Dieser Titel hat auch anders herum einen Sinn: also vom
Müller-Orchesterleiter zum Müller-Interview. Chronologisch wäre er sogar so richtig. Als Anstoß zu den hier festgehaltenen
Gedanken behält der Titel aber seine Berechtigung. Und das wiederum ergab sich
wie folgt.
Die BILD AM SONNTAG vom 11. September 2016 brachte ein
Interview mit VW-Chef Mathias Müller.
Er erzählt darin frisch und angenehm undiplomatisch von den VW-Problemen und
auch seinen ganz persönlichen Implikationen in diese schier unüberschaubare Konzernwelt.
Es ging um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Auto-Imperiums. Und bei der
Zukunft kam das Gespräch natürlich auch auf neue Verkehrskonzepte, die weit
über das Kerngeschäft hinausreichen. Tja, man kann sich heute ganz vernünftig
auch ohne einen eigenen Pkw fortbewegen. Erst kürzlich habe er seiner
86-jährigen Mutter den Schlüssel von ihrem Audi A3 der ersten Generation
weggenommen, erzählte Müller den
Journalisten. Sicher ist halt sicher.
Ich las nicht weiter, zumindest für ein paar Minuten. Es war
angenehm kühl in dem alten Gemäuer der Ingolstädter Stadtbibliothek und an
diesem Tag sogar ruhig, ohne kommunikationsbedürftige und etwas schwerhörige
Rentner oder wuselige Kinder. Ich nahm einen Schluck aus meiner Kaffeetasse und
schloss für kurze Zeit die Augen. Ausreichend, um an einen Wintertag des eben
angebrochenen Jahres 1985 zurückzukehren.
Ich war vor wenigen Tagen als Staatenloser in Ingolstadt
gelandet, hatte weder Personalausweis, noch einen deutschen Pass und auch noch
keinen Aussiedlerausweis. Ein staatsbürgerlicher Niemand. Ich war noch dabei,
die Stadt zu erkunden, als ich mit meinem Schwager Sepp, der schon seit drei Jahren in Ingolstadt lebte, die
Empfangshalle des Hauptbahnhofs betrat. Da spielte eine Blaskapelle zu einem
mir nicht mehr bekannten Ereignis auf. Blasmusik. Gediegen. Märsche, Walzer,
Polkas. Wie zu Hause im Banat. (Dort war ich gedanklich nämlich noch eine ganze
Weile nach meiner Aussiedlung „zuhause“.) Ich lauschte und es war plötzlich um
mich geschehen, obwohl ich im Banat schon mehr als zwei Jahre keine Blasmusik
mehr gespielt hatte. Das sei die Audi-Kapelle, erfuhr ich von meinem
Schwager.
Irgendwann brach der Mut durch und ich ging zum Dirigenten,
ein älterer Herr, und fragte ihn, ob sie noch einen Bariton-Bläser gebrauchen
könnten. Er wäre fürs Personal nicht zuständig, sagte er mir, ich solle mich an
den organisatorischen Leiter wenden, „dort hinten, der mit dem großen Bass“.
Also keine Abweisung. Das war für mich schon mal nicht entmutigend. Nach einem
weiteren Stück ging ich zu dem Mann „mit dem großen Bass“ und fragte ihn nach
einer Aufnahme in die Kapelle. Er stellte mir einige Fragen und schaute etwas
ratlos drein, als er erfuhr, dass er einen Menschen vor sich hatte, der außer
einem in Nürnberg erhaltenen Registrierschein kein Ausweisdokument besaß. Ich
wollte mich schon für die Störung entschuldigen und mich unverrichteter Sache
zurückziehen, als er mir, für mich sehr überraschend, eine Visitenkarte gab und
sagte, ich solle mich bei ihm melden, wenn ich einen Ausweis und ein Bariton
habe. Ich erinnere mich ziemlich genau was auf der Karte stand: "Audi.
Siegfried Müller, Leiter
Materialwirtschaft und Transport." Und natürlich eine oder zwei Telefonnummern.
Es dauerte dann noch eine Weile, bis ich alles zusammenhatte und mich traute
anzurufen. Ich arbeitete sogar schon in der Firma Schubert & Salzer und
spielte in der dortigen Werkskapelle. (Das Arbeitsamt hatte mir die Stelle
vermittelt.) Als ich nach einigen vergeblichen Versuchen Herrn Müller endlich am Telefon erreichte und
ihm erzählte, dass ich nun ein Ingolstädter mit allen Papieren in Ordnung und
einem Bariton sei, sagte er mir, ich solle mich gedulden, ich werde von ihm
hören. Der Mann wusste natürlich mehr als ich. Nur wenige Wochen nach diesem
Gespräch wurde ich zusammen mit anderen Kollegen von Schubert & Salzer
in’s Personalbüro gerufen, wo man uns gefragt hat, ob wir gewillt wären, zu Audi
zu wechseln, da man dort die Mechanische Abteilung ausbaue und Schubert
& Salzer auf dem Weg in eine Absatzkrise sei. Ich zögerte keinen
Augenblick. Auf meinen folgenden Anruf bei Herr Müller hieß es ganz lapidar: „Kommen Sie am Montag um 17:00 Uhr in
die Probe.“ Und ich war Mitglied im Audi-Werkorchester.
Es war auch hier wie so oft im Leben: Du musst nur zur
richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Oder einfacher: Du brauchst Glück im
Leben. Das Orchester befand sich in einer Erweiterungsphase. Aus der seit den
1960er Jahren bestehenden Werkskapelle sollte ein Werkorchester mit größerer
Besetzung und anspruchsvollerem Programm werde. Hinter diesem Vorhaben stand
vor allem Siegfried Müller, ein
Sachse aus Zwickau. (Vielleicht liegt gerade in dieser ethnischen
Zugehörigkeit die Erklärung dafür, dass er mich
damals in der Bahnhofshalle nicht gleich mit meinem Anliegen abwies.)
Ich habe Siegfried
Müller, als geradlinigen, leicht mürrischen, aber nie humorlosen oder gar
unfreundlichen Mensch in Erinnerung. Ein Manager mit Durchsetzungskraft und behaltener Bodenhaftung und für sein Steckenpferd, das Audi-Werkorchester,
immer zu Opfern bereit. Die Werkszeitung AUDI-MOBIL schrieb in ihrer
Juni-Ausgabe 1991: „1962 begannen 22 Idealisten bei Audi, sich zu einem
Orchester zu formieren. Mittlerweile zählt das Audi-Werkorchester 62
Mitglieder und gilt anerkanntermaßen als Spitzenorchester für konzertante
Blasmusik. Die enorme Leistungssteigerung der musizierenden Audi-Mitarbeiter
ist vor allem auf die Verpflichtung des Dirigenten Bernd Maltry zurückzuführen, sagt Orchesterleiter Siegfried Müller, der 1986 den
Celibidache-Schüler verpflichtet hat.“
Siegfried Müller
(1922 – 2004) war ein Audi-Urgestein im wahrsten Sinne des Wortes. In seiner
Heimat Sachsen war er Motorrad-Rennleiter der zur Auto-Union gehörenden Marke
DKW und später technischer Kommissar der Rennstrecke Sachsenring in
Hohenstein-Ernstthal. 1955 flüchtete er aus der DDR und ließ sich in Ingolstadt
nieder. Seine Familie folgte ein Jahr später. Dazu gehörte auch der 1953 in
Limbach-Oberfrohna geborene Mathias.
Siegfried Müller
hat nicht nur im Audi-Werk spuren hinterlassen, sondern vor allem auch in der
Stadt und seinem Umland. Die auf sein Engagement zurückgehenden
Wohltätigkeitskonzerte des damaligen Audi-Werkorchesters, in dem er die
Tuba blies, heute die Audi-Bläserphilharmonie, haben in
Ingolstadt längst Traditionsstatus erlangt. In einer Konzertbesprechung
anlässlich des 25-jährigen Jubiläumskonzerts des Orchesters schrieb der
DONAUKURIER am 18. September 1987: „Eine besondere Ehrung erfuhren Bernd Maltry, Dirigent seit 1985 und
verantwortlich für den musikalischen Neuaufbau, und ‚die gute Seele des Orchesters‘,
Siegfried Müller, seit 25 Jahren
Orchesterleiter.“
Foto aus dem Archiv Potche |
Diese „gute Seele“ war wahrscheinlich dann auch der Auslöser
dafür, dass der in Bayern heimisch gewordene Sachse gleich nach dem Fall der
Mauer in seine alte Heimat zurückkehrte und dabei „sein“ Audi-Werkorchester gleich
auf eine mehrtägige Konzertreise mitnahm. Dass die Konzerteinnahmen für
wohltätige Zwecke damals in Sachsen blieben, war eine Selbstverständlichkeit. (Das
Foto zeigt Gottlieb Strobl,
ehemaliger Vorstandsvorsitzender der AUDI NSU AUTO UNION AG, bei der Übergabe
eines Schecks für eine Hilfseinrichtung in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, am
1. April 1990. Da war die Mauer überwunden, aber die politische Einheit der DDR
und BRD noch nicht vollzogen.)
Sigi Müller, wie wir Orchestermitglieder ihn nannten, hat längst das Zeitliche gesegnet und auch Bernd Maltry ist seinem Mentor ins Jenseits gefolgt. Viele der damaligen Orchestermitglieder haben das Orchester aus Altersgründen verlassen. Geblieben ist das Werk des Gründungsmitglieds Siegfried Müller: eine auf hohem künstlerischem Niveau musizierende Audi-Bläserphilharmonie (Dirigent: Christian Lombardi, organisatorischer Leiter: Günter Graf) und eine Spendentradition, der nach wie vor alle Hochachtung gebührt. Das nächste Wohltätigkeitskonzert ist schon in Vorbereitung und geht am 28.Oktober im Festsaal des Stadttheaters Ingolstadt über die Bühne. Als Solist wirkt der russische Trompeter Sergei Nakariakov mit.
Tubist Sigi Müller (links hinten) und "sein" Orchester
Foto aus dem Archiv Potche
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Ich öffnete die Augen. Mein Kaffee war noch warm. Die Zeit
von 1985 bis 2016 war nur ein Augenblick. Vielleicht dauerte er sogar etwas
länger, zwei oder drei Minuten. Auf jeden Fall ist in dieser Zeit eine Menge
passiert.
Anton Potche
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