Montag, 14. Januar 2019

Wachgesungene Erinnerungen

Es war kurz vor Weihnachten und wir, meine Frau und ich, hatten die Wahl: ein Weihnachtskonzert der Audi Bläserphilharmonie in der Ingolstädter Pius Kirche oder eine Aufführung im Stadttheater Ingolstadt. Mein Herz plädierte eindeutig für das Konzert in der Kirche, aber meine Neugierde behielt letztendlich die Oberhand. Und wir entschieden uns für die Musik im Theater. Denn um Musik ging es auch hier. Nur nicht um konzertante Weihnachtsmusik sondern um einen Gesellschaftsumbruch einleitende Unterhaltungsmusik. Und ein Adventssingen hatten wir schon besucht, also fiel unsere Entscheidung umso leichter. Zumal es sich in der Inszenierung im Kleinen Haus des Ingolstädter Theaters auch noch um eine Zeit handelte, die wir zwei nur vom Hören, von Bildern und Dokumentarfilmsequenzen kannten.

Umso erstaunter war ich dann, als ich feststellen musste, dass seit der Uraufführung von Achtundsechzig – Eine musikalische Gemengenlage, staunend belauscht von Tobias Hofmann am 6. Dezember 2018 schnell fünf Aufführungen (der Saal hat nur etwas über 100 Sitzplätze) ausverkauft waren. Das muss wohl so etwas wie ein Bunter Abend sein, wie wir ihn vom Deutschen Staatstheater Temeswar kannten. Auch das waren in den 1970er und 1980er stets gut besuchte Aufführungen. Als es dann der Rechtfertigungen zur Genüge reichte, um so einem Bunten Abend am Ingolstädter Haus beizuwohnen, waren wie erwähnt alle Karten weg. Doch dann tauchte auf der Homepage des Theaters unerwartet eine Zusatzvorstellung am 20. Dezember auf und ich bestellte sofort zwei Karten. (Der Ingolstädter Intendant Knut Weber sagte kürzlich in einem Zeitungsinterview: „Mehr können wir nicht spielen.“)

Das muss ich jetzt wohl nicht mehr erwähnen: Der Abend war natürlich ausverkauft. Und das erweckte meine ersten Erinnerungen an meine Zeit im Banat schon beim Betreten des Kleinen Hauses. Schlangestehen. Die Eintrittskarten enthielten den Hinweis auf freie Platzwahl. Wer zuerst kommt … Sie wissen schon. Obwohl wir uns zeitig auf den Weg gemacht hatten, waren bereits ca. 50 Besucher vor uns. Also standen wir ungefähr 20 Minuten in der Theaterbesucherschlange, bis dann die Tür zum Einlass geöffnet wurde. Aber alles gut. Wir fanden einen guten Platz. Schon in der Schlange dachte ich mir, was wollen diese Leute alle hier? Die wissen doch, wie es damals war. Darauf deutete das geschätzte Alter der großen Mehrheit hin. Wir aber, meine Angetraute und ich, lebten 1968 in unserem beschaulichen Jahrmarkt: meine Frau noch als kleines, zartes Schulmädchen in Uniform und ich als Pubertierender auf dem Sprung in die große, fremde Kreishauptstadt Temeswar.

Dann ging es los. Schon das Bühnenbild deutete den Umbruch an. Rechts aus Sicht der Zuschauer: Tisch, drei Stühle, Harmonium, Vater, Mutter, Sohn mit Scheitel und anständigem Anzug, wenn auch farblich von dem des Vaters heller und kariert gehalten. Sie saßen vor dem menschengroßen in der Einbaumöbel integrierten Fernseher. Grau mit quadratischem Bildschirm. Darin parodierte musikalische Volkstümelei – wie schön diese Wirtschaftswunderzeit. Der Vater mit der Flasche, der Sohn teilnahmslos, die Mutter mit dem Tischdecken und –abräumen beschäftigt. Gut in Szene gesetztes Spießertum. Diese handlungsarme Szene bekam erst mal ihre Entfaltungszeit.

Danach begann sich Leben hinter dem langsam zur Seite gleitenden Vorhang zu rühren. Und wie. Einer der zwei singenden Chronisten hatte auf eine der links stehenden Schultafel mit weißer Kreide Rock ’n Roll geschrieben. Auf einer improvisierten Bühne - man sah noch die Räder des Anhängers – rockten zwei Gittaristen, ein Kayboarder und ein Schlagzeuger. Und die Gammler tanzten dazu. Lange Haare, Aufmüpfigkeit ausstrahlend und immer frecher, sich bis zur Kommunennacktheit im Rausch des Rock ’n Roll, der dann irgendwann in reinen Rock mündete, steigernd. Musik, die ohne Drogen nur schwer auskommt. Bilder, die nach Vergleichen lechzten. Also ganz hinter dem Mond lebten wir doch nicht. Wir ließen uns doch damals im Banat auch die Haare etwas länger wachsen – Malagambafrisuren nannten wir das, dachte ich, aber meine Frau widersprach, Malagamba nannte man die glattgestriegelten Scheitelfrisuren in den ’50gern, behauptet sie - und die Mädchen trugen Minijup (aus dem rumänischen „minijupă“). Und sammelten Nick und Martin in der Hinteren Reihe nicht schon damals LPs mit englischer Musik und kannten sich aus in den ausländischen Hitlisten? 

So ging das 90 Minuten lang vorwärts in eine neue Zeit. Bis sogar der am Anfang so missmutige Spießersohn mitmachte. Es gab öfter Szenenapplaus - nicht verwunderlich bei hervorragenden schauspielerischen und musikalischen Leistungen. Die Darsteller agierten auf hohem stimmlichem Niveau. Ausgedacht hat sich dieses kurzweilige Singspiel Tobias Hofmann. Er zeichnet auch für die Regie und die musikalische Leitung  und spielt selbst am Schlagzeug. Als Darsteller werden im Programmheft Andrea Frohn, Renate Knollmann, Jan Gebauer, Ralf Lichtenberg, Peter Reisser und Richard Putzinger genannt. Sekundiert wird Tobias Hofmann von Dieter Holesch (Gitarre), Ludwig Leininger (Bass) und Josef Reißle (Keyboard).

Das Bühnenbild und die Kostümation (Katrin Busching) hätten für ein Foto zu einer Besprechung dieser Aufführung schon einiges hergegeben. Aber leider ist es auch hier wie immer öfter in unserem Alltag: „Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. Zuwiderhandlungen sind nach dem Urheberrechtsgesetz strafbar!“ (Programmblatt). Was sagte doch Theaterregisseur Claus Peymann über die in allen Lebensbereichen grassierende Einschränkungs- und Zwangsauflagenwelle: „Alles wird verboten in diesem neuen, modernen Biedermeier.“ Da lob ich mir doch die Achtundsechziger!
Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen