Blau sich zu Rosa
verklärte und der blasse Märzenmond plötzlich am Himmel stand.“
Vorweihnacht im alten
Königsberg kann für Außenstehende ganz schön unverständlich sein – damals,
als dort noch Ostpreußen lebten, wie heute. Was hat die „dicke Handelsfrau“ nun
wirklich gesagt, als sie Vater und Sohn beim Heimtragen eines ziemlich
missratenen Weihnachtsbaumes begegnete? „Herrkes, mött de Spötz noa hinde, denn
dräggt söck dat lang Rachachel bäter!“ Walter
Scheffler (1880 – 1964), der in Königsberg geborene Buchbinder und
Schriftsteller, hat sich schon zu Lebzeiten die Leseversuche nichtpreußischer Leser
ersparen können (müssen), denn er war leider schon als Junge völlig taub.
Ostpreußen und die Ostsee sind unzertrennlich. Das spürt man
in dieser Blumenlese. Wo könnte dieses auch mythologische Verhältnis besser zum
Tragen kommen als in der Literatur? Die
Dünenhexe ist so ein Beispiel von Traum- und Traumatawelten inspirierter
Erzählkunst. Es ist keine schöne Erzählung, die uns Tamara Ehlert (1921 – 2008) da auftischt, aber sie hinterlässt
einen Eindruck von der ebenso poetischen wie rauen Lebensweise, die in der Welt
der Dünen herrscht.
Elli Kobbert-Klumbies
(*1922) lässt eine nette Liebesgeschichte, Das
Sekundchen, in einen philosophischen Schluss münden: „Er wusste nun gut um
den himmelweiten Unterschied zwischen unbekömmlichen
Sekundchen, die sich nur rächen, und den großen Stunden, die Segen bringen.
Denn während die Sekundchen gestohlen sind, werden einem die großen Stunden
immer nur unverdient geschenkt.“ Für Gustav war der Weg von der Sekunde zur
Stunde ziemlich steinig.
Wie überall auf der Welt war auch im Ostpreußen der
Vorkriegszeit der Familienmikrokosmos ein Spiegelbild der dortigen
Gesellschaft. Ein „dammlicher Pomuchelskopp“ ist nicht mehr als ein Tollpatsch
auf Brautschau. Georg Hermanowski
(1918 – 1993) schildert, wie der sich auf Freiersfüßen der nicht gerade
begeisterten zukünftigen Schwiegermutter vorstellt. Der Arme! Wir kennen ihn
übrigens auch aus der Banater Mundartliteratur. Also von wegen Spiegelbild: nur
ein kleiner Fleck, nicht unbedingt schwarz, nur ein wenig angebräunt – welcher
Spiegel bekommt den nicht mit der Zeit?
Die Marjell mit dem
Medizinball und Hans begegnen sich zweimal. Hans-Ulrich Stamm (*1924) erzählt diese Lebensgeschichte aus der
Kriegszeit. Persönliche Glücksmomente können Menschen auch im Krieg beschert werden. Einige mögen solche Erzählungen als kitschige Liebesprosa in Heftromanstil abtun. Unglaubwürdigkeit kann man ihr aber nicht nachsagen, und
das nicht nur wegen dem fiktionalen Charakter von Literatur, sondern weil das
Leben ja selber immer die schönsten und brutalsten Geschichten schreibt.
Agnes Miegel
(1879 – 1964) gehört zu den großen Schriftstellerinnen der deutschen Literatur.
Sie war Dr. h. c. der Königsberger Albertus-Universität und hat 1916 den
Kleist-Preis erhalten, zu dem sich noch einige namhafte Preise gesellten. Bei
einem Nachtspaziergang lässt sie
einen von der Wahrhaftigkeit seiner Träume überzeugten Magister von sonderbaren
Begegnungen erzählen.
Der Name Käthe
Kollwitz (1867 – 1945) ist an Kultur interessierten Menschen nicht minder
bekannt. Die Graphikerin, Malerin und Bildhauerin war Mitglied der Akademie der
Künste. Der autobiografische Text Mein
Kinderparadies entstammt ihrem Buch Aus
meinem Leben und endet mit dem Fazit: „Im Grunde fühlte ich immer
heimatliche Liebe, Verbundenheit und Dankbarkeit. >Wohl dem, der seiner
Väter gern gedenkt.<“
Die Magd ist eine
Herbergsgeschichte, aber nicht irgendeine, sondern eine sprachlich und
dramaturgisch höchst anspruchsvolle. Kein Wunder, wenn man den Autor kennt: Ernst Wiechert (1887 – 1950). Biografen
erwähnen gerne seine Aussage, dass er nicht aus einer literarischen Schule,
sondern aus einer „großen Landschaft“ komme. Geboren wurde er in einem
Forsthaus im sagenumwobenen Masuren und gestorben ist er auf dem Rütihof in der
Schweiz. Dazwischen liegt ein bewegtes Leben, zu dem auch das Überleben im KZ
Buchenwald gehört.
Und dann folgt der Name, der wohl noch vielen Deutschen –
nicht nur Literaturinteressierten - ein Begriff sein dürfte: Marion Gräfin Dönhoff (1909 – 2002). Die
preisgekrönte Publizistin hat besonders als Chefredakteurin der Wochenzeitung
DIE ZEIT Maßstäbe in der deutschen Presselandschaft gesetzt. Ihr
autobiografisches Buch Namen, die keiner
mehr nennt enthält auch den in dieser Anthologie veröffentlichten Text Nach Osten fuhr keiner mehr. Die Gräfin
schildert hier ihre abenteuerliche Flucht vor der Roten Armee – zu Pferde (auf
Alarich), 1200 km westwärts, und das in sieben Wochen.
Letzter im Bunde der in diesem Band versammelten
ostpreußischen Schriftsteller und Künstler ist Hans Graf von Lehndorff (1910 – 1987). Er und Marion Gräfin Dönhoff hatten den Widerstandskämpfer im Dritten
Reich Heinrich Graf von
Lehndorff-Steinort (1909 1944) zum gemeinsamen Vetter. Hans Graf von Lehndorff war von Beruf Arzt und gelangte erst 1947
als Vertriebener in den Westen. Sein Ostpreußisches
Tagebuch . Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945 – 1947 hat seit
seinem Erscheinen im Jahre 1961 einunddreißig (31) Auflagen erlebt. Der hier
veröffentlichte Text Auf der Flucht
entstammt diesem Tagebuch, das auch verfilmt wurde.
Ruth Maria Wagner
(1915 – 1979), die diese von Erich
Behrendt (1899 – 1983), ein in Ostpreußen geborener Maler und Grafiker,
illustrierten Erzählungen aus Ostpreußen
herausgebracht hat, stellt dem Vorwort mit dem Titel Erbarmung – sie dichten schon wieder! ein Nachwort mit der
Überschrift Wenn sie nicht gedichtet
hätten – Erbarmung! gegenüber. Wahrlich, wir Nachgeborenen wären ärmer ohne dieses und andere Bücher mit heiteren und besinnlichen,
fiktiven und realen Geschichten aus Ostpreußen von anno dazumal.
Anton Potche
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