Der König verneigt sich und tötet. Das sind neun Essays von Herta Müller. Texte über Herta Müllers Konflikte mit der
Diktatur des banatschwäbischen Dorfes und jener des rumänischen Staates unter Ceauşescu. Mir wurde beim Lesen schnell
bewusst, dass ich viele dieser Sätzen schon mal gelesen hatte in anderen Büchern oder Zeitungen. Oder ich erinnerte mich ihrer in
abgewandelter Form aus Radio- und Fernsehinterviews der Schriftstellerin. Diese
sich immer und immer wiederholenden Themen, gespeist von einer Obsession,
können auch ermüden, was dich dem für dieses Buch ausgegebenen Geld nachtrauern
lässt. Mein Gefühl beim Lesen war zeitweise vergleichbar mit dem, das man beim
Anhören einer neuen CD empfindet, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass von,
sagen wir mal, 14 Stücken gerade mal vier oder fünf neue Kompositionen sind und
der Rest Altbekanntes ist. Hier war es noch schlimmer: Einige Textpassagen sind
inhaltlich absolut gleich – also Wiederholungen, nur anders orchestriert. Also
dasselbe Lied mehrmals auf einer CD, nur jeweils anders arrangiert.
Und doch verrauchte der anfangs beim Lesen aufgekommene
Frust recht bald. Ich wurde nämlich gewahr, dass das, was in diesen Essays
immer wieder sprachlich anders gewandet ist, auch Teil meiner eigenen Biografie
ist und sich hervorragend zum Vergleichen eignet. (Nur ist meine Biografie zum
Glück nicht so tragisch.) Also suchte
ich gezielt nach Stichworten, Satzteilen und Sätzen, ohne jedwede Systematik.
Rein aus dem Bauch heraus. Wo liegt das Wesentliche, wo verbergen sich die
Details und wo differieren sie. Das waren für mich plötzlich spannende Fragen.
„Ich wurde wie alle Kinder zu den Toten mitgenommen.“ (In jeder Sprache sitzen andere Augen).
Ich auch. Nur einmal, ich war acht Jahre alt, hatte ich Angst und wollte den
Toten nicht sehen. Man hatte ihn vorne in der Stube aufgebahrt. Meinen
Großvater. Auf dessen Holzfüßen ich das Mich-Emporziehen gelernt hatte.
„Es fuhren am Tag vier Züge durchs Tal, erst nach dem
vierten durfte ich mich auf den Heimweg machen.“ (idem). Das war für mich und meine Spielkameraden – mit Betonung auf
Spiel – der Fünfuhrzug. Welch ein Unterschied zu Herta Müllers Wiesenerlebnissen. Wir „durften“ nicht nach Hause,
sondern „mussten“ uns nach dem Fünfuhrzug „auf den Heimweg“ begeben.
„Ich habe in Berlin keinen Aprikosenbaum vermißt.“ (idem). Ich in Ingolstadt schon. Wir
hatten die meisten Aprikosenbäume im ganzen Dorf. Oma hat die Aprikosen auf dem
Heuplatz verkauft und Vater hat aus den überreifen oder vom Sturm
heruntergefallenen Schnaps gebrannt.
„Ich war 15 und kam in die Stadt, traf ganz andere Dinge und
lernte Rumänisch.“ (idem). Meine
Stadtschule lag in der gleichen Straße mit der Herta Müllers. Doch welch ein Unterschied: Ihre Klassenkolleginnen
und –kollegen waren Deutsche (zumindest überwiegend) und ihre
Unterrichtssprache war Deutsch, meine Kollegen und die drei Mädchen – in eine
hatte ich mich unglücklich verliebt, was sie natürlich nie erfahren hat – waren
Rumänen, Ungarn, Serben und sechs Deutsche. Unterrichtet wurde rumänisch und
Deutsch als Fremdsprache.
„Die Dorfleute spuckten mir nach meinem ersten Buch ins
Gesicht, wenn sie mich auf den Stadtstraßen trafen – ins Dorf traute ich mich
nicht mehr.“ (idem). Oh ja! Ich weiß
genau, was es heißt, wenn einem „die Tugendexperten der Dörfer“ im Genick
sitzen und vor allem, wenn sie aus der eigenen Familie und dem
Verwandtschaftskreis kommen. Das vergisst man nie.
„Erdmöbel“. (Der König
verneigt sich und tötet). So hieß angeblich ein Sarg in der DDR. An
verrückten Nomen fehlte es auch in der BRD nicht. Eines Tages kam ich in die
Firma und fand unter der Uhr im Brotzeitraum die Aufschrift: „Zeitmesser“. Ach,
dazu ist eine Uhr da? Zum Zeit messen? Da schau her!
„Hobelschatten.“ (idem).
Meine Fantasie reichte zum Perückenmachen nicht aus. Es müssen aber immer viele
übrig geblieben sein, denn ich erinnere mich, dass meine Oma oft schimpfte,
wenn Vater am Vortag die Späne nicht weggekehrt hatte. Es war halt wieder mal
Mitternacht beim Schneiden, Hobeln, Leimen und Furnieren der Bilderrahmen
geworden.
„Obduktion.“ (idem).
Der Spucksepp war bei Epches in den Brunnen gesprungen. Und
im Hof neben dem Brunnen hat man ihn obduziert. Andere schauten durch das
Gassentürchen in den Hof. Ich traute mich nicht.
„Dürftig rumänisch.“ (Wenn
wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich).
Mein Rumänisch ist es bis heute geblieben. Dürftig. Trotzdem liebe ich diese
Sprache. Sie wurde Teil von mir und soll es auch bleiben. Jede beherrschte
Sprache – wenn auch nicht perfekt – ist ein Leben. Und zwei Leben sind nun mal
mehr als ein Leben.
„Akkordeonkoffer.“ (idem).
Meiner hatte nichts mit Krieg wie der von Herta
Müllers Großmutter zu tun. Aber mit Auswanderung. Vater hatte das rote, 96-bässige
Hohner-Verdi II-Akk. von einer der ersten Aussiedlerfamilien im Dorf gekauft.
Die Leute waren schon in den 60er Jahren nach Deutschland gefahren. Ich habe
mit dem Instrument und einer Tanzkapelle die Banater Heide und Hecke bereist
und es verkauft, als meine Auswanderung bevorstand. Zwanzig Jahre später.
„Ich war mit 17 zum ersten Mal mit einer Schulklasse am
Schwarzen Meer.“ (idem). Ich mit 19.
Mit einer Kinder- und Jugendblaskapelle. Die mondhellen Nächte am Strand in
Costineşti – mit Mädchen aus Siebenbürgen – nehme ich mit in den Tod ... oder
die Demenz.
„Sitzungen in der Fabrik.“ (Einmal anfassen – zweimal loslassen) Ich war UTCist und PCRist und
habe in zwei kommunistischen Fabriken gearbeitet. Dazu nur so viel: Was ich an
Schwachsinn in Gruppengesprächen und sogenannten Workshops im kapitalistischen
Westen erlebt habe, steht den „Sitzungen in der Fabrik“ um nichts nach.
„Der Bahnhof zum Auswandern war nahe der ungarischen Grenze,
ein kleiner Grenzbahnhof.“ (Wenn etwas in
der Luft liegt, ist es meist nichts Gutes). Freilich kenne ich ihn. Nur
dass mir niemand beim Einsteigen gedroht hat. Wofür hatte ich denn meinen
Obolus gezahlt? Also, Genossen, ich bitte sehr!
„Der Bedrohte seinerseits beobachtet den Verfolger, um sich
vor ihm zu schützen.“ (Der Fremde Blick
oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne). Ich war – wie so oft zum
Unterschied zur Autorin – nicht der „Bedrohte“ sondern der Suchende. Es war bei
der damaligen Geheimniskrämerei gar nicht so leicht, sein Schmiergeld an den
Mann zu bringen. Dabei verwandelte ich mich vom Suchenden in den „Verfolger“ ...
einer fixen Idee, die vor mir herlief und in zwei Namen verkörpert war:
Blumenmann und Bogdan.
Ich könnte fortfahren. Satz für Satz durch die Augen Herta Müllers meine Vergangenheit
heraufbeschwören. Das geht, es geht wirklich, sogar ohne die gleichen
Erlebnisse. Und wieso? Herta Müller
weiß es: „Lange Zurückliegendes kann kürzere Vergangenheit als gestern
Geschehenes sein.“ (Einmal anfassen –
zweimal loslassen). Wie wahr!
Nein, dieses Geld war nicht hinausgeschmissen. Lausche ich
nicht auch immer wieder und wieder den Rauschende[n]
Birken – in allen möglichen Orchestrierungen, mal mit und mal ohne Text?
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