Also das war mir wirklich längst ausdenkisch geworden; nämlich, wie meine Oma nach Deutschland fuhr. Bis kürzlich, als ich die Oktober-Ausgabe
der in Temeswar erscheinenden Literaturzeitschrift ORIZONT durchklickte. Da
fand ich die ziemlich regelmäßig erscheinende Rubrik Scriitorii în subteranele securităţii - Die Schriftsteller in den unterirdischen Gewölben der Securitate (ein metaphorischer Titel), verfasst von Daniel Vighi und Viorel Marineasa. Ausgearbeitet haben sie auch die Securitate-Akte NR.
2896/1B/002 vom 01.02.1984. Es ging um den Fall Eterul, der von dem Informanten Tomăneanu akribisch beleuchtet wurde. So berichtete er von einem Treffen,
das am 23. Januar 1984 in der Fliesenfabrik Extraceram stattfand. Beteiligt
waren der Schriftsteller Daniel Vighi
und Nicolae Stoia (ein Priester mit
mehreren veröffentlichten Büchern) sowie der Bildhauer Adrian Ioniţă. Der Informant hat ganze Arbeit geleistet und das
Gespräch der drei kritischen Geister Wort für Wort wiedergegeben. Das sieht aus
wie ein Romanmanuskript. Die (damals) jungen rumänischen Intellektuellen
stritten sich über den effektivsten Weg, der Ceaușescu-Diktatur die Stirn zu
bieten. Konkret ging es um einen „aktiven Widerstand“ oder um eine
Unterwanderung: „Leute wie wir müssen in die Partei eintreten, Ștefan Gheorghiu
(Akademie für Parteikader, A.d.V.) machen, sich ins politische System
einklinken, die Sachverhalte ändern und den Lauf der Politik beeinflussen“, argumentierte Adrian Ioniţă. Dieser Meinung widersprachen seine Diskussionspartner heftig. Für Daniel Vighi war diese
Unterwanderungstheorie sogar lebensgefährlich: „Du wirst dich aufreiben. Wirst
du für eine Sache eintreten können, an die du nicht glaubst? Und dann werden
die Kanaillen dich durchschauen, dich benutzen und bei der ersten Gelegenheit
umbringen.“ Der Bildhauer führte dann ein ganz anderes Argument ins Feld: „Gut,
aber seht Ihr nicht, dass die Dinge sich ändern, zwischen Iordache und Potîngă, zwischen Potîngă und Florescu gibt es Differenzen.“
Schau her, dachte ich mir, es gab damals in den 80ern noch
Leute, die hofften, dass sich innerhalb der Partei etwas ändern könnte. Mehr
aber auch nicht. Interessant wurde es für mich erst dann, als ich die
Erläuterungen am Ende dieser Securitate-Akte las. Sie enthalten die
Kurzbiografien der von Adrian Ioniţă
erwähnten Parteikader. Und gleich beim ersten, Marin Iordache, las ich, dass er Propagandasekretär der Rumänischen
Kommunistischen Partei im Kreis Temesch war und wegen einem Sexualdelikt sowie
einem Plagiatvorwurf „zum Direktor der Brotfabrik rückversetzt wurde“. In
dieser Position lernte ich den guten Mann kennen.
Und das kam so. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau in der
Büroetage der Temeswarer Brotfabrik CILT und kümmerte sich nebenbei auch um den
Haushalt des damaligen Finanzdirektors, ein studierter orthodoxer Theologe mit
einer deutschen Frau, den es in die Wirtschaft verschlagen hatte. Zwischen den
Familien des Arbeitgebers und der Arbeitnehmerin entwickelte sich mit den
Jahren ein Vertrauensverhältnis, das in so manchem Sautanz im Hause Potche in der Jahrmarkter Neugasse
seinen geselligen Höhepunkt fand. Mein Vater schlachtete nämlich für Herrn Ardelean alljährlich in der Winterzeit
ein Schwein. Nach getaner Arbeit wurde natürlich entsprechend verkostet:
Konsistentes und Flüssiges. Einmal brachte Herr Ardelean zum Sautanz auch seinen Chef, den Direktor, mit. Und der
war kein Geringerer als Herr, Pardon, Genosse Iordache. Tja, ich erinnere mich an einen feuchtfröhlichen Abend
mit allem, was eine banatschwäbische Schlacht und der Keller des Hausherrn so
hergaben.
Es dauerte nicht lange, bis die Zungen der zwei Genossen
sich lösten und sie Witze – auch über die Eiche der Karpaten und ihr (sein) Hauptstadtgefolge
– machten. Irgendwann spielten wir das berüchtigte Trinkerspiel General Bem. Natürlich war ich den zwei
trinkfesten Genossen nicht gewachsen und der Abend endete für mich mit einem
Filmriss.
Im darauffolgenden Jahr waren meine Eltern gerade im Urlaub
in einem rumänischen Kurort, als Vaters Mutter ganz aufgeregt zu uns kam – ich
war schon verheiratet und wohnte nicht mehr im Elternhaus – und mir erzählte,
es wäre ein Telegramm aus Deutschland mit der Nachricht gekommen, dass ihr
Schwager gestorben sei. Natürlich wusste ich sofort, worauf Oma hinauswollte.
Es waren die 80er Jahre und die Deutschen in Rumänien hatte längst das
Auswanderungsfieber ergriffen. Fort, nur fort, jedes Mittel heiligte diesen
Zweck. Deutschlandbesuche ohne Rückkehr gehörten auch zu diesem Repertoire. Mir
war aber sofort klar, dass man mit so einem Telegramm wohl kaum einen
Besucherpass bekommen wird. Aber Oma wollte nach Deutschland, schließlich
lebten ihre Enkelin und besonders die zwei Urenkelinnen schon dort.
Ich konnte ihr natürlich die Bitte nicht abschlagen, mit dem
Telegramm als Beweismittel beim Passamt auf dem Sălăjan-Boulevard einen
Reisepass zu beantragen. Mir war aber bewusst, wie hoffnungslos das eigentlich
war. Da fiel mir jener Sautanz ein und eine eher beiläufige Bemerkung des
CILT-Direktors. Er hatte zu meinen Eltern sinngemäß gesagt, dass er auch seine
Bekanntschaften hätte, wenn es ums Auswandern geht. Zum Glück war in dieser
Sautanzphase der Faden bei mir noch nicht ganz gerissen, so dass ich jetzt einen
Strohhalm wahrnahm. Also machte ich mich am folgenden Tag nicht auf den Weg in
die berühmtberüchtigte Sălăjan sondern in die Brotfabrik zu Genosse Iordache. Und siehe da, nach einigem
Hin und Her und zwei Telefongesprächen der Pförtnerin mit irgendjemand wurde
ich vorgelassen.
Der zuvorkommende Genosse fragte mich sofort nach den
Folgeerscheinungen General Bems. Ich
hätte keine dauernden Schäden davongetragen, entgegnete ich wahrheitsgetreu,
was ihn zu belustigen schien und ihm einen gutgelaunten Übergang zu der Frage
nach dem Grund meines Besuches ermöglichte. Ich schilderte ihm die Situation
ohne Umschweife und wartete gespannt auf seine Reaktion. Genosse Iordache legte erst mal eine Kunstpause
ein, während der er nachzudenken schien. Natürlich wusste er sofort, dass Oma
von diesem Deutschlandbesuch nicht zurückkommen würde, kannte er doch unsere
Familienverhältnisse.
Zwei Telefone standen auf seinem Schreibtisch. Er griff nach
keinem, sondern nahm aus einer Schublade ein drittes und tat dann, was mich
schon damals verwunderte. Ohne mich zu bitten, draußen oder in seinem Vorzimmer
bei der Sekretärin zu warten, wählte er eine Nummer und begann sich mit Genosse
Cornel Vrăbeţ zu unterhalten. Der
Mann war damals Chef des Temescher Passamtes. Genosse Iordache erzählte ihm, er habe gegenüber einer „familie de șvab din
Giarmata“ einige Verpflichtungen und jetzt wolle die „baba“ nach Deutschland
zum Begräbnis ihres Schwagers fahren. Wäre das möglich? Das Gespräch ging noch eine
Weile hin und her, aber ohne dass ich ihm inhaltsmäßig folgen konnte, da ich ja
nur einen der Sprecher hörte. Der Direktor lud zum Schluss den Chef des
Passamtes ein, doch mal bei ihm im Büro vorbeizuschauen, er (Iordache) habe eine Flasche
amerikanischen Whisky im Kühlschrank und bei dem könne man sich ganz gut ein
Weilchen unterhalten. Dann legte er den Apparat zurück in die Schublade, sah
mich mit ernstem Blick an und empfahl mir, in der Sălăjan einen Antrag für
einen Besucherpass auf den Namen der Großmutter einzureichen.
Ich bedankte mich so unterwürfig ich nur konnte – an meine
Worte kann ich mich nicht mehr erinnern und nötig wäre diese Schleimerei auch
gar nicht gewesen, denn wir waren doch General-Bem-Spielpartner – und
verabschiedete mich. Dann suchte ich mir in einem Café einen stillen Platz und
formulierte einen Antrag für einen Touristenpass. (Papier, Kugelschreiber und
den Personalausweis der Oma hatte ich in weiser Voraussicht schon eingesteckt.)
Danach genehmigte ich mir noch einen „cafea de nud“ und begab mich ans kleine Fenster in dem nicht besonders
geräumige Besucherzimmer des Passamtes. Dahinter saß ein junger Leutnant. Er
ließ mich eine Weile warten, öffnete dann den Fensterflügel und fragte recht
freundlich nach meinem Anliegen. Ich schilderte ihm kurz die Situation und
reichte ihm meine „cerere“ durch das Fenster. Das würde nicht funktionieren,
meinte er, da es sich hier nicht um einen Todesfall eines Familienangehörigen
ersten Grades, also Ehegatte, Kind oder Elternteil, handle. Ich wolle es
trotzdem versuchen, sagte ich, nur um die Oma zu beruhigen und ihr das Gefühl
zu geben, dass ich alles unternommen hätte, um ihr eine Fahrt zu diesem
Begräbnis zu ermöglichen. Das schien den Leutnant in Uniform überzeugt zu
haben. Er reichte mir einen Antragsvordruck und bat mich, ihn auszufüllen. Das
tat ich sofort und reichte ihn ein. Mein handgeschriebenes Gesuch heftete er
auch daran und legte die Blätter auf einen Papierstapel auf seinem Tisch. Dann
sah er mich lächelnd an und sagte mir, die „bunica“ solle auf eine Antwort
warten.
Der junge Mann
hinter dem Schalterfenster des Passamtes war sich wahrscheinlich sicher, dass
dieser Antrag wie tausende andere abgelehnt würde, während ich neben der
Gewissheit, alles in meiner Macht stehende getan zu haben, doch ein kleines,
winzig kleines Fünkchen Hoffnung hatte. Es vergingen drei oder vier Tage, Omas
Schwager war in Deutschland mit Sicherheit längst beerdigt, da kam Ion, der Überbringer aller postalischen Aussiedlungsnachrichten, von dem Katharina
Kilzer sogar schon in der FAZ berichtete, und brachte die Genehmigung für
Omas Touristenpass.
Der Rest war Formsache. Entgegennahme des Passes am gleichen
Schalter, aber aus der Hand eines anderen Beamten, Reise nach Bukarest,
Visumbeschaffung bei den Botschaften Ungarns und Österreichs und ab ging Omas
Fahrt nach Deutschland zu einem Begräbnis, das schon mehr als eine Woche
zurücklag. Als meine Eltern aus dem Urlaub kamen, war die Oma schon in
Ingolstadt bei ihren Urenkelinnen.
Es sind mehr als 30 Jahre ins Land gegangen. Oma hat sich
längst ins Jenseits verabschiedet und meine General-Bem-Spielpartner hatten
nach dem Untergang des Kommunismus unterschiedliche Biografien. Iosif Ardelean hat uns in den 90er
Jahren mal in Ingolstadt besucht und ist mittlerweile auch verstorben, während
sein Chef Marin Iordache in von
staatlichen Institutionen finanziell geförderten Büchern heute noch von den guten alten
kommunistische Zeiten schwärmt. (Ja, auch das gibt es 10 Jahre nach
Rumäniens Beitritt zur EU.) Ob er in seinem 2013 erschienenen und mit 7000
Lei vom Kreisrat Timiş / Temesch geförderten Buch Epoca putea fi de aur - Es hätte eine Goldepoche sein können auch
von dem Sautanz in der Jahrmarkter Neugasse und seinem (damals) noch jungen
General-Bem-Partner erzählt, weiß ich nicht, da ich mir das Buch nicht besorgen
konnte. Vorstellen kann ich mir aber, dass es solche Geschichten aus der
Biografie des Marin Iordache waren,
die ihm bis heute einen realistischen Blick auf jene Zeit schier unmöglich
machen. Und da ist er beileibe nicht der einzige in Rumänien.
Kommunistisch durchgemogelt, kann man aus heutiger Sicht wohl
sagen, wenn man mein damaliges Verhalten aus der Zeitdistanz betrachtet. Ja, um
ganz ehrlich zu sein, ich bezweifle sogar, dass ich die „Hilfe“ des Genossen Iordache ausgeschlagen hätte, auch wenn
mir damals bekannt gewesen wäre, dass der Mann als Sexist und Plagiator sogar in
den Kreisen der Nomenklatura verschrien war. Es gab in jenen Jahren eben nur
eine Priorität: Aussiedlung um jeden Preis.
Anton Potche
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