Montag, 17. Juli 2017

Rauschende Birken

Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet; Carl Hanser Verlag, München, Wien, 2003; ISBN 3-446-20353-2; 204 Seiten; 17,90 € (bei Hugendubel) & bei Amazon Angebote ab 0,95 € (Stand 17.07.2017)


Der König verneigt sich und tötet. Das sind neun Essays von Herta Müller. Texte über Herta Müllers Konflikte mit der Diktatur des banatschwäbischen Dorfes und jener des rumänischen Staates unter Ceauşescu. Mir wurde beim Lesen schnell bewusst, dass ich viele dieser Sätzen schon mal gelesen hatte in anderen Büchern oder Zeitungen. Oder ich erinnerte mich ihrer in abgewandelter Form aus Radio- und Fernsehinterviews der Schriftstellerin. Diese sich immer und immer wiederholenden Themen, gespeist von einer Obsession, können auch ermüden, was dich dem für dieses Buch ausgegebenen Geld nachtrauern lässt. Mein Gefühl beim Lesen war zeitweise vergleichbar mit dem, das man beim Anhören einer neuen CD empfindet, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass von, sagen wir mal, 14 Stücken gerade mal vier oder fünf neue Kompositionen sind und der Rest Altbekanntes ist. Hier war es noch schlimmer: Einige Textpassagen sind inhaltlich absolut gleich – also Wiederholungen, nur anders orchestriert. Also dasselbe Lied mehrmals auf einer CD, nur jeweils anders arrangiert.

Und doch verrauchte der anfangs beim Lesen aufgekommene Frust recht bald. Ich wurde nämlich gewahr, dass das, was in diesen Essays immer wieder sprachlich anders gewandet ist, auch Teil meiner eigenen Biografie ist und sich hervorragend zum Vergleichen eignet. (Nur ist meine Biografie zum Glück nicht so tragisch.) Also suchte ich gezielt nach Stichworten, Satzteilen und Sätzen, ohne jedwede Systematik. Rein aus dem Bauch heraus. Wo liegt das Wesentliche, wo verbergen sich die Details und wo differieren sie. Das waren für mich plötzlich spannende Fragen.

„Ich wurde wie alle Kinder zu den Toten mitgenommen.“ (In jeder Sprache sitzen andere Augen). Ich auch. Nur einmal, ich war acht Jahre alt, hatte ich Angst und wollte den Toten nicht sehen. Man hatte ihn vorne in der Stube aufgebahrt. Meinen Großvater. Auf dessen Holzfüßen ich das Mich-Emporziehen gelernt hatte.

„Es fuhren am Tag vier Züge durchs Tal, erst nach dem vierten durfte ich mich auf den Heimweg machen.“ (idem). Das war für mich und meine Spielkameraden – mit Betonung auf Spiel – der Fünfuhrzug. Welch ein Unterschied zu Herta Müllers Wiesenerlebnissen. Wir „durften“ nicht nach Hause, sondern „mussten“ uns nach dem Fünfuhrzug „auf den Heimweg“ begeben.

„Ich habe in Berlin keinen Aprikosenbaum vermißt.“ (idem). Ich in Ingolstadt schon. Wir hatten die meisten Aprikosenbäume im ganzen Dorf. Oma hat die Aprikosen auf dem Heuplatz verkauft und Vater hat aus den überreifen oder vom Sturm heruntergefallenen Schnaps gebrannt.

„Ich war 15 und kam in die Stadt, traf ganz andere Dinge und lernte Rumänisch.“ (idem). Meine Stadtschule lag in der gleichen Straße mit der Herta Müllers. Doch welch ein Unterschied: Ihre Klassenkolleginnen und –kollegen waren Deutsche (zumindest überwiegend) und ihre Unterrichtssprache war Deutsch, meine Kollegen und die drei Mädchen – in eine hatte ich mich unglücklich verliebt, was sie natürlich nie erfahren hat – waren Rumänen, Ungarn, Serben und sechs Deutsche. Unterrichtet wurde rumänisch und Deutsch als Fremdsprache.

„Die Dorfleute spuckten mir nach meinem ersten Buch ins Gesicht, wenn sie mich auf den Stadtstraßen trafen – ins Dorf traute ich mich nicht mehr.“ (idem). Oh ja! Ich weiß genau, was es heißt, wenn einem „die Tugendexperten der Dörfer“ im Genick sitzen und vor allem, wenn sie aus der eigenen Familie und dem Verwandtschaftskreis kommen. Das vergisst man nie.

„Erdmöbel“. (Der König verneigt sich und tötet). So hieß angeblich ein Sarg in der DDR. An verrückten Nomen fehlte es auch in der BRD nicht. Eines Tages kam ich in die Firma und fand unter der Uhr im Brotzeitraum die Aufschrift: „Zeitmesser“. Ach, dazu ist eine Uhr da? Zum Zeit messen? Da schau her!

„Hobelschatten.“ (idem). Meine Fantasie reichte zum Perückenmachen nicht aus. Es müssen aber immer viele übrig geblieben sein, denn ich erinnere mich, dass meine Oma oft schimpfte, wenn Vater am Vortag die Späne nicht weggekehrt hatte. Es war halt wieder mal Mitternacht beim Schneiden, Hobeln, Leimen und Furnieren der Bilderrahmen geworden.

„Obduktion.“ (idem). Der Spucksepp war bei Epches in den Brunnen gesprungen. Und im Hof neben dem Brunnen hat man ihn obduziert. Andere schauten durch das Gassentürchen in den Hof. Ich traute mich nicht.

„Dürftig rumänisch.“ (Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich). Mein Rumänisch ist es bis heute geblieben. Dürftig. Trotzdem liebe ich diese Sprache. Sie wurde Teil von mir und soll es auch bleiben. Jede beherrschte Sprache – wenn auch nicht perfekt – ist ein Leben. Und zwei Leben sind nun mal mehr als ein Leben.

„Akkordeonkoffer.“ (idem). Meiner hatte nichts mit Krieg wie der von Herta Müllers Großmutter zu tun. Aber mit Auswanderung. Vater hatte das rote, 96-bässige Hohner-Verdi II-Akk. von einer der ersten Aussiedlerfamilien im Dorf gekauft. Die Leute waren schon in den 60er Jahren nach Deutschland gefahren. Ich habe mit dem Instrument und einer Tanzkapelle die Banater Heide und Hecke bereist und es verkauft, als meine Auswanderung bevorstand. Zwanzig Jahre später.

„Ich war mit 17 zum ersten Mal mit einer Schulklasse am Schwarzen Meer.“ (idem). Ich mit 19. Mit einer Kinder- und Jugendblaskapelle. Die mondhellen Nächte am Strand in Costineşti – mit Mädchen aus Siebenbürgen – nehme ich mit in den Tod ... oder die Demenz.

„Sitzungen in der Fabrik.“ (Einmal anfassen – zweimal loslassen) Ich war UTCist und PCRist und habe in zwei kommunistischen Fabriken gearbeitet. Dazu nur so viel: Was ich an Schwachsinn in Gruppengesprächen und sogenannten Workshops im kapitalistischen Westen erlebt habe, steht den „Sitzungen in der Fabrik“ um nichts nach.

„Der Bahnhof zum Auswandern war nahe der ungarischen Grenze, ein kleiner Grenzbahnhof.“ (Wenn etwas in der Luft liegt, ist es meist nichts Gutes). Freilich kenne ich ihn. Nur dass mir niemand beim Einsteigen gedroht hat. Wofür hatte ich denn meinen Obolus gezahlt? Also, Genossen, ich bitte sehr!

„Der Bedrohte seinerseits beobachtet den Verfolger, um sich vor ihm zu schützen.“ (Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne). Ich war – wie so oft zum Unterschied zur Autorin – nicht der „Bedrohte“ sondern der Suchende. Es war bei der damaligen Geheimniskrämerei gar nicht so leicht, sein Schmiergeld an den Mann zu bringen. Dabei verwandelte ich mich vom Suchenden in den „Verfolger“ ... einer fixen Idee, die vor mir herlief und in zwei Namen verkörpert war: Blumenmann und Bogdan.

Ich könnte fortfahren. Satz für Satz durch die Augen Herta Müllers meine Vergangenheit heraufbeschwören. Das geht, es geht wirklich, sogar ohne die gleichen Erlebnisse. Und wieso? Herta Müller weiß es: „Lange Zurückliegendes kann kürzere Vergangenheit als gestern Geschehenes sein.“ (Einmal anfassen – zweimal loslassen). Wie wahr!

Nein, dieses Geld war nicht hinausgeschmissen. Lausche ich nicht auch immer wieder und wieder den Rauschende[n] Birken – in allen möglichen Orchestrierungen, mal mit und mal ohne Text?
 Anton Potche

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