Montag, 21. November 2016

Mit gutem Wille an die Sache herangehen

Schönherr-Mann/Jain/Beilhack (Hg.): Rumford 11A – Der philosophische Rau(s)chsalon 2008-2012; „edition fatal“ Verlagsgesellschaft bR, München, 2012; ISBN 978-3-935147-24-8; 284 Seiten; 21,-- EUR. (bei Amazon am 28.10.2016)

Der Salon ist tot. Es lebe der Salon. Die Zeiten, als ein Geza von Czifra viel Zeit in den Berliner Salons der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verbrachte, sind nur noch anekdotenreiche Geschichte. Aber nicht die Salons. Zumindest einen dieser Debatiersalons gibt es heute noch in München. Er befindet sich in der Wohnung des Philosophen Hans-Martin Schönherr-Mann, und es würde ihn in dieser Form nicht geben, hätte die bayerische Staatsregierung nicht im Jahre 2007 ein von den Bürgern erzwungenes Rauchverbot eingeführt. Im philosophischen Rau(s)chsalon des Herrn Schönherr-Mann darf man nämlich rauchen und philosophieren, wahrscheinlich sogar in einem Rausch, denn laut Initiator „fließt der Wein […] von Anfang an“. Dort werden Vorträge „von den Teilnehmern gehalten“, wobei „Zuschauer, also Touristen nicht zugelassen“ sind.

Also hätte ich, dessen berufsbezogenes Denken sich zeitlebens um Quantität und Qualität von ZKGs (Zylinderkurbelgehäuse oder schlicht und einfach Motorblocks) drehte, dort keinen Zugang. Umso neugieriger war ich natürlich, was Quantität und Qualität in der berufsmäßigen Philosophie bedeutet. Diese wird nämlich im Rau(s)chsalon in der Rumfordstraße hergestellt. Oder nur gedacht und eventuell niedergeschrieben, denn bis zum Herstellen kommt man in den rauch- und weingeschwängerten „Smalltalks“ nicht. Macht nichts. Auch wenn ich mich mit meinem Zwischenprodukt (das Endprodukt rollt über die Straßen dieser Welt) auf einer höheren Herstellungsstufe als die philosophierenden (anscheinend berufsmäßig, wo es sich doch um Professoren und Studenten handelt) Salonbesucher wähne, schlug ich den Sammelband Rumford 11A – Der philosophische Rau(s)chsalon 2008-2012 mit einem schon fast voyeuristischen Eifer auf – aber bitte, ganz vorurteilsfrei, ohne jedweden geringschätzigen Abwehrmechanismus. In dem Buch sind die (oder einige) Beiträge dieser Salonarbeit abgedruckt. (Man kann sie auch online bei www.edition-fatal.de lesen.)

Also, los geht’s! Philosophie pur! Eine fast schon abenteuerliche Entdeckungsreise für einen pensionierten Schichtarbeiter konnte beginnen:
1.) Hans-Martin Schönherr-Mann (1.Salon, 31 Januar 2008): Das Dionysische als das gute Böse. Ein Zitat: „Ohne Rausch keine Individualisierung, die des Trüben bedarf, immer dorthin abgeleitet! Ohne Rausch keine ökonomische Effektivität! Keine soziale Liberalität! Ohne Rausch gibt es nur Null-Tolleranz.“ Unter dem Text meine Bleistiftnotiz – also zu jeder Zeit ausradierbar: „Hilfloses und nicht überzeugendes Plädoyer für das Rauchen im Speziellen und den Rauschzustand im Allgemeinen. Nein, damit kann ich nichts anfangen“, auch wenn der Verfasser Essayist und Professor für Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München ist. Als ich noch Tanzmusik machte, gab es noch kein Rauchverbot. In jener Zeit hatte meine Frau mir beigebracht, meine Musikantenkleider immer gleich in den Keller vor die Waschmaschine zu werfen und erst dann in die Wohnung zu kommen – weil ich angeblich so gestunken habe. Ob ich damals mit philosophischen Raucherrechtfertigungen besser gefahren wäre, bleibt zu bezweifeln.
2.) Hans-Martin Schönherr-Mann (3. Salon, 17. April 2008): Kein gutes Leben ohne Verrat: Ergo verratet alle eure Götter! Beim Lesen habe ich mich gefragt, warum ein Perspektivwechsel, eine Meinungsänderung ein Verrat sein sollte. Versteht man unter „verraten“ nicht „ausliefern“? Man kann seine Meinung doch auch ändern, ohne diese (oder sich) gleich dem Galgen auszuliefern.
3.) Mario Beilhack (4. Salon, 12. Juni 2008): A Space Odyssey – Die mediale Verfasstheit der Welt. Wir erfahren unter anderem, dass „medial“ keine „Festlegung auf die Medien, die wir heute als Informations-, Kommunikations- oder Unterhaltungsmedien bezeichnen“, ist, sondern bedeutet, „dass etwas mit uns und unserer Umwelt geschieht, wenn wir Medien nutzen“. Wie wahr!
4.) Matthias Hofmann (6. Salon, 3. Dezember 2008): Die Ausnahmeschutzverletzung als Destabilisierung der Lebenswelt – Der lahmende Computer als Krise der Rationalität. Es sind zwar acht Jahre seit dem Entstehen oder Vortragen dieses Essays vergangen. Das ist in der IT-Welt eine kleine Ewigkeit, aber mein heutiges Erleben mit diesem „Monster des Zauberlehrlings“ (Computer) ist auch heute das Gleiche wie hier geschildert.
5.) Michael Löhr (7. Salon, 11. Februar 2009): Wa(h)re Schönheit – von Kant zurück zu Platon und Laotse: François Chengs „unkritische“ Meditationen über Schönheit. Zitat: „Die Einmaligkeit eines jeden kann sich nur im Angesicht und dank der Einmaligkeit der Anderen ausbilden, behaupten und einen Sinn bekommen.“ Wenn doch alle Menschen diese Wahrheit beherzigen könnten. Wir hätten keine Konflikte auf unserer Erde.
6.)  Hans-Martin Schönherr-Mann (8. Salon, 1. April 2009): Die wahre Schönheit als ein Oberflächenphänomen oder Von der unmöglichen Innerlichkeit der Schönheit. Schönherr-Mann behauptet in diesem Essay, dass Schönheit „nichts mit Liebe zu tun“ hat, „wiewohl sie gelegentlich in dieser Hinsicht anregend wirkt.“ Ich habe diesen Satz mit einem Fragezeichen versehen. Er wirft wahrscheinlich nicht nur aus meiner Sicht mehr Fragen als Antworten auf.
7.) Anil K. Jain (9. Salon, 26. Mai 2009): Capitalism Inc. – Der „phagische“ Charakter des Kapitalismus. Obwohl ich dankbar bin, im Kapitalismus leben zu dürfen, scheue ich mich nicht, fast alles, was in diesem systemkritischen Text steht, zu unterschreiben, auch dass der Kapitalismus „unermessliche Gier“ und „Trieb nach unbegrenzter, unaufhörlicher Expansion“ bedeutet.
8.) Michael Löhr (11. Salon, 23. September 2009): Der Traum ist mehr als bloße Wunscherfüllung! Christoph Türcke über die Geburt des Menschen aus dem Schrecktraum. Ziemlich schwere Kost, was der Autor hier serviert. Es zeigt sich schnell, wie schwimmend die Grenzen zwischen Philosophie und Psychologie sind. Dem Kern des Problems dürfte aber jeder schon im Leben näher gekommen sein: durch einen schlechten Schlaf, garniert mit einem bösen Traum.
9.) Michael Ruoff (12. Salon, 8. Dezember 2009): Ein Physiker plaudert aus dem Nähkästchen. Das ist ein Beitrag über das Innenleben der wissenschaftlichen Institutionen. Achtung! Auch dort arbeiten Menschen – solche und solche. Und es geht zu wie einst bei uns an den Produktionsanlagen. Das ist ein beruhigendes Gefühl. Mensch bleibt eben Mensch.
10.) Anil K. Jain (16. Salon, 29. September 2010): Die kontingente Gesellschaft und die Notwendigkeit der Utopie. Zitat: „Kontingenz bedeutet, wie ausgeführt, ja immer zugleich auch Begrenztheit, da Möglichkeit erst durch Begrenzung hervortritt.“ Das ist nur einer der unzähligen Begriffe, die erklärt werden müssen. Hier macht das der Autor selber. In vielen anderen Fällen hilft nur der Griff zum Duden oder Fremdwörterbuch.
11.) Stefan Bolea (18. Salon, 23. Februar 2011): Gedichte. Erfreulich: Auch die Lyrik hat Zugang zum Rau(s)chsalon. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass der Dichter in diesem Fall auch Doktor der Philosophie an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg (Cluj Napoca) / Rumänien ist.
12.) Michael Löhr (19. Salon, 7. April 2011): Versuche über Gleichgültigkeit. Also dieser Text transportiert schon Thesen, denen man nur schwer folgen kann. Auch wenn es da zum Beispiel heißt: „Da alles Denken für Pessoa Zerstören heißt, ist eigentlich derjenige am glücklichsten, der gar nicht denkt.“ Wie heißt es doch im Volksmund: „Überlass das Denken den Pferden, die haben einen größeren Kopf.“
13.) Michael Ruoff (20. Salon, 8. Juni 2011): Die retteritorialisierte Theorie. Um es kurz zu machen: Theorie ist weitgehend alles, was es in dieser Aufsatzsammlung zu lesen gibt. Das hier ist ein Versuch, Philosophie über den Dialog zu vermitteln. Man muss halt mit gutem Willen an die Sache herangehen, dann kommt man auch bei diesem Text unbeschadet zum Schlusssatz, der da lautet: „Schalten Sie lieber den bewährten Nachbrenner ein: Odysseus im Luftkissenboot – das ist sicher.“
14.) Michael Löhr (22. Salon, 26. Oktober 2011): Zeit und Bild – Heidegger, Benjamin und Mitchell über das Wesen des Bildes. Beim Lesen dieses Essays lag die Digitalkamera vor mir auf dem Tisch. Ein Alltagsgerät mit einem Chip voller Bilder. Zum Glück haben sie keine Symbolkraft. Andernfalls würden sie der in diesem Beitrag angestellten philosophischen Betrachtung unterliegen: „Hier wird die Symmetrie deutlich, die zwischen Ikonokasmus und Idolatrie besteht, und zwar, dass schöpferisches Zerstören sekundäre Bilder erzeugt, die auf ihre Weise nun Formen von Idolatrie darstellen, die unter Umständen noch mächtiger sind, als die zerstörten Idole.“ Mir fielen spontan die IS-Milizen in Syrien beim Zerstören antiker Kunst ein und ich fragte mich, ob die ihrer Zerstörungswut auch dann freien Lauf gelassen hätten, wenn sie ihr Vernichtungswerk nicht hätten filmen und via Internet in die Welt schicken können. Aber wie sagte schon mein Großvater: „Nobel geht die Welt zugrunde.“
15.) Linda Sauer (24. Salon, 25. Januar 2012): Das Böse – Glanz und Abglanz einer diabolischen Versuchung. Der Facettenreichtum des Bösen ist hier zu erkennen. Es ist schon merkwürdig (oder auch nicht?): Ich zog beim Lesen dauernd Parallelen, stellte Vergleiche an, zog Fäden zu diesem und jenem, stellte mir Fragen … und vergaß dabei, mich selber zu hinterfragen. Das ist ein böser Essay. Aber wie könnte er auch anders sein, wo er doch vom Bösen handelt.
16.) Michael Bräustetter / Maximilian Hartung (25. Salon, 29. März 2012): Wer denkt wen? Von diesseitigen Gedanken, Geständnistieren und Autoren. Die Fragestellung formulieren die Autoren so: „Taugt die Biographie zur Erhellung des Werks oder gar das Werk zur Erhellung der Biographie?“ Die Antwort unterliegt natürlich auch hier der philosophiespezifischen Ambivalenz. Man kann den Autoren und den von ihnen zitierten Sommitäten mal folgen und mal nicht. An einer Stelle heißt es zum Beispiel: „Aber folgt man Foucault, dann ist es falsch, den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder beim fiktionalen Sprecher zu suchen – der Autor ist eben nicht im Personenstand des schreibenden Menschen zu lokalisieren.“ Das schließt doch jeden autobiographischen Bezug eines Romans aus. Und das wiederum ist mit Sicherheit nur bedingt so.
17.) Bernd Mayerhofer (16. Salon, 10. Mai 2012): Wovon man nicht sprechen kann … Über das Schweigen im Allgemeinen und das bestimmter Personen im Besonderen. Zitat: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens – um nur diese eine zu nennen – behält auch für Wittgenstein ihre existenzielle Berechtigung, beantworten muss sie freilich jeder für sich und darf dabei weder auf die Hilfe der Wissenschaften noch auf die Tröstungen der Philosophie hoffen.“ Na, so was! Dabei glauben doch sehr viele Menschen, dass die Philosophie gerade auf diese Frage eine oder mehrere Antworten anzubieten hat. Und wie steht es mit dem Schweigen? Das hat oft etwas mit verborgenen Schuldgefühlen zu tun. Hier dreht sich viel um Heidegger. Und mich erinnert die Thematik an einen ehemaligen Arbeitskollegen, der partout nie über diese Nichtbewältigungszeit seiner Schuljahre (so um die Zeitspanne 1965 - 1970) mit mir reden wollte, wo ich als Deutscher mit Migrationshintergrund doch so neugierig war und ihn regelrecht mit Fragen durchlöcherte. Erfolglos. Mein Exkollege stammt aus einem Dorf im Allgäu.
18.) Christoph M. Cegla (27. Salon, 10. Juli 2012): Warum Guido Knopp der beste deutsche Historiker ist – Einige theoretische Überlegungen zur Narration in der Geschichtsschreibung. Es gibt in der Beurteilung der Arbeit des Fernseh-Historikers naturgemäß zwei Lager: die Anhänger der rein akademischen Geschichtsschreibung, des sogenannten Historismus, und die Befürworter einer allgemein verständlichen Geschichtsvermittlung, der narrativen. Guido Knopp gehört zweifelsfrei zu Letzteren. Kritiker werfen ihm vor, ein Einschaltquotenjäger zu sein. Wie auch immer, wäre mein Geschichtelehrer Hans Speck kein guter Erzähler gewesen, hätte Geschichte es bestimmt nicht zu meinem Lieblingsfach in der Grundschule geschafft. Und weil ich im letzten Beitrag dieser Anthologie für mich ganz persönlich einen wahren Schatz für die Seele fand – die Seele eine Karl-May-Fans seit Kindertagen -, will ich ihn (den C. M. Cegla-Satz) zum Schluss dieser kurzen Buchvorstellung zitieren: „Karl May oder J. K. Rowling liefern für meine Überlegungen ebenso relevante Geschichtsdarstellungen wie Umberto Eco oder Jules Verne.“ Danke Christoph M. Cegla!

In einem Nachwort, das Anstelle eines Nachworts steht, erläutert Linda Sauer, warum man eine Einladung zu diesen Salons bei der Adresse Rumford 11A nicht ausschlagen sollte: „Die Treffen sind eigensinnig und trotzig, sie bedienen sich keiner vorgefertigten Klischees, sind ungehorsam und befreiend.“ Die Autoren der in diesem Buch vorgestellten Salontexte werden zum Schluss mit einer bio-bibliographischen Skizze vorgestellt.

Für einen ehemaligen Audi-Schichtarbeiter war das im wahrsten Sinne des Wortes eine erfrischende und manchmal sogar erbauliche Lektüre. Es muss ja nicht immer Unterhaltung sein. Ja was war das hier denn? Na klar, auch Unterhaltung!

Anton Potche

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