Montag, 13. Februar 2017

Kommunistisch durchgemogelt

Also das war mir wirklich längst ausdenkisch geworden; nämlich, wie meine Oma nach Deutschland fuhr. Bis kürzlich, als ich die Oktober-Ausgabe der in Temeswar erscheinenden Literaturzeitschrift ORIZONT durchklickte. Da fand ich die ziemlich regelmäßig erscheinende Rubrik Scriitorii în subteranele securităţii - Die Schriftsteller in den unterirdischen Gewölben der Securitate (ein metaphorischer Titel), verfasst von Daniel Vighi und Viorel Marineasa. Ausgearbeitet haben sie auch die Securitate-Akte NR. 2896/1B/002 vom 01.02.1984. Es ging um den Fall Eterul, der von dem Informanten Tomăneanu akribisch beleuchtet wurde. So berichtete er von einem Treffen, das am 23. Januar 1984 in der Fliesenfabrik Extraceram stattfand. Beteiligt waren der Schriftsteller Daniel Vighi und Nicolae Stoia (ein Priester mit mehreren veröffentlichten Büchern) sowie der Bildhauer Adrian Ioniţă. Der Informant hat ganze Arbeit geleistet und das Gespräch der drei kritischen Geister Wort für Wort wiedergegeben. Das sieht aus wie ein Romanmanuskript. Die (damals) jungen rumänischen Intellektuellen stritten sich über den effektivsten Weg, der Ceaușescu-Diktatur die Stirn zu bieten. Konkret ging es um einen „aktiven Widerstand“ oder um eine Unterwanderung: „Leute wie wir müssen in die Partei eintreten, Ștefan Gheorghiu (Akademie für Parteikader, A.d.V.) machen, sich ins politische System einklinken, die Sachverhalte ändern und den Lauf der Politik beeinflussen“, argumentierte Adrian Ioniţă. Dieser Meinung widersprachen seine Diskussionspartner heftig. Für Daniel Vighi war diese Unterwanderungstheorie sogar lebensgefährlich: „Du wirst dich aufreiben. Wirst du für eine Sache eintreten können, an die du nicht glaubst? Und dann werden die Kanaillen dich durchschauen, dich benutzen und bei der ersten Gelegenheit umbringen.“ Der Bildhauer führte dann ein ganz anderes Argument ins Feld: „Gut, aber seht Ihr nicht, dass die Dinge sich ändern, zwischen Iordache und Potîngă, zwischen Potîngă und Florescu gibt es Differenzen.“

Schau her, dachte ich mir, es gab damals in den 80ern noch Leute, die hofften, dass sich innerhalb der Partei etwas ändern könnte. Mehr aber auch nicht. Interessant wurde es für mich erst dann, als ich die Erläuterungen am Ende dieser Securitate-Akte las. Sie enthalten die Kurzbiografien der von Adrian Ioniţă erwähnten Parteikader. Und gleich beim ersten, Marin Iordache, las ich, dass er Propagandasekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei im Kreis Temesch war und wegen einem Sexualdelikt sowie einem Plagiatvorwurf „zum Direktor der Brotfabrik rückversetzt wurde“. In dieser Position lernte ich den guten Mann kennen.

Und das kam so. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau in der Büroetage der Temeswarer Brotfabrik CILT und kümmerte sich nebenbei auch um den Haushalt des damaligen Finanzdirektors, ein studierter orthodoxer Theologe mit einer deutschen Frau, den es in die Wirtschaft verschlagen hatte. Zwischen den Familien des Arbeitgebers und der Arbeitnehmerin entwickelte sich mit den Jahren ein Vertrauensverhältnis, das in so manchem Sautanz im Hause Potche in der Jahrmarkter Neugasse seinen geselligen Höhepunkt fand. Mein Vater schlachtete nämlich für Herrn Ardelean alljährlich in der Winterzeit ein Schwein. Nach getaner Arbeit wurde natürlich entsprechend verkostet: Konsistentes und Flüssiges. Einmal brachte Herr Ardelean zum Sautanz auch seinen Chef, den Direktor, mit. Und der war kein Geringerer als Herr, Pardon, Genosse Iordache. Tja, ich erinnere mich an einen feuchtfröhlichen Abend mit allem, was eine banatschwäbische Schlacht und der Keller des Hausherrn so hergaben.

Es dauerte nicht lange, bis die Zungen der zwei Genossen sich lösten und sie Witze – auch über die Eiche der Karpaten und ihr (sein) Hauptstadtgefolge – machten. Irgendwann spielten wir das berüchtigte Trinkerspiel General Bem. Natürlich war ich den zwei trinkfesten Genossen nicht gewachsen und der Abend endete für mich mit einem Filmriss.

Im darauffolgenden Jahr waren meine Eltern gerade im Urlaub in einem rumänischen Kurort, als Vaters Mutter ganz aufgeregt zu uns kam – ich war schon verheiratet und wohnte nicht mehr im Elternhaus – und mir erzählte, es wäre ein Telegramm aus Deutschland mit der Nachricht gekommen, dass ihr Schwager gestorben sei. Natürlich wusste ich sofort, worauf Oma hinauswollte. Es waren die 80er Jahre und die Deutschen in Rumänien hatte längst das Auswanderungsfieber ergriffen. Fort, nur fort, jedes Mittel heiligte diesen Zweck. Deutschlandbesuche ohne Rückkehr gehörten auch zu diesem Repertoire. Mir war aber sofort klar, dass man mit so einem Telegramm wohl kaum einen Besucherpass bekommen wird. Aber Oma wollte nach Deutschland, schließlich lebten ihre Enkelin und besonders die zwei Urenkelinnen schon dort.

Ich konnte ihr natürlich die Bitte nicht abschlagen, mit dem Telegramm als Beweismittel beim Passamt auf dem Sălăjan-Boulevard einen Reisepass zu beantragen. Mir war aber bewusst, wie hoffnungslos das eigentlich war. Da fiel mir jener Sautanz ein und eine eher beiläufige Bemerkung des CILT-Direktors. Er hatte zu meinen Eltern sinngemäß gesagt, dass er auch seine Bekanntschaften hätte, wenn es ums Auswandern geht. Zum Glück war in dieser Sautanzphase der Faden bei mir noch nicht ganz gerissen, so dass ich jetzt einen Strohhalm wahrnahm. Also machte ich mich am folgenden Tag nicht auf den Weg in die berühmtberüchtigte Sălăjan sondern in die Brotfabrik zu Genosse Iordache. Und siehe da, nach einigem Hin und Her und zwei Telefongesprächen der Pförtnerin mit irgendjemand wurde ich vorgelassen.

Der zuvorkommende Genosse fragte mich sofort nach den Folgeerscheinungen General Bems. Ich hätte keine dauernden Schäden davongetragen, entgegnete ich wahrheitsgetreu, was ihn zu belustigen schien und ihm einen gutgelaunten Übergang zu der Frage nach dem Grund meines Besuches ermöglichte. Ich schilderte ihm die Situation ohne Umschweife und wartete gespannt auf seine Reaktion. Genosse Iordache legte erst mal eine Kunstpause ein, während der er nachzudenken schien. Natürlich wusste er sofort, dass Oma von diesem Deutschlandbesuch nicht zurückkommen würde, kannte er doch unsere Familienverhältnisse.

Zwei Telefone standen auf seinem Schreibtisch. Er griff nach keinem, sondern nahm aus einer Schublade ein drittes und tat dann, was mich schon damals verwunderte. Ohne mich zu bitten, draußen oder in seinem Vorzimmer bei der Sekretärin zu warten, wählte er eine Nummer und begann sich mit Genosse Cornel Vrăbeţ zu unterhalten. Der Mann war damals Chef des Temescher Passamtes. Genosse Iordache erzählte ihm, er habe gegenüber einer „familie de șvab din Giarmata“ einige Verpflichtungen und jetzt wolle die „baba“ nach Deutschland zum Begräbnis ihres Schwagers fahren. Wäre das möglich? Das Gespräch ging noch eine Weile hin und her, aber ohne dass ich ihm inhaltsmäßig folgen konnte, da ich ja nur einen der Sprecher hörte. Der Direktor lud zum Schluss den Chef des Passamtes ein, doch mal bei ihm im Büro vorbeizuschauen, er (Iordache) habe eine Flasche amerikanischen Whisky im Kühlschrank und bei dem könne man sich ganz gut ein Weilchen unterhalten. Dann legte er den Apparat zurück in die Schublade, sah mich mit ernstem Blick an und empfahl mir, in der Sălăjan einen Antrag für einen Besucherpass auf den Namen der Großmutter einzureichen.

Ich bedankte mich so unterwürfig ich nur konnte – an meine Worte kann ich mich nicht mehr erinnern und nötig wäre diese Schleimerei auch gar nicht gewesen, denn wir waren doch General-Bem-Spielpartner – und verabschiedete mich. Dann suchte ich mir in einem Café einen stillen Platz und formulierte einen Antrag für einen Touristenpass. (Papier, Kugelschreiber und den Personalausweis der Oma hatte ich in weiser Voraussicht schon eingesteckt.) Danach genehmigte ich mir noch einen „cafea de nud“ und begab mich ans kleine Fenster in dem nicht besonders geräumige Besucherzimmer des Passamtes. Dahinter saß ein junger Leutnant. Er ließ mich eine Weile warten, öffnete dann den Fensterflügel und fragte recht freundlich nach meinem Anliegen. Ich schilderte ihm kurz die Situation und reichte ihm meine „cerere“ durch das Fenster. Das würde nicht funktionieren, meinte er, da es sich hier nicht um einen Todesfall eines Familienangehörigen ersten Grades, also Ehegatte, Kind oder Elternteil, handle. Ich wolle es trotzdem versuchen, sagte ich, nur um die Oma zu beruhigen und ihr das Gefühl zu geben, dass ich alles unternommen hätte, um ihr eine Fahrt zu diesem Begräbnis zu ermöglichen. Das schien den Leutnant in Uniform überzeugt zu haben. Er reichte mir einen Antragsvordruck und bat mich, ihn auszufüllen. Das tat ich sofort und reichte ihn ein. Mein handgeschriebenes Gesuch heftete er auch daran und legte die Blätter auf einen Papierstapel auf seinem Tisch. Dann sah er mich lächelnd an und sagte mir, die „bunica“ solle auf eine Antwort warten.

Der junge Mann hinter dem Schalterfenster des Passamtes war sich wahrscheinlich sicher, dass dieser Antrag wie tausende andere abgelehnt würde, während ich neben der Gewissheit, alles in meiner Macht stehende getan zu haben, doch ein kleines, winzig kleines Fünkchen Hoffnung hatte. Es vergingen drei oder vier Tage, Omas Schwager war in Deutschland mit Sicherheit längst beerdigt, da kam Ion, der Überbringer aller postalischen Aussiedlungsnachrichten, von dem Katharina Kilzer sogar schon in der FAZ berichtete, und brachte die Genehmigung für Omas Touristenpass.

Der Rest war Formsache. Entgegennahme des Passes am gleichen Schalter, aber aus der Hand eines anderen Beamten, Reise nach Bukarest, Visumbeschaffung bei den Botschaften Ungarns und Österreichs und ab ging Omas Fahrt nach Deutschland zu einem Begräbnis, das schon mehr als eine Woche zurücklag. Als meine Eltern aus dem Urlaub kamen, war die Oma schon in Ingolstadt bei ihren Urenkelinnen.

Es sind mehr als 30 Jahre ins Land gegangen. Oma hat sich längst ins Jenseits verabschiedet und meine General-Bem-Spielpartner hatten nach dem Untergang des Kommunismus unterschiedliche Biografien. Iosif Ardelean hat uns in den 90er Jahren mal in Ingolstadt besucht und ist mittlerweile auch verstorben, während sein Chef Marin Iordache in von staatlichen Institutionen finanziell geförderten Büchern heute noch von den guten alten kommunistische Zeiten schwärmt. (Ja, auch das gibt es 10 Jahre nach Rumäniens Beitritt zur EU.) Ob er in seinem 2013 erschienenen und mit 7000 Lei vom Kreisrat Timiş / Temesch geförderten Buch Epoca putea fi de aur - Es hätte eine Goldepoche sein können auch von dem Sautanz in der Jahrmarkter Neugasse und seinem (damals) noch jungen General-Bem-Partner erzählt, weiß ich nicht, da ich mir das Buch nicht besorgen konnte. Vorstellen kann ich mir aber, dass es solche Geschichten aus der Biografie des Marin Iordache waren, die ihm bis heute einen realistischen Blick auf jene Zeit schier unmöglich machen. Und da ist er beileibe nicht der einzige in Rumänien.

Kommunistisch durchgemogelt, kann man aus heutiger Sicht wohl sagen, wenn man mein damaliges Verhalten aus der Zeitdistanz betrachtet. Ja, um ganz ehrlich zu sein, ich bezweifle sogar, dass ich die „Hilfe“ des Genossen Iordache ausgeschlagen hätte, auch wenn mir damals bekannt gewesen wäre, dass der Mann als Sexist und Plagiator sogar in den Kreisen der Nomenklatura verschrien war. Es gab in jenen Jahren eben nur eine Priorität: Aussiedlung um jeden Preis. 

Anton Potche

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