Lektoratskollektiv
Verlag Volk und Welt, Berlin: stark und zerbrechlich – Ein Lesebuch – 80
Autoren aus 30 Ländern; Verlag Volk und Welt, Berlin, 1985; Bestell-Nr. 6484885
(gebrauchte Exemplare sind noch bei AMAZON erhältlich)
Werke von „80 Autoren aus 30 Ländern“ wurden hier im
Ostberlin des Jahres 1985 zusammengetragen. Angesichts dieses Untertitels hätte
man wenigstens die Zahl der beim Zusammenstellen dieses DDR-Literaturgeschmack-Kanons
beteiligten Verlagsmitarbeiter anführen können. Dieses immerhin 759 Seiten
umfassende Buch hat aber weder Vor- noch Nachwort, nur einen Klappentext. Aus
dem erfährt der geneigte Leser dann, dass „jeder der hier vertretenen
Schriftsteller“ auch zum Verlagsprogramm gehört, „viele mit einem großen Teil
ihres Gesamtwerkes, andere mit Sammelbänden“, und dass „fast alle Beiträge nach
1945 entstanden sind und hier erstmals in der DDR veröffentlicht werden“. Es
bleibt halt alles ein bisschen im Ungefähren.
Foto: Anton Potche |
Aber damit verlässt es den Weg des Ungefähren, denn 2015
fand ich es zwischen Schallplatten, Postkarten, Glas, Geschirr, Porzellan und
anderen Büchern in der Bücher- und Trödelhalle in Prora auf Rügen. Preis: 1,--
Euro. Ein Schuppen. Aus der Zeit gefallen. DDR-Überbleibsel. Ostalgie. Faszination
pur. Die Literatur dazu? Die findet man in meinem Schnäppchen aus dem unter
einem Regal vergessenen und verstaubten Karton einer langsam, aber sicher dem Vergessen
anheimfallenden sozialistischen Literaturszene. (Die ausgestellten, leicht
einsehbaren Exemplare, waren in der Mehrheit Übersetzungen aus dem
Amerikanischen und Englischen.)
Man sollte (sogar als ehemaliger Ostblockbürger) auch ein
solches Buch nicht mit Vorurteilen aufschlagen. Ich tat es trotzdem und wurde
eines Besseren belehrt. Natürlich gibt es da viel dem sozialistischen
Materialismus Geschuldetes. Aber es gibt auch das literarisch Genießbare und die
nicht immer nur zwischen den Reihen versteckte Gesellschaftskritik.
Erich Frieds
(Österreich) Gedicht Eine Stunde ist
dafür das beste Beispiel. Oder Der
Waldpfad zur Quelle, ein beeindruckendes Naturgemälde von Malcolm Lowry (England). Dass Tschingis Aitmatow (Sowjetunion) ein
Erzähler von Weltformat war, sieht man auch hier in seiner Erzählung Die Klage des Zugvogels.
Von Ana Blandiana
(Rumänien) kann man Eine schematische
Wunde nachempfinden. Dieses traurige Märchen vom toten Delphin lässt viele
Interpretationen, ja sogar politische Gleichnisse vom ersten Satz an zu: „Eigentlich
habe ich in dem Moment, als ich das heftige Dröhnen der Schaluppe hörte,
gewusst, dass das mein Ende ist, musste der Delphin, von der Übermacht
verborgener Gewalten irgendwie eingeschüchtert, innerlich bekennen.“ Wenn man
akzeptiert, dass hier die Gefühle des Delphins klare Bezüge zu menschlichen
Ängsten aufweisen, dann können wir bei diesem Text von einer sehr gelungenen
Fabel – sowohl als Fabulierkunst als auch als literarische Gattung – sprechen.
Wäre ich als Rumäniendeutscher nicht befangen, würde ich behaupten, dass diese
„schematische Wunde“ eines der besten Prosastücke dieser Blumenlese ist.
Da kommt man bei Max
Frischs Fragebogen Nr. 1 auf ganz
andere Gedanken. Was der Schweizer mit diesem Fragebogen bezweckte, wusste zu
seinen Lebzeiten wohl nur er.
Zum Glück ist ein Charakteristikum jeder Anthologie die
Abwechslung. So darf man hier die sehr geglückte Parabel in Bildern Die letzte Blume (Zeichnungen) des James Thurber (USA) bewundern. Man
findet auch Texte, die betroffen machen. Sara
Lidmans (Schweden) Mahnung Diese
Kinder sind Kinder der Menschheit hat mich doch sehr an die Kinder von
Cighid erinnert.
Nicht weniger nachdenklich stimmt einen der Romanauszug Das jüngste Gericht von Blaga Dimitrowa (Bulgarien). Wenn der
Ich-Erzähler, ein bulgarischer Journalist, seinen rumänischen Kollegen
beneidet, weil der sich von zwei Besuchsmöglichkeiten für eine Zementfabrik und
nicht für einen Kindergarten entschieden hat, kann man sich leicht die vom
Bulgaren vorgefundene leidgetränkte Stimmung im Kindergarten vorstellen. Kein
Wunder: Wir sind in Vietnam.
Natürlich ist in diesem Buch auch viel politische Literatur
zusammengetragen, war jenseits des Eisernen Vorhangs doch irgendwie alles
Geschriebene politisch angefärbt, wenn auch nicht immer gleich erkennbar. Ganz
unzweideutig kommt allerdings die Reportage von Jean
Genet (Frankreich) daher. Das ist Ostblockpolitik. Mit klarem
Sympathiebekenntnis des Betrachters für eine Seite.
Schon im letzten Drittel des Buches angekommen, stößt man
dann auf Drei kleine Geschichten von
Büchern – ein Hohelied auf die Bibliophilie. Endlich mal wieder etwas, das
nichts mit sozialistischem Realismus zu tun hat. Gedankt sei Jaroslav Seifert aus der damals noch
existierenden Tschechoslowakei.
Und so wechseln sich die Themen, Genres und Formen bis zur
letzten Seite ab. Man trifft auch hier noch auf bekannte Namen wie etwa Nadine Gordimer, Friedrich Dürrenmatt, Albert
Camus oder William Faulkner, um
nur einige wertfrei zu nennen. Was man vergebens sucht, übrigens im ganzen
Buch, sind Arbeiten von Autoren aus der … DDR. Das finde ich sehr befremdlich.
Einen Grund für dieses Vorgehen des Verlags könnte man vielleicht aus einem
Klappentext-Satz herauslesen: „Unser Lesebuch soll eine Brücke schlagen
zwischen Schriftstellern aus aller Welt und ihren Lesern in der DDR.“ Also nur
Autoren von draußen und Leser von drinnen.
Sollte mein Weg mich eines Tages wieder nach Prora oder in
die Nachbarschaft führen, werde ich dem alten Schuppen in der Poststraße
bestimmt einen Besuch abstatten – sofern es ihn noch gibt. Nostalgie hat eben so
viel mit Zeitumarmung zu tun.
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